Gibt es Schutzengel?
Ich glaube eigentlich nicht daran, aber warum habe ich mir diesen seichten alten Film bis zum Ende angesehen? Erinnert mich dieser Film doch an einen Tag, den ich nie vergessen werde.
Wir wohnten ab 1980 fast 25 Jahre in einem älteren Endreihenhaus in Norderstedt, das meinem Elternhaus in der Kopftuchsiedlung
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von Margot Bintig sehr ähnlich war, jedoch war der Grundriss etwas größer. Den größeren Teil des Erdgeschosses nahm das Wohnzimmer gleich rechts neben dem Eingang ein, mit einem mehr als fünf Meter breiten Fenster und einer großen Tür zur Terrasse auf der gegenüberliegenden Seite. An beiden Fensterfronten hatten wir an der Decke Gardinenleisten von Wand zu Wand, an denen Stores und Übervorhänge zum Zuziehen hinter einer Schabracke hingen. Im restlichen Teil befanden sich Küche, Flur, Treppenhaus nach oben und zum Keller und die Gästetoilette.
Die Küche war, wie damals üblich, rechteckig und lang wie ein Schlauch. Gegenüber der Eingangstür befand sich an der Stirnseite das Fenster, rechts die Spüle, der Herd und die Arbeitsplatte mit einer Durchreiche zum Esstisch im Wohnzimmer, links die Einbaumöbel mit Unterschränken und Hängeschränken sowie der Kühlschrank. Dazwischen war nur ein schmaler Gang in der Breite des Küchenfensters. Es war kein Platz zum Sitzen oder für einen Küchentisch. Die Kücheneinrichtung hatten wir vom Vorbesitzer übernommen.
An einem schönen Sonntag im Herbst vor der Jahrtausendwende saßen wir mittags auf der Terrasse, doch dann wurde es kühl und ich ging ins Wohnzimmer und mein Mann arbeitete noch etwas im Garten. Ich fand es noch etwas zu früh, um das Abendessen zu bereiten, deshalb schaltete ich den Fernseher an, doch hier gab es nach meiner Meinung nur Müll
. Aber dann blieb ich an einer alten, rührseligen Filmklamotte in Schwarzweiß hängen, die eigentlich nicht nach meinem Geschmack war. Langsam wurde es Zeit, mich um das Essen zu kümmern, denn wir hatten am Abend noch etwas vor. Doch ich wollte jetzt unbedingt noch das absehbare Ende des Films sehen und ließ die Zeit verstreichen, obwohl es die Tagesplanung veränderte.
Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Krach wie bei einer Explosion, das ganze Haus bebte. Ich sprang auf und mein Mann kam ins Haus gestürmt und dann sahen wir die Bescherung: Der große Küchenoberschrank war heruntergestürzt und lag auf dem schmalen Gang in der Küche. Genau auf der Stelle, an der ich jetzt eigentlich gestanden hätte, um das Abendessen zuzubereiten, wenn ich nicht den Film zu Ende angesehen hätte. Ich hatte tatsächlich, wie man im Volksmund sagt, einen Schutzengel.
In diesem Schrank war unser sämtliches Geschirr untergebracht, und da kam im Laufe der Jahre einiges zusammen. Der Hängeschrank war nicht aus der Verankerung gerissen, denn die Dübel steckten, umgeben von etwas Sperrholz, noch fest in der Wand. Ich weiß nicht, wie lange der Schrank schon an der Wand hing, wahrscheinlich weit über 20 Jahre. Er erfüllte damals sicherlich nicht die heutige DIN-Norm für Hängeschränke, denn er bestand nicht aus mehreren Teilen, sondern war zweieinhalb Meter lang und an einem Stück! Der kleinere Vorratsschrank hing noch an der Wand.
Man konnte unsere Küche nicht mehr betreten, denn es lagen Holzteile, zerbrochenes Geschirr und Porzellansplitter auf der Erde. Alles war kaputt, selbst der Herd und die Spüle auf der Gegenseite waren beschädigt.
Wir waren fix und fertig und setzten uns in das Wohnzimmer und blickten zum Fenster hinaus. Dabei überlegten wir, was wir tun sollten und kamen zu dem Schluss, dass wir bis zum nächsten Tag, dem Montag, alles liegen lassen, als Beweis für den Versicherungsvertreter. Die Versicherung hat übrigens nichts bezahlt, ich konnte aber froh sein, dass ich noch lebe, denn der Schrank samt Inhalt hätte mich erschlagen können. Wir beschlossen, diesen Umstand zu feiern und jetzt besonders schön essen zu gehen. Gerade wollten wir uns erheben, da geschah das nächste Unfassbare:
Wie aus dem Nichts fiel die lange Gardinenleiste mitsamt der Vorhänge mit einem Schlag auf den Boden. Ich sah es wie in Zeitlupe. Unmöglich zu sagen, wie lange wir regungslos und sprachlos sitzen blieben und auf den großen Stoffberg vor uns auf dem Boden starrten, so entsetzt waren wir beide. War es Spuk? Gibt es übernatürliche Kräfte? Unsinn!
Doch zur Sicherheit haben wir, als wir wieder klar denken konnten, alle unsere Lieben angerufen, um zu hören, ob bei ihnen alles in Ordnung ist. Es gab keine schlimmen Ereignisse, doch alle waren sehr erstaunt über unseren unerwarteten Anruf, aber wir haben den wahren Grund erst viel später erzählt.
Nein, es gibt nichts Übersinnliches und auch keine Schutzengel. Dass der Oberschrank in der Küche heruntergefallen ist, war wohl einer Materialermüdung zuzuschreiben, dabei hatte es die Erschütterung gegeben, welche das ganze Haus erbeben ließ. Dadurch haben sich wohl die Dübel der Gardinenleiste gelöst, wodurch sie einige Zeit später herunterfiel.
Doch was brachte mich dazu, dass ich unbedingt diesen banalen Film zu Ende sehen wollte, statt wie geplant in der Küche zu sein, als der Unfall geschah?