Osterfahrt zum Katharinenkloster
Ab 1961 besuchte ich die Deutsche Auslandsschule in Kairo und wohnte dort im Schülerheim der Schule, das die Kinder der Eltern aufnahm, die in den umliegenden Ländern lebten und arbeiteten.
In den Osterferien 1962, ich war gerade 17 geworden, flog ich nicht wie üblich nach Hause zu meinen Eltern in Jerusalem. Erstens dauerten die Ferien nur fünf Tage und zweitens plante das Schülerheim zusammen mit einigen Lehrern und Gästen eine Fahrt zum Katharinenkloster auf dem Sinai. Bekanntlich entdeckte Konstantin von Tischendorf dort im Jahre 1844 den Codex Sinaiticus aus dem 4. Jahrhundert, die zweitälteste Bibelhandschrift der Welt. Wir hatten ihn im Sommer 1960 im British Museum in London gesehen.
Am Gründonnerstag, 19. April, holten uns die vier bestellten Taxen aus Suez in Kairo ab. Es handelte sich um richtige Wüstenschiffe
, Chevrolets und Fords und Plymouth's, etwa zehn Jahre alt, die wirklich das Prädikat Limousine
verdienten. (Foto 1) In dem Wagen, in dem ich mitfuhr, saßen noch die beiden Heimschüler Erik aus Khartum und Helmut aus Amman nebst Eltern.
Von Kairo nach Suez schafften wir die 127 km in zwei Stunden. Wir kamen sofort mit der Fähre über den Kanal, da gerade kein Dampfer-Konvoy unterwegs war. Die Asphaltstraße von Suez nach Abu Zenima führt meist in Sichtweite des Golfs von Suez (Nordwestzipfel des Roten Meeres) nach Süden. Auf dem Wege begleiteten uns zwei kleine und eine große Pipeline. Die kleinen hatten einen Durchmesser von etwa 10 cm, die große war etwa 25 cm dick.
Die Straße war stellenweise durch Dünen zugeweht: Der erste der vier Wagen schwamm durch eine nur mit Schwung hindurch. Der zweite konnte nichts mehr sehen, weil der erste den Dünensand aufgewirbelt hatte, bremste und blieb stecken. Wir, im dritten Wagen, fuhren 100 Meter in die Wüste und umkreisten so die Düne, der vierte uns nach. Dann haben wir den zweiten rausgewuchtet. Das war bei den schweren Limousinen kein Pappenstiel, aber es waren ja zehn Jungs dabei.
Die erste Nacht verbrachten wir in Abu Zenima bei einer Polizeistation direkt am Meer. Es wehte ein starker Wind. Ein Zelt wurde umgeweht, aber unser Heimleiter Herr Oesterreich, Erik und ich standen auf und machten alle Zelte wieder standfest.
Am zweiten Tag (Freitag) verließen wir bald darauf die Küstenstraße am Roten Meer und setzten unseren Weg zur Oase Feiran auf einer unbefestigten Piste fort, die nach Osten in den Sinai hinein führt. Die Piste verläuft in WadisWadi bezeichnet einen ausgetrockneten Flusslauf in einem Trockental in den Wüstengebieten Nordafrikas Quelle: Wikipedia.de durch schroffe Sandsteinformationen, die sich mit noch schrofferen Basaltformationen abwechseln. Oft ist die Piste durch Sanddünen verweht, aber wir konnten uns gut am Verlauf des Wadis orientieren. Einmal kam unser Wagen mitten in einer Düne zum Stehen. Der Fahrer fuhr nämlich im dritten Gang und hatte den Motor abgewürgt. Der vierte Wagen musste an uns vorbei, geriet aber in einen Bereich, in dem der Sand noch tiefer war, und blieb ebenfalls stecken. Natürlich zogen wir ihn mit vereinten Kräften wieder raus, denn es war unser Proviantwagen!
Die Oase Feiran ist voller Palmen und Grün und erstreckt sich über mehrere Kilometer im Verlauf eines Wadis. Dort machten wir eine Pause. Das taten wir gern, denn unser Proviant war besser als das Essen im Schülerheim. Später sahen wir auf dem Weg noch ein totes und ein halbes verdorrtes Dromedar liegen. (Foto 2)
Die Sonne hatte bereits ihren Zenit überschritten und die Berge um uns herum wurden immer höher und schroffer. Endlich sahen wir den Mosesberg (2285 m), und südlich dahinter türmte sich der Katharinenberg (2635 m) als schwarzes Basaltmassiv. Am Fuße des Mosesberges lag unser Ziel, das Katharinenkloster, das auf 1585 m liegt. Es sieht nicht nur aus wie eine Festung. Die geschätzt 15 bis 20 m hohen Mauern und ein Schutzbrief des Propheten Mohammed haben es seit seiner Gründung um 550 durch alle Jahrhunderte vor Plünderungen und Zerstörungen geschützt. Nur über einen hoch an der Mauer gebauten Erker ohne Boden, durch den mit einer riesigen Seilwinde ein Korb hinaufgezogen wurde, konnte man ins Kloster gelangen. Tischendorf ist noch auf diese Weise ins Kloster gekommen. 1962 ging das leider nicht mehr, wir kamen über eine Rampe ins Kloster. Schade, wir wären gern mit dem Korb hochgezogen worden. Aber wenigstens war die Seilwinde (Foto 3) noch vorhanden.
Die Klostermauern umschließen ein Areal von ca. 80x80 m. Das Kloster machte auf uns einen historisch verbauten Eindruck. Innerhalb der Mauern befinden sich eine Kirche und eine Moschee, letztere war wohl eine friedenserhaltende Maßnahme. Beim Bau der Moschee hat man darauf geachtet, dass das Kreuz der Basilika höher ist als der Halbmond des Minaretts. Das erinnert mich an ein Erlebnis aus Nazareth in diesem Frühjahr. Dort verteilten muslimische Bartträger Flugblätter und protestierten dagegen, dass man ihnen verboten hatte, den geplanten Neubau einer Moschee in der Nähe der Verkündigungsbasilika höher als die Basilika zu bauen. — Aber zurück zum Kloster: Zu den Mönchsklausen hatten wir keinen Zugang. Unsere spartanischen Gästeklausen lagen an der Ostmauer. Das Kloster beherbergt einen riesigen Schatz von über 2000 IkonenIkonen sind Kult- und Heiligenbilder der Ostkirchen, besonders der orthodoxen Kirchen des byzantinischen Ritus. Quelle: Wikipedia.de und natürlich die berühmte Bibliothek mit 6000 alten HandschriftenUnter Manuskript oder Handschrift versteht man in der Bibliothekswissenschaft oder Editionsphilologie handgeschriebene Bücher, Briefe oder andere Publikationsformen Quelle: Wikipedia.de. Dort wurde uns auch eine Fotokopie des Codex Sinaiticus gezeigt. Über die Modalitäten, wie dieser Codex nach Kairo und dann nach Moskau kam, gibt es von Tischendorf und vom Kloster unterschiedliche Versionen. Die Mönche fordern bis heute die Rückgabe der Handschrift.
Am Nachmittag unseres Ankunftstages kletterten wir auf den Berg gegenüber dem Kloster, also in nördlicher Richtung. Es ist kompliziert, da rauf zu klettern, denn der Sandstein ist rutschig und mit Geröll übersät. Aber es machte mir Spaß. Und außerdem hatten wir von dort aus einen prächtigen Blick auf die Klosteranlage. (Foto 4)
Als wir dann wieder unten waren, sprang ich im Kloster eine Steintreppe herunter und übersah die letzte Stufe. Ich landete genau auf der Kante der Stufe, knickte weg und verstauchte mir den linken Fuß, der schnell anschwoll.
Am Samstag bestiegen die anderen den Mosesberg — ohne mich, denn mein Fuß brauchte noch Schonung. Einige sind versehentlich auf einen falschen Berg gestiegen und wunderten sich, warum der Weg nur eine halbe Stunde dauerte, denn im Schröder
(Reiseführer) stand, dass man etwa zweieinhalb Stunden brauchte. Sie kamen bald zurück und leisteten mir Gesellschaft. Ich hatte es mir inzwischen auf dem Dach des Besucherhauses gemütlich gemacht und mich gesonnt.
Am Ostersonntag gab es dann in der griechisch-orthodoxen Kirche des Klosters einen Gottesdienst. Da wir die einzigen Gäste waren – heute wird das Kloster von etwa 50.000 Touristen jährlich besucht – konnten wir uns der langen eintönigen Liturgie nicht entziehen. Anschließend bewunderten wir noch alte Gewölbe. Hier hatten sich die Kreuzfahrer mit ihren Kreuz-Graffitis in deren Mauern verewigt, wie es sie auch massenhaft in der Jerusalemer Grabeskirche gibt. Dann besuchten wir noch außerhalb der Klostermauern das Beinhaus, in dem die Schädel der verstorbenen Mönche aufbewahrt wurden, und den Garten. Am Nachmittag fuhren wir wieder ab.
Wir kamen noch bis Abu Zenima und schlugen dort wieder unsere Zelte auf. Die mitreisenden Familien und die Mädchen bekamen die Fünf-Personen-Zelte, Wir restlichen zehn Jungs buddelten uns Kuhlen in den Wüstensand und legten uns mit unseren Decken hinein. Wir schliefen gut in diesen Massengräbern
. (Foto 5) Als wir am anderen Tag am Suezkanal ankamen, hatte die Fähre grade ihren Betrieb eingestellt. Es dauerte etwa fünf Stunden, bis der Konvoy von zwölf Schiffen diese Stelle passiert hatte. Wir nutzten die Zeit zum Baden im Kanal. (Foto 6) So wurde es später Nachmittag, als wir Kairo erreichten.
Begleitende Erläuterung:
Im Katharinenkloster hing damals unter Glas eine Tafel an der Wand, auf der die Mönche behaupteten, der Codex SinaiticusDer Codex Sinaiticus ist ein Bibel-Manuskript aus dem 4. Jahrhundert.Quelle: Wikipedia.de sei ihnen von Tischendorf gestohlen worden. Nach Tischendorfs Schwiegersohn Ludwig Schneller (Tischendorf-Erinnerungen
S. 78 - 94) verhält es sich aber anders:
Der Jerusalemer Patriarch, der nach den Klostersatzungen allein die Weihe des neuen Erzbischofs des Klosters vollziehen durfte, beanstandete die Gültigkeit der Wahl. Aber die Mönche hatten die Schenkung des Codex an den russischen Zaren abhängig gemacht von der Bestätigung und Weihe dieses Erzbischofs. Tischendorfs Bemühungen in dieser Angelegenheit bei der russischen und türkischen Regierung verliefen zunächst ergebnislos. Als Zwischenlösung wurde schließlich der Codex Tischendorf als Leihgabe mitgegeben. 1865 wurde die beabsichtigte Schenkung des Codex an den Zaren durch eine Abordnung vom Sinai vollzogen. Ein Stück des Erstdruckes des vierbändigen Prachtwerkes (Auflage: 300) wurde dem Kloster am Sinai mit einem goldenen Gegengeschenk des Kaisers überreicht.
Der Blick von Foto 4 heute (GNU-Lizenz), ggf. für den damals-heute-Vergleich: wikimedia.org/…/Katharinenkloster.jpgQuelle: Wikimedia Commons