Eine Hundegeschichte
Anfang der 60er Jahre nahm ich nach meiner Lehre in einem Anwaltsbüro im Frankfurter Westend-Viertel meine Arbeit auf. Ein lustiges Büro war das, mit drei Anwälten unterschiedlicher Couleur. Unser Ober-Boss, Herr Dr. H. war in Frankfurt/Main ein angesehener und gefürchteter Strafverteidiger.
Zu unserer Mandantschaft gehörte unter anderem auch die bekannte Sängerin Rosita Serrano, die in ihrer zweiten Lebenshälfte nichts ohne den Rat unseres Doktors
unternahm.
Eine Geschichte, die ich damals miterlebte, sorgte noch Jahre danach für Schmunzeln.
Rosita Serrano war zu der Zeit noch gut im Geschäft und deshalb viel unterwegs, aber wenn sie in Frankfurt war, stand immer ein Besuch bei unserem Doktor
auf dem Plan. Sie besaß ein niedliches Schoßhündchen, das immer und überall dabei war.
Bei ihren vorher natürlich groß angekündigten Besuchen in unserem Büro wurden immer Kaffee, Kuchen und eine riesige Obstschale serviert. Sie genoss es offensichtlich, von allen Seiten hingebungsvoll verwöhnt zu werden. Die langen Gespräche zwischen ihr und unserem Doktor
waren legendär.
Er durfte in keinem Falle gestört werden und hin und wieder war durch die geschlossene Tür herzliches Lachen zu hören. Die Serrano war ja auch wegen ihrer hellen Stimme als chilenische Nachtigall
bekannt.
Eines Tages kam sie nachmittags wieder in unser Büro, auf dem Arm kläffte ihr süßes, kleines Hündchen. Sie schritt wie eine Diva direkt und schnurstracks ins Büro-Wohnzimmer des Big-Boss, sie kannte ja den Weg!
Alles war - wie immer - für sie vorbereitet.
Sie nahm in dem riesigen Sessel Platz, den der Big-Boss wahrscheinlich nur für sie dort hatte hinstellen lassen und ließ ihr Hündchen frei herumlaufen.
Unser Chef hatte in seinem Büro auch einen Käfig mit einem Kanarienvogel stehen, den er jeden Morgen hingebungsvoll fütterte und dabei unermüdlich versuchte, ihm ein paar Worte beizubringen.
Die Serrano hatte sicherlich noch nicht einmal richtig Platz genommen, da erklang ein markerschütternder Schrei und alles lief wie wild umher.
In einem unbewachten Augenblick war der Kanarienvogel aus dem Käfig entwichen und direkt vor die Schnauze des Serrano-Hündchens geflogen! Dieser hatte sich den Vogel geschnappt und ihn einfach aufgefressen. Alles ging so schnell, dass man nur noch ein paar Federchen langsam zu Boden segeln sah. Es herrschte natürlich große Aufregung. Vogel war weg - aber das Hündchen war satt.
Ob der Vogelmörder
bestraft wurde, kann ich zwar nicht sagen, aber ich bin fest davon überzeugt, dass er sogar noch liebevolle Streicheleinheiten bekam, weil das arme Tierchen so erschreckt wurde.
Rosita Serrano entschädigte unseren Doktor
danach noch mit einer langjährigen Freundschaft.
Übrigens, so lange ich dort arbeitete, gab es in dem Büro keinen Kanarienvogel mehr.