Viele neue Perspektiven
Eine aufregende Zeit für Ost und West, seit einem halben Jahr war die Grenze offen. DDR-Bürger strömten zu Besuchen in den Westen und umgekehrt wollten Westdeutsche sehen, wie es wohl in der DDR aussieht.
Alle zwei bis drei Wochen hatten wir von Verwandten Besuch. Hamburg und natürlich die Reeperbahn wollten alle kennenlernen. Für die Geschwister meiner Eltern und deren Kinder, die in der DDR lebten, waren wir in Norderstedt für alle eine gute Anlaufstelle.
Mein Cousin Gerd aus Eisenhüttenstadt, der die Lesen Sie auch:
Mein Erlebnis mit der Grenzöffnung… KlickGrenzöffnung 1989 hier im Westen hatte, kam jetzt mit seiner Frau Bärbel und den beiden Söhnen, Karsten (19) und Thomas (16). Mit zwei Trabbis rollten sie in Norderstedt an, die beiden Fahrzeuge wurden in unserer Straße bestaunt.
Natürlich waren wir auf den Besuch gut vorbereitet, hatten reichlich eingekauft unter anderem Getränke wie Coca-Cola. Unsere Söhne, damals vier und neun Jahre alt, konnten es kaum abwarten bis die Gäste eintrafen. Wir vermuteten aber, dass die Coca-Cola im Keller sie so ungeduldig machte, denn Limonade gab es sonst bei uns nicht.
Während wir uns noch herzlich im Flur begrüßten, rief unser Kleiner dazwischen: So jetzt müssen wir aber endlich mal Cola trinken
. Nach der langen Anreise wurde das Getränkeangebot allgemein begrüßt.
Das erste Ausflugsziel der gemeinsamen Woche war Hamburg, der Hafen und die bei Touristen beliebte Reeperbahn. Im November hatte Gerd mit uns bereits das Panoptikum besucht, jetzt sollte seine Familie im Wachsfigurenkabinett staunen. Währenddessen schlenderten mein Cousin und ich über die Reeperbahn, bei Nieselregen vertraut eingehakt unterm Schirm. Plötzlich war Gerd ganz aufgeregt, da kam ihm tatsächlich ein Bekannter aus Eisenhüttenstadt entgegen. Das große Hallo wurde von der Gegenseite nicht erwidert, der andere schaute zur Seite, wollte uns einfach nicht sehen. Vermutlich war es ihm peinlich, Gerd mit einer anderen Frau auf der Reeperbahn zu treffen, von unserer familiären Beziehung ahnte er ja nichts. Auf dem Weg zu den Landungsbrücken sahen wir dann den Reisebus aus Eisenhüttenstadt und dort traf unser Besuch noch einen weiteren Hüttenstädter.
Eine Hafenrundfahrt ist immer ein besonderes Erlebnis und in dieser Zeit kostete sie für DDR-Besucher nur die Hälfte. Also erstanden wir Tickets bei dem witzigsten Verkäufer und genossen dann die Barkassenfahrt, hörten manch interessantes aber auch lustiges über Hamburg und den Hafen.
Ohne Kultur geht es nicht. Während Bärbel und ich in der Staatsoper das Ballett Othello
schauten, besuchten die Männer eine ähnliche Veranstaltung auf St. Pauli. Schließlich wollte man bei den Kumpels in Eisenhüttenstadt mitreden können. Als es dann in einer Show sehr freizügig zuging, war es Gerd etwas peinlich, zumal sein 19-jähriger Sohn neben ihm saß. Thomas, der 16-Jährige, blieb lieber bei uns im Haus und vergnügte sich mit den vielen Fernsehprogrammen, davon konnte er einfach nicht genug bekommen.
Ende Mai, die Zeit des Japanischen Kirschblütenfestes in Hamburg, ein Spektakel, das man gesehen haben muss. Mein Vorschlag stieß erstmal nicht auf Begeisterung: Feuerwerk kennen wir von Silvester aus Eisenhüttenstadt!
Es hat einiger Überredungskunst gebraucht, ehe wir uns auf den Weg zur Außenalster machten. Von einem Standort mit guter Aussicht schauten wir zu. Ja, so ein Feuerwerk hatte unser Besuch tatsächlich noch nicht gesehen und war sprachlos und überrascht. Und um Mitternacht so einen Stau in der Stadt hatten sie in Eisenhüttenstadt ebenfalls noch nicht erlebt. Die vielen Autos brachten sie zum Staunen.
Ebbe und Flut an der Nordsee erleben, ist für Binnenländer Pflicht. Gut ausgerüstet mit Gummistiefeln fuhren wir Richtung Büsum. Warum müssen wir denn bezahlen, wenn wir nur das Meer sehen wollen?
war die berechtigte Frage.
Dann die große Enttäuschung, als wir über den Deich schauten, kein Wasser da, eben Ebbe. Hier ist ja gar kein Wasser!
Mein Vorschlag, erstmal eine Wattwanderung zu unternehmen, war für alle nicht sehr reizvoll, sie wollten das Meer sehen, aber Ebbe und Flut gibt es nun mal nicht gleichzeitig.
Was ist ein Nordseeausflug ohne Nordseekrabben? Direkt vom Kutter gekauft und zu Hause gepult. So ganz konnte ich meine Freude nicht übertragen. Thomas hat nur eine Krabbe gepult, die wollte er sowieso nicht essen und hat sich dann lieber vor den Fernseher gesetzt. Aber die anderen haben sich an der mühseligen Arbeit beteiligt und später das erste Mal im Leben Krabben probiert und Schwarzbrot mit Rührei und Krabben genossen.
In der kurzen Zeit konnten wir meinen Verwandten einige Besonderheiten hier im Norden zeigen. Von jetzt an besuchten uns Gerd und Bärbel jedes Jahr und sie waren überrascht, immer wieder etwas Neues in Hamburg, Schleswig-Holstein oder gar in Niedersachsen zu sehen und zu erleben.
Im Gegenzug fuhren wir ins Schlaubetal und nach Eisenhüttenstadt, unternahmen zusammen mit der Familie tolle Radtouren, erlebten dabei herrliche Landschaften und Naturschutzgebiete, sammelten Blaubeeren, Steinpilze und Pfifferlinge.
Auf Ausflügen lernten wir Frankfurt (Oder), Görlitz, Bad Muskau mit dem Fürst-Pückler-Park, den Rosengarten in Forst und vieles mehr kennen. Auch Bereiche in Polen entlang der Oder und Neiße besuchten wir und mein Cousin führte uns über kilometerlange Sandwege auf das ehemalige Grundstück unserer Großeltern. Für mich ein ergreifendes Gefühl; hier also sind unsere Väter aufgewachsen und Gerd 1944 geboren.
Nach den Erzählungen meines Vaters hatte ich mir das Dorf Kräsem und die Oderwiesen ganz anders vorgestellt, irgendwie prächtiger. Etwa sechs Häuser standen jetzt noch da, waren auch bewohnt, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, hier ist die Welt stehen geblieben.