Besser spät als nie
1954 waren meine Mutter und ich in Ratzdorf an der Oder und besuchten Mutters Bruder Herbert, seine Frau und den einjährigen Norbert. Später, als die Familie größer wurde und in Coswig bei Wittenberg lebte, bestand nur Briefkontakt, jedenfalls für mich. Meine Eltern sind ein- oder zweimal nach Coswig gefahren.
1987, schon zwei Jahre vor der Grenzöffnung besuchte uns Onkel Herbert im Dezember zum Geburtstag meiner Mutter. Die Besuchserlaubnis galt aber nur für ihn allein.
Natürlich sollte er nun auch Hamburg kennenlernen und ich lud ihn für zwei Tage zu uns ein. Es war Adventszeit, wir bummelten über einen Weihnachtsmarkt und aßen am Stand eine Bratwurst. Mein Onkel fragte mich dann, wohin das gebrauchte Plastikbesteck kommt. Ich zeigte auf die Abfalltonne und er war erstaunt: Aber das ist doch einwandfrei
. Er hielt das Besteck einige Zeit fest, unschlüssig, was er damit machen wollte, und steckte es dann heimlich ein.
Abends gingen wir in ein Steakhaus. Mit den vielen Angeboten auf der Speisekarte war er überfordert und so bestellte ich für uns ein Steak mit Backkartoffel und Salat. Er konnte es nicht fassen, dass es Pellkartoffeln im Restaurant gibt. Das glaubt mir keiner zu Hause
, sagte er.
Für seine Söhne kauften wir Fan-Artikel vom HSV ein, die sie sich wünschten, aber erst zu Weihnachten bekommen sollten.
Onkel Herbert hat uns nach Coswig eingeladen und zwei Jahre später, in den Herbstferien, besuchten wir die Familie in Sachsen-Anhalt. Norbert war inzwischen 36, verheiratet und sein Sohn Peter gleich alt mit unserem Sohn Arne. Norbert hatte noch zwei Brüder und die Schwester Katrin, die 19 Jahre jünger war als er. Alle sah ich zum ersten Mal.
Unsere Ankunft in Coswig war an einem Samstag, Mitte Oktober 1989. Wir hätten uns gleich bei der Polizei melden müssen, aber die Station war am Wochenende geschlossen. Erst am Montag kamen wir der Pflicht nach, uns anzumelden und die fünf D-Mark pro Person und Tag in Ostmark umzutauschen. Hier erfuhren wir, dass die Polizeiwache in Roßlau, etwa 15 Kilometer entfernt, auch am Wochenende Dienst hatte und wir hätten dort hinfahren müssen. Wir versprachen, nächstes Mal unsere Ankunft rechtzeitig bekanntzugeben. Da ahnte noch keiner, dass es nächstes Mal nicht mehr erforderlich sein würde.
Mit unseren Söhnen besprachen wir vorher, dass sie nicht erzählen sollten, dass wir kein Schweinefleisch essen. Wir erklärten ihnen, dass man in der DDR nicht alles bekommt und wir hier ausnahmsweise mal Schweinefleisch essen würden. Und so war es auch, für uns wurde extra in Roßlau beim Schlachter reichlich eingekauft, Wurst und Fleisch, alles vom Schwein. Bei Arne und mir zeigten sich nach drei Tagen Pickel im Gesicht, und ich wusste auch warum.
Unsere Verwandten besaßen kein Auto, aber eine Garage, in der wir unseren PKW sicher unterstellen konnten. Die Wohngegend empfanden wir als etwas heruntergekommen und hier in der Straße parkten keine Autos.
Gleich am nächsten Tag, am Sonntag, unternahmen wir alle einen Ausflug in den Wörlitzer Park, der ganz in der Nähe war. Von Coswig aus mussten wir mit einer Fähre die Elbe überqueren. Mein Mann fuhr die Tour zweimal, damit alle dabei sein konnten.
Damals kannte ich die historische Bedeutung des Parks nicht und erkannte vor Ort auch nicht, dass es eine besondere Anlage ist. Der Park wurde im 18. Jahrhundert angelegt und ist heute UNESCO-Welterbestätte Gartenreich Dessau-Wörlitz. Anfang der 1990er Jahre wurden die Parkanlage und die dazugehörigen Bauten über mehrere Jahre restauriert. 1989 konnten wir das Gotische Haus, heute ein Prachtbau, nicht besichtigen, es war renovierungsbedürftig und hatte einige kaputte Fenster.
Zum Mittagessen gingen wir in das einzige Lokal im Wörlitzer Park. Und hier gab es auch nur ein einziges Gericht, Gulasch, das uns sehr lieblos serviert wurde. Alles kam auf einen Teller und die Soße lief fast über den Tellerrand, dazu erhielten wir ein Blechbesteck, das ich am liebsten als Erinnerung eingesteckt hätte.
Der Besuch der Lutherstadt am nächsten Tag gestaltete sich so, dass wir meine Tante im Wagen mitnahmen und einige der anderen Familienmitglieder mit der Bahn fuhren. Unser Auto stellten wir auf einen großen Parkplatz. Ein unvergessliches Bild, unser roter, ziemlich neuer Mercedes als einziges West-Auto zwischen 30 oder vielleicht auch 40 pastellfarbenen Trabbis.
In Wittenberg, damals auch schon Touristenstadt, fiel auf, dass hier in der Innenstadt die Fassaden durchaus schon Farbe gesehen hatten und es nur wenige graue, farblose Wände gab. Auch die Läden hatten ein besseres Angebot an Waren als in anderen Städten.
Unser großer Sohn, damals neun Jahre alt, hatte gerade im Religionsunterricht von Martin Luther gehört. Nun waren wir in Wittenberg und besichtigten die Schlosskirche, an deren Tür Luther seine 95 Thesen angeschlagen hatte. Broschüren, die in der Kirche auslagen, nahm er für den Unterricht mit. An den Besuch der Schlosskirche kann er sich heute noch sehr gut erinnern.
Unser Gerrit, damals fast vier Jahre alt, interessierte sich für alles, was mit Bauen und Baufahrzeugen zu tun hatte. An den grauen, nicht gestrichenen und renovierungsbedürftigen Fassaden und das waren fast alle in Coswig, an denen wir vorbeikamen, rief er immer: Hier müssen die Handwerker kommen und arbeiten
. Der Junge hatte zwar Recht, aber was unsere Verwandten von seinen Bemerkungen hielten, haben wir nicht erfahren.
Zwischen Katrin und mir entstand nur Smalltalk, unsere Lebensabschnitte waren zu verschieden und der Altersunterschied von 24 Jahren war einfach zu groß.
Nach vier Tagen ging unsere Reise weiter nach Groß Muckrow zu Vaters Bruder (siehe Mein Erlebnis mit der Grenzöffnung
).
Mit Onkel und Tante aus Sachsen-Anhalt blieben wir weiterhin in Briefkontakt bis 1996 bzw. 1999 zu deren Tod. 1991 hatten wir uns noch einmal gesehen, zur Goldenen Hochzeit meiner Eltern.
Nach dem Tod ihrer Eltern übernahm Katrin den Kontakt zu meiner Mutter, ihrer Tante. Sie schrieb zu allen Festtagen oder rief später auch an. Als meine Mutter mit 96 Jahren langsam dement wurde und nicht mehr schreiben konnte, bat sie mich, Katrins Post zu beantworten. Im Brief habe ich meiner Cousine auch meine E-Mail mitgeteilt und es entstand gleich ein E-Mail-Austausch zwischen uns.
2017 machten Rolf und ich ein paar Tage Urlaub in Naumburg an der Saale, Grund war eine Aquarellausstellung und die Mitgliederversammlung der Deutschen Aquarellgesellschaft, bei der ich Mitglied bin. Auf dem Heimweg fuhren wir einen Umweg über Coswig und besuchten Katrin und Familie.
Ein Wiedersehen nach 28 Jahren. Erstaunlich, jetzt nach den vielen Jahren hatten wir sofort einen Draht zueinander. Wir stellten viele Gemeinsamkeiten fest, beide malen wir und interessieren uns für Kunstgeschichte, lieben das Meer, haben zufällig in derselben Gegend in Dänemark Urlaub gemacht. Und wir haben die gleichen Gläser in derselben Stadt, sogar im selben Laden gekauft. Es waren nur ein paar Stunden Zeit für ein erstes Kennenlernen, aber es war schon überwältigend, wie viele Berührungspunkte wir jetzt hatten. Wir luden die Familie ein, uns noch im selben Jahr zu besuchen.
In Norderstedt und Hamburg erlebten wir 2017 mehrere schöne Tage. Katrin und ich besuchten auch ein Konzert in der Elbphilharmonie, die erst wenige Monate vorher eröffnet wurde. Dabei hatte ihr Chef, ein Hamburger, ihr erzählt, dass sie zwar auf die Plaza kommt, aber es nicht schaffen würde, ein Konzert in der Elbphilharmonie zu besuchen. Er irrte sich.
In früheren Zeiten hätte sich meine Mutter über den Besuch ihrer Nichte gefreut. Jetzt war ihre Demenz schon weiter fortgeschritten und sie erkannte Katrin nicht. Aber Katrin konnte ihre Tante nochmal sehen, bevor diese ein Jahr später mit 98 Jahren starb.
Unseren 40. Hochzeitstag wollten wir in Dresden begehen. Auf dem Hinweg machten wir Station in Coswig und Katrin lud uns zu einem Stadtrundgang in Wittenberg ein. Nach 30 Jahren waren wir mal wieder in der Lutherstadt und auch in der Schlosskirche.
Einige Tage verbrachten wir in Dresden, eine interessante Stadt mit vielen Sehenswürdigkeiten und der Frauenkirche, deren Baubeginn ich Anfang der 1990er gesehen hatte. Ein Ballett in der Semper-Oper gehörte auch dazu, was uns aber weniger gefallen hatte, wir waren von Hamburg modernere Ballettaufführungen gewohnt.
Das 100-jährige Gründungsjubiläum des Bauhauses war ein Grund, auf dem Rückweg über Dessau zu fahren. 1919 wurde die Hochschule für Gestaltung von Walter Gropius gegründet. Wir besichtigten das neue Bauhaus Museum und die renovierten Architektenhäuser in Dessau, die mich als ehemalige Architektin besonders faszinierten.
Auch die Ölmühle in Roßlau, jetzt ein Soziokulturelles Zentrum, schauten wir uns an. Hier malt Katrin in einer Gruppe. Jetzt bekomme ich jedes Jahr den Kunstkalender der Malgruppe, in dem auch Bilder von Katrin sind. Und, so ein Zufall, eine Malerin aus der Gruppe hatte ich schon zwei Jahre vorher bei einem Malwochenende in Hamburg kennengelernt.
Dieses Jahr, im Juni 2023, haben Katrin und ich gemeinsam an einem Malworkshop der Deutschen Aquarellgesellschaft im Hamburger Hafen teilgenommen. An den vier Tagen, die sie bei uns war, hatten wir viel gemeinsame Zeit. Mich interessierte auch, welche Ansichten t meine Verwandte vertritt, die in Sachsen-Anhalt lebt und dort auch aufgewachsen ist. Ich war angenehm überrascht.
Katrin versteht die allgemeine Unzufriedenheit der Menschen nicht. Einer muss mal anfangen etwas zu tun, sonst ändert sich nie etwas
, so ihre Meinung.
Sie engagiert sich ehrenamtlich an ihrem Arbeitsplatz, Lager und Verkauf, einem bekannten Bekleidungsunternehmen aus dem Billigsektor, und hat unter anderem eine Malgruppe eingerichtet. Einige von den 200 Mitarbeitern machen gerne mit, aber nur während der Arbeitszeit und wenn das Material gestellt wird.
Vielleicht schafft Katrin es, dass hier mehr Zufriedenheit einkehrt.