Die gewonnene Pute – (Weihnachten 1977)
Mein Bruder Harro hat eine Riesenpute gewonnen.Die passt nur in Reni's neuen Herd
, strahlt er. Reni bin ich – ich sehe viel Arbeit auf mich zukommen. Wir wohnen erst seit einem halben Jahr in dem neuen Haus und haben viel Platz für eine große Familienrunde. Als Esstisch muss allerdings noch der Tapeziertisch herhalten, der neue Tisch ist noch nicht geliefert.
Am Ersten Weihnachtstag muss ich schon sehr früh aufstehen, die Pute braucht mindestens drei Stunden. Ich habe keine Erfahrung, denn so einen Riesenvogel habe ich bisher noch nicht gebraten. Mutti will mir helfen.
Zunächst säubere ich die Pute von innen und salze sie. Dann will ich dasIngedöms
vorbereiten. Ich schäle die Äpfel, da kommt Mutti dazu:Das ist doch kein Boskop, hast du nur diese Äpfel? Ja, die sind doch gut
– Eigentlich nimmt man einen Boskop für die Füllung
klärt Mutti mich auf. Zu spät, jetzt müssen wir den Cox orange nehmen. Nun gebe ich Rosinen dazu. Halt
höre ich Mutti dafür nimmt man Korinthen.
Mm – die habe ich natürlich auch nicht im Haus. Du hast doch immer Rosinen im Ingedöms gehabt
meine ich. Nein, nein, da gehören Korinthen hinein
. Nun, heute müssen wir Rosinen nehmen
sage ich. So und nun noch Semmelbrösel. Hoffentlich ist das richtig. Was machst du jetzt?
ruft Mutti entsetzt, hast du keinen Zwieback im Haus?
Nein, wozu das denn, ich hab doch die Brösel?
Den Zwieback muss man zwischen Pergamentpapier mit der Kuchenrolle zerbröseln, dann kommt er zum IngedömsSiehe auch: Lexikon der alten Wörter und Begriffe
. Mir läuft der Schweiß von der Stirn und unter den Füßen höre ich es schon knirschen, aber ich habe keinen Zwieback im Haus. Die Kinder sind dem Zwieback-Alter längst entwachsen. Das ganze falsche Zeug
wird nun gemischt und ich stopfe die Pute damit aus. Mit einer dicken Stopfnadel und weißem Garn – das habe ich im Haus – wird die Pute zugenäht und in den Ofen geschoben. Hoffentlich stelle ich die richtige Hitze ein, damit der Vogel gar wird.
Nun kann ich mich dem Rotkohl zuwenden. Auch hier wären Boskop-Äpfel besser gewesen als Cox orange, muss ich mich belehren lassen. Warum habe ich bloß früher nie aufgepasst beim Kochen so komplizierter Gerichte? Die Gewürze zum Rotkohl habe ich glücklicherweise alle im Schrank.
Jetzt will ich die Klöße anrühren – von Pfanni natürlich. Mutti holt tief Luft: Klöße von Pfanni, nein, die schmecken doch nicht, die muss man aus gekochten Kartoffeln selber machen. Ich glühe schon mächtig: Nein Mutti, entweder von Pfanni oder wir kochen einfach Kartoffeln, du kannst ja schon mal mit dem Schälen anfangen – wir sind zehn Personen heute Mittag. Mutti überlegt kurz und sagt dann zu meiner Überraschung: Mach man Klöße von Pfanni, vielleicht schmecken sie ja doch ganz gut
. Na, da bin ich aber beruhigt.
Nach zwei Stunden muss ich die Pute umdrehen, sie wiegt 16 Pfund, aber mit Werners Hilfe schaffe ich es. Hoffentlich wird sie innen gar, denke ich.
Nach drei oder vier Stunden, das weiß ich nicht mehr so genau, ist die Pute fertig und sogar mit Kruste.
Inzwischen sind die Gäste eingetroffen, genießen den Bratenduft, der durch das ganze Haus zieht. Durch die vielen Schüsseln bekommt der Tapeziertisch festen Halt. Mit vereinten Kräften zerlegen wir die Pute und es wird nun doch ein Festessen, keiner bemerkt die vielenfalschen
Zutaten.
Am nächsten Tag ruft Mutti an:Es war ein wunderbares Weihnachtsessen gestern bei euch, hat erstklassig geschmeckt …
. – Ich bin überrascht, aber dann kommt es: Nur schade, dass du so nervös warst …
Oh je, das muss ich erst mal verdauen.
Wenn Mutti mich später einmal gefragt hat: Soll ich dir in der Küche helfen?
habe ich immer gesagt: Ach, lass man, ich krieg das schon alleine hin
. Aber Boskop-Äpfel habe ich jetzt im Garten. Hoffentlich guckt Mutti von oben zu und sieht, dass ich von ihr gelernt habe.
Das Rezept für Kartoffelklöße halb und halb aus Doennings Kochbuch finden Sie in der Geschichte:Weihnachliches Festmahl