Kindheit in der DDR
oder:
wie man mich zur Eisschnellläuferin machen wollte
Auf Sport und Sportunterricht legte man, wie Sie, liebe Leserin, lieber Leser sicherlich wissen, in der DDR immer sehr großen Wert. Die Kinder mussten körperlich fit gehalten und stets trainiert werden.
Da ich in der DDR, in Karl-Marx-StadtDie älteste urkundliche Erwähnung Chemnitz datiert aus dem Jahre 1143. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelte sich Chemnitz zu einer wichtigen Industriestadt in Deutschland. Am 10. Mai 1953 erfolgte durch das Zentralkomitee der SED und die Regierung der DDR die Umbenennung der Stadt in Karl-Marx-Stadt.
1990 kam es in Karl-Marx-Stadt zu einer Bewegung zur Wiedereinführung des historischen Stadtnamens. Auf Abstimmungskarten konnten die Einwohner der Stadt bis zum 22. April 1990 ihr Kreuz für Karl-Marx-Stadt oder Chemnitz machen. Am 23. April 1990 wurden die Stimmen ausgezählt und am Abend das Ergebnis von 76 % der Stimmen für Chemnitz bekannt gegeben. Das neue, demokratisch gewählte Stadtparlament beschloss auf seiner ersten Sitzung am 1. Juni 1990 die Rückbenennung von Karl-Marx-Stadt in Chemnitz., aufwuchs, unterlag auch ich trotz meiner ungarischen Staatsangehörigkeit den Normen und Regeln dieses Landes. So auch den Vorstellungen über die Wichtigkeit der körperlichen Zucht.
Ich erinnere mich, dass wir am Anfang, also in der ersten und zweiten Klasse unserem kindlichen Temperament noch freien Lauf lassen durften. Wir spielten viel Fußball oder Völkerball, tollten herum und lachten viel. Wir waren eben Kinder. Was wir nicht wussten war, dass wir auch in diesen unbeschwerten Stunden unter ständiger und genauer Beobachtung unserer Sportlehrer standen. Mit einem geschulten Blick, der wohl eher dem eines Pferdehändlers glich, begutachteten sie uns ganz genau und spähten, welches Kind welche körperlichen Vorteile bot, die es zu nutzen oder auszunutzen galt. Diesen entsprechend wurden dann die Kinder zu den unterschiedlichsten Trainingseinheiten geschickt. Auch hier war ich keine Ausnahme, wie sich bald herausstellen sollte.
Ich muss wohl neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern eines Tages einen mysteriösen Brief von einem uns vollkommen unbekannten Absender erhielten. Darin wurden sie gebeten, mich an einem bestimmten Tag zur großen Eishalle, die sich am anderen Ende der Stadt befand, zu bringen. Auserkoren hatten sie mich für den Eisschnelllauf. Ausgerechnet Eisschnelllauf und ausgerechnet mich! Warum? Was soll das!?
Schlagartig überkam mich panische Angst! Stand ich doch noch nie mit Schlittschuhen auf dem Eis! Klar bin ich im Winter, genau wie jedes andere Kind, viel geschlittert, aber das war doch was ganz anderes! Und überhaupt… ich wollte reiten!
Oh, wie ich diesen Tag fürchtete! Doch völlig unbeeindruckt von meiner Angst rückte dieser festen Schrittes und unverschämt kaltschnäuzig immer näher.
Ich weiß noch, es war ein grauer, hässlicher, gemein kalter Wintertag, an dem ich erst zur Schule und dann durch die aufkommende Dunkelheit des späten Nachmittags mit meinem Vater zur noch kälteren Eisbahn gehen musste. Zuerst fuhren wir mit der Straßenbahn und dann mit dem Bus. In der Straßenbahn ging es mir noch einigermaßen gut. Dramatisch wurde es erst, als wir zur Busstation kamen und ich die große Horde Kinder, die auch alle zur Eishalle mussten, entdeckte!
Was jetzt geschah, ist bei mir mittlerweile schon zur Gewohnheit geworden. Mein innerer Pessimist, der sich offensichtlich schon vor meiner Geburt vorgenommen haben muss, mir stets helfend und schützend zur Seite zu stehen, begann sich zu regen. Er erzählte mir, dass diese Kinder alle schon perfekt Eislaufen können – nur ich nicht. Er malte mir Bilder, in denen ich mehr auf dem Eis lag als stand; in denen ich von den anderen ausgelacht und verhöhnt wurde, und er hielt eine wissenschaftliche Abhandlung über all die schrecklichen Gefahren, die jetzt schon auf mich lauerten.
Sie können sich sicherlich vorstellen, wie ich mich fühlte. Am liebsten wäre ich keinen einzigen Schritt weitergelaufen und in der Tat fand ich die Methode, die ich als kleines Kind in solchen Situationen immer pflegte, plötzlich wieder überaus imposant. Es wäre doch eine gute Möglichkeit, oder nicht? mich hier auf der Stelle schreiend auf den eiskalten, knochenharten Boden zu schmeißen, um somit meinen Widerstand gegen dieses demütigende Vorhaben zu demonstrieren!
Das Problem war nur, dass ich kein kleines Kind mehr war und große Achtung vor meinem Vater hatte. Somit entschloss ich mich zu einer weniger drastischen Ausgabe meiner frühkindlichen Trotzmethode. Ich verlangsamte meine Schritte. Mein Vater nicht. Er blieb bei seinem Tempo. Offensichtlich eine Berufskrankheit! Er ist Schlagzeuger.
Bockig wie ich war, ließ ich mich fast schon auf dem Boden schleifend zur Eishalle zerren. Hier angekommen drückte man uns sofort die passenden Schlittschuhe in die Hand. Widerwillig und mit meinem schlimmen Schicksal hadernd zog ich sie an und tippelte zur riesigen Eisbahn, auf der sich schon etliche Kinder tummelten.
Doch was war das? Mein Auge bot mir ein heilloses Spektakel mit kreischenden und weinenden Kindern, die mehr auf dem Eis lagen als standen. Mein innerer Pessimist hatte nicht Recht behalten! Nein, diese Kinder konnten überhaupt nicht Schlittschuh laufen! Nein, sie konnten noch nicht einmal auf dem Eis stehen! Noch nicht einmal den ersten Schritt haben sie geschafft. Nichts! Und so sollte ich nun auf das Eis. Während die anderen einen gekonnten Spagat und Sturz nach dem anderen absolvierten war ich mir hundertprozentig sicher: Ich werde mir garantiert gleich sämtliche Knochen brechen, denn ich kann noch viel weniger, als all die anderen, die selbst auch nichts konnten.
Mich mit beiden Händen an die rettende Rampe krallend und mit schlotternden Knien betrat ich nun das Eis. Ich gehorchte den befehlenden Bildern meiner Augen und versuchte das Verhalten der anderen zu spiegeln und mich dem ungeschickten Treiben der anderen anzuschließen. Von meinen Sinnen weit entfernt vernahm ich erst gar nicht das Können meines Körpers. Während ich mich nämlich in meinen wirren Gedanken noch immer stürzend und stolpernd sah, glitten meine Beine gekonnt auf dem Eis eine Runde nach der anderen. Wieso konnte ich das sofort?
Ich fuhr, als wäre ich mit Schlittschuhen auf die Welt gekommen. Natürlich entging das den zuständigen Beobachtern nicht, denn bald erhielt ich erneut eine Einladung, aber diesmal schon zum Training. Sie haben mich ausgesucht und sie wollten aus mir eine Eisschnellläuferin machen.
Wenn Sie mich jetzt fragen, ob sie es geschafft haben, so muss ich Sie, liebe Leserin, lieber Leser enttäuschen, denn das haben sie nicht. Natürlich ging ich anfangs fleißig zum Training, doch irgendwann wollte ich nicht mehr. Nein, sie ließen mich nicht so schnell gehen, denn immer wieder schrieben sie meinen Eltern Briefe mit der Bitte, mich doch gefälligst zum Training zu bringen. Da meine Eltern aber im Opernhaus tätig waren und somit nachmittags fast nie Zeit hatten, konnten sie mich auch nicht zum Training bringen. Gott sei Dank!
Denn damals in der DDR als sportliches Talent entdeckt zu werden, bedeutete nicht immer was Gutes. Aber mehr darüber vielleicht in einer anderen Geschichte …
Bis heute weiß ich nicht, woher die Lehrer wussten, was ich nicht wusste.