TimetunnelMachen Sie eine Zeitreise … mit der Zeitleiste zur Machtergreifung 1933
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1939

Zweiter Weltkrieg, 1939 bis 1945

Shoa

Shoa, Holocaust, Völkermord

1945

Zweiter Weltkrieg, 1939 bis 1945

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Zweiter Weltkrieg, 1939 bis 1945

Shoa

Shoa, Holocaust, Völkermord

1945

Zweiter Weltkrieg, 1939 bis 1945

Zweiter Weltkrieg, Flucht und Vertreibung, 1939 bis 1945 / Völkermord an den Juden Europas
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Dieser Artikel wurde auf Plattdeutsch verfasst. Klicken Sie auf die Schaltfläche auf Hochdeutsch um die hochdeutsche Fassung Unvergessen zu lesen.

Mann mit Judenstern

Mann mit Judenstern, September 1941 (Ort unbekannt, möglicherweise Berlin)
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-B04490 / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons

Zeitzeugenbericht als Hörbuch

In seinem Roman Heile, heile Hitler – Szenen einer Kindheit berichtet Claus Günther, Jahrgang 1931, über die Zeit, die nach dem Zweiten Weltkrieg häufig verhüllend als die dunklen Jahre bezeichnet wurden, um sie möglichst schnell vergessen zu können.

Diesen Roman, ein wichtiges Stück Zeitgeschichte, gibt es jetzt auch als kostenlosen Hörbuch mit 22 Folgen und einer Gesamtlänge von knapp 17 Stunden.

Claus Günther
Der Autor Claus Günther, Jahrgang 1931 - Foto: tidenet.de/tide

Die 22 Hörbuchfolgen werden donnerstags um 15 Uhr auf TIDE.radio (UKW 96,0; DAB+; www.tidenet.de/radio) ausgestrahlt. Auch online können die Folgen gehört und heruntergeladen werden:
https://www.tidenet.de/…/heile-heile-das-hoerbuch

Alle Folgen im Überblick:
Folge 1 - Abstieg in den Keller
Folge 2 - Die Eltern
Folge 3 - Vatis harte Hand
Folge 4 - Brandreden und Misstrauen
Folge 5 - Kaputte Scheiben und Nazi-Propaganda
Folge 6 - Judenhass und Führerkult
Folge 7 - Nachbar:innen verschwinden
Folge 8 - Jubel, Angst und Aggression
Folge 9 - Bomben
Folge 10 - Das große Schweigen
Folge 11 - Gelber Stern und Heldenfilm
Folge 12 - Peter wird Pimpf
Folge 13 - Eicheln sammeln für den Führer
Folge 14 - Peter zweifelt am Endsieg
Folge 15 - Kinderlandverschickung
Folge 16 - Friedhelm
Folge 17 - Das Telegramm und die Scham
Folge 18 - Weihnachtsmärchen und Donnergrollen
Folge 19 - Auf der Flucht
Folge 20 - Die Amis kommen
Folge 21 - Peter versteht die Welt nicht mehr
Folge 22 - Hunger, Kälte und eine bittere Erkenntnis


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Unvergeten

Ik gläuv, he keem jüst vun de Arbeit, as he mi opfullen is un ik em schamfert heff. So een as he, kenntekent dörch den geelen Steern an sien Mantel, de höört doch den Afschuum to!, heff ik dacht. Ik harr dat oftins leest un in't Radio heurt, un de Lüüd seen dat ok. Bavento verseuk he, sien Judensteern mit de Aktendasch aftodecken - dat weer verboden!

Wi schreven dat Johr 1941, un ik bün noch Kind west; unschüllig, sotoseggen. Aver so heff ik nu mol nich hannelt! Laat goot sien!, mag männicheen hüüt denken. Över düsse Geschicht is doch al lang Gras wussen - dat is wiet mehr as sösstig Johren her! Stimmt; aver mi hett se mien Leevdaag nich loslaten. Blots: Togeven, wat schofelig ik mi opfeuhrt heff, dat fallt mi ok hüüt noch swoor. Dat Slimmste is: Deep in mien Hart binnen heff ik domols al wusst, wat entfaamt dat weer, wat ik ropen heff. Man de Propaganda, de harr ehr Düwelswark doon!

Dat ik to de Tied eerst teihn Johren oolt west bün, laat ik för mi as Utreed nich to.

Op de anner Siet bün ik mit de Vörgaav opwussen, de groten Lüüd as Respektspersonen antokieken - as lüttjer Butt müss ik en Diener moken, mi verbeugen bi't Godendaagseggen! Kann mi mol jichtenseen seggen, welkeen mi dat insuustert hett, een vun de Groten ut uns Naverschop to beschimpen? Mien Öllern förwiss nich. De Mann harr mi doch nix doon, un ik heff em man knapp kennt …

Dat he Alfred Schloss heten de, heff ik eerst föfftig Johren later utfinnig mokt, jüstso de Naams vun sien Lüüd. Glieks üm de Eck hett he wahnt, in dat lüürlüttje Huus Karlstroot 1 (hüüt Kroosweg), mitsamt sien Fro un de twee grooten Kinner. Afsünnerlich: De mehrste Tied hebbt se opfallen trüchtrocken levt. Woso? Dat wüss ik nich. Ik weet blots, as ik noch lütter west bün (ik güng noch nich na School), do wullen de annern Göörn mi mol wiesmoken, dat düsse Lüüd Christenkinner fangt, slacht, brod un jem eet. Dat kunn jo woll nich wohr sien! So wat gifft dat blots in dat Märken vun Hänsel un Gretel!, heff ik antert un se wat utlacht. Wenn aver doch? Lütt beten bang is mi al west.

Denn keem de Nacht in'n Nevelmaand 1938, as de Nazis de Synagoog in uns Stroot tweihaut hebbt. Vun do an hett de Familie Schloss keen Goddeshuus mehr hatt, nau as ehr annern Glovensbröder un -süstern. Dor sünd se noch mehr ünnerdukt un hebbt sik roor mokt, Alfred Schloss un sien Lüüd, un een Johr later, in'n Krieg, hebbt se nich mol mehr ehr Rulloos hochtrocken; dat lütte Huus sehg heel düüster ut. Ik meen, avends un bi Nacht güng dat jo in Ornung, Verdunkelung weer Plicht för uns all, dormit de Feendfleegers uns keen Bomben op't Dack smeten, aver daagsöver, tomol wenn de Sünn schien, harrn de Fleegers uns Hüüs doch sobiso licht wies warrn kunnt! Ik kunn dat nich begriepen; mi keem dat jüüdsch Huus beten grugelig vör, meist as en Frömdlief in de Stroot.

Hento keem, dat sik dor in de Schummerstünn oftins en Mann insleken hett, de weer vun Kopp bit Foot swatt utstaffeert un harr so'n egenoordigen Hoot op. Dat is de Rabiner west, jem ehr Preester, hett Vadder mi verklort. Aver woso müss de sik dor so anslieken? Mien Gefeuhl hett mi signaliseert, dat de Lüüd Angst harrn, all tohoop, aver mien Verstand hett mi wat anners ingeven. Die Juden sind unser Unglück!

Un denn keem de Daag, den ik opleevst ut mien Gedächtnis streken harr. Ik heff speelt, an de Eck vun de Eißendörper un de Karlstroot. Ganz alleen. Mit eens sehg ik den Mann, he güng op de annere Siet. Sien Naam wuss ik nich, aver vun'n Ankieken heff ik em kennt.

Poor Meters noch, denn weer he to Huus … Den geelen Steern mit den Opdruck Jude, de in Bostheuch op sien Mantel opneiht weer, verseuk he achter sien Aktendasch to versteken. Gegen de Vörschrift! Wat schall dat? Woso is de Keerl so'n Bangbüx? He heurt doch de groten Lüüd to! Aver nee - de hier is mi keen Respektsperson, de doch nich …

Ik wuss en Spottvers. Mien Hart pucker as dull, ik nehm mien ganzen Moot tosamen un reep em to, as luut as ik kunn: Itzig, Itzig, Judenschwein!

In düssen Ogenblick greep mi vun achtern een in'n Nacken - den Greep feuhl ik hüüt noch. Dat is Edgar west, de Jung vun uns Huusweert, bi veer Johren öller as ik. He schüttel mi as weer'k 'n Hund, de wat utfreten harr, un mit Wöör as Hamers schafuter he mi:
Das musst du nicht machen! Das sind doch auch Menschen!

Ik heff dacht, de Heven stört in. Afwesselnd hitt un koolt is mi worrn, Geushuut heff ik kregen, mien Gesicht hett brennt as Füer, un mien Hals weer as tosneurt. Dat eerste Mol in mien Leven harr ik mi an een vun de Groten afreageert, un doch weer dat so verdwars, so schabbig, as dat man sien kunnt.
Meist as en Dootsünn.

Poor Daag later, op'n Vörmiddag, an'n 8. Nevelmaand 1941, de bleke Harvstsünn flimmer, do hebbt mit 'nmol de Fenstern un de Dören vun dat lüürlütt Huus opstahn, sparrangelwiet, de Rulloos weern hochtrocken un de Gardinen rünnernohmen. Molers hebbt anfungen, de Wänn to wittschern un de Rohmens antostrieken, scheun witt, un geel afsett …

Man Alfred Schloss un sien Fro Feodore, beid 51, sünd nich mehr dor west, ok nich ehr Söhn Werner, 20, un ehr Dochter Edith, 16 Johren jung. De sünd verswunnen, all tohoop, de heele Familie, afholt deep in de Nacht, verdreven op Nümmerweddersehn. Keeneen in de Stroot hett wat markt. Un keeneen snack dor över, ok later nich.

In dat renoveerte lütt Huus sünd denn utbombte Nazis introcken, hunnertföfftigperzentige, as de Lüüd munkelt hebbt. Do heff ik mi trechtleggt: Wenn dat bi Familie Schloss vörher ok so scheun hellerlichten west weer as nu, denn harrn de seker dor bleven kunnt un weren nich ümsiedelt worrn, as dat dunntomalen heten hett.

So heff ik as Jung mien Geweten begeuscht. Aver mien Erinnern lett mi nich los.
Fro Schloss, dat hett en Naversch na'n Krieg protokoleren laten, is an den Dag vör dat Afholen noch na ehr Friseus hen un hett sik de Hoor moken laten, aver se hett bitterlich weent dorbi.

Das sind doch auch Menschen!
Se hebbt jem ümbracht in Minsk. All mitenanner. Landslüüd vun mi.


Unvergessen

Ich glaube, er kam gerade von der Arbeit, als er mir auffiel und ich ihn beschimpft habe. So einer wie er, gekennzeichnet durch den gelben Stern an seinem Mantel, der gehört doch zum Abschaum, habe ich gedacht. Ich hatte das öfter gelesen und im Radio gehört, und die Leute sagten das auch. Außerdem versuchte er seinen Judenstern mit der Aktentasche abzudecken – und das war verboten!

Wir schrieben das Jahr 1941, und ich bin noch Kind gewesen, unschuldig, sozusagen. Aber so habe ich nun mal nicht gehandelt!
Lass es gut sein, mag mancher heute denken. Über diese Geschichte ist doch längst Gras gewachsen – das ist bald achtzig Jahre her! Stimmt. Aber mich hat sie mein Lebtag nicht losgelassen. Nur: zugeben, wie schäbig ich mich benommen habe, das fällt mir auch heute noch schwer. Das Schlimmste ist: Tief in meinem Herzen habe ich damals schon gewusst, wie infam es war, was ich gerufen habe. Aber die Propaganda, die hatte ihr Teufelswerk getan.

Dass ich zu der Zeit erst zehn Jahre alt gewesen bin, lasse ich für mich als Ausrede nicht gelten. Andererseits bin ich mit der Vorgabe aufgewachsen, die großen Leute als Respektspersonen anzusehen – als kleiner Junge musste ich einen Diener machen, mich verbeugen beim Gutentagsagen! Kann mir mal irgendeiner sagen, wer mir das eingeimpft hat, einen von den Großen aus unserer Nachbarschaft zu beschimpfen? Meine Eltern bestimmt nicht. Der Mann hatte mir doch nichts getan, und ich habe ihn kaum gekannt …

Dass er Alfred Schloss hieß, habe ich erst viele Jahre später ausfindig gemacht, ebenso die Namen seiner Familie. Gleich um die Ecke hat er gewohnt, in dem kleinen Häuschen Karlstraßeheute Kroosweg 1, mitsamt seiner Frau und den beiden großen Kindern. Merkwürdig; die meiste Zeit haben sie auffallend zurückgezogen gelebt. Warum? Das wusste ich nicht. Ich weiß nur, als ich noch kleiner gewesen bin (ich ging noch nicht zur Schule), da wollten die anderen Kinder mir mal weismachen, dass diese Leute Christenkinder fangen, schlachten, braten und essen. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! So etwas gibt es nur im Märchen von Hänsel und Gretel, habe ich geantwortet und sie ausgelacht. Wenn es aber doch stimmt? Etwas ängstlich bin ich schon gewesen.

Dann kam der Abend im November 1938, als die Nazis die Synagoge in unserer Straße zerstört haben. Von da an hatte die Familie Schloss kein Gotteshaus mehr, genau wie ihre Glaubensbrüder und -schwestern. Da haben sie sich noch mehr verkrochen und sich rar gemacht, Alfred Schloss und seine Leute, und ein Jahr später, im Krieg, haben sie nicht mal mehr ihre Rollos hochgezogen; das kleine Haus sah ganz düster aus. Ich meine, abends und nachts war das ja auch in Ordnung, Verdunkelung war Pflicht für uns alle, damit die feindlichen Flieger uns keine Bomben aufs Dach warfen, aber tagsüber, zumal wenn die Sonne schien, hätten die Flieger unsere Häuser doch sowieso leicht sehen können! Ich konnte es nicht begreifen, mir kam das jüdische Haus etwas unheimlich vor, beinahe wie ein Fremdkörper in unserer Straße.

Hinzu kam, dass sich dort in der Dämmerstunde oft ein Mann reingeschlichen hat, der von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet war und einen eigenartigen Hut auf hatte. Das ist der Rabbiner gewesen, ihr Pastor, hat mein Vater mir erklärt. (Es war der Prediger Alfred Gordon, der ihnen Trost zusprach.) Aber warum musste der sich so anschleichen? Mein Gefühl hat mir signalisiert, dass die Leute Angst hatten, alle zusammen, aber mein Verstand hat mir etwas anderes eingegeben: Die Juden sind unser Unglück!

Und dann kam der Tag, den ich am liebsten aus meinem Gedächtnis gestrichen hätte. Ich habe gespielt, an der Ecke von der Eißendorfer Straße und der Karlstraße. Ganz allein. Mit einem mal sah ich den Mann, er ging auf der anderen Seite. Seinen Namen wusste ich nicht, aber von Ansehen habe ich ihn gekannt. Ein paar Meter noch, dann war er zuhause. Den gelben Stern mit dem Aufdruck Jude, der in Brusthöhe auf seinem Mantel aufgenäht war, versuchte er hinter der Aktentasche zu verstecken. Gegen die Vorschrift! Was soll das? Warum ist der Kerl so ein Angsthase? Er gehört doch zu den großen Leuten! Aber nein – der hier ist für mich keine Respektsperson, der doch nicht!
Ich kannte einen Spottvers. Mein Herz raste wie toll, ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rief ihm zu, so laut ich konnte: Itzig, Itzig, Judenschwein! In diesem Augenblick griff mir von hinten einer in den Nacken – den Griff fühle ich noch heute. Das war Edgar, der Sohn unseres Hauswirts, ungefähr vier Jahre älter als ich. Er raunte mir leise ins Ohr (denn die Juden waren ja wirklich verfemt): Das musst du nicht tun! Das sind doch auch Menschen!
Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, ich bekam Gänsehaut, mein Gesicht brannte wie Feuer und mein Hals war wie zugeschnürt. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich mich an einem von den Großen abreagiert, und doch war das so verquer, so schäbig, wie das nur sein kann.

Ein paar Tage später, an einem Vormittag, am 8. November 1941, die bleiche Herbstsonne flimmerte, da standen haben mit einem Mal die Fenster des kleinen Häuschens weit offen. Maler hatten angefangen, die Wände zu weißen und die Rahmen zu streichen, schön weiß und gelb abgesetzt …
Aber Alfred Schloss und seine Frau Feodore, beide 51, waren nicht mehr da, auch nicht ihr Sohn Werner, 20, und ihre Tochter, 16 Jahre jung. Die waren verschwunden, alle zusammen, die ganze Familie, vertrieben auf Nimmerwiedersehen in aller Herrgottsfrühe. Keiner in der Straße hat etwas gemerkt. Und niemand sprach darüber, auch später nicht.

In das renovierte kleine Haus zogen ausgebombte Nazis ein, hundertfünfzigprozentige, wie gemunkelt wurde. Da habe ich mir zurechtgelegt: Wenn das bei der Familie Schloss vorher auch so schön hell gewesen wäre wie jetzt, dann hätten sie sicher hier bleiben können und wären nicht umgesiedelt worden, wie das damals genannt wurde.

So habe ich mein Gewissen als Junge beruhigt. Aber meine Erinnerung lässt mich nicht los.

Frau Schloss, das hat eine Nachbarin nach dem Krieg protokollieren lassen, ist am Tage vor der Abholung noch zu ihrer Friseuse gegangen, heimlich, und hat sich die Haare machen lassen, aber sie hat dabei bitterlich geweint.

Das sind doch auch Menschen!
Man hat sie umgebracht in Minsk. Alle miteinander. Landsleute von mir.

Die Eheleute Alfred und Feodore Schloss, jeweils 51 Jahre alt, ihre Tochter Edith, 16, und ihr Sohn Werner, 20, wurden am Samstag, dem 8. November 1941, nach Hamburg beordert, von dort weiter nach Minsk deportiert und ermordet. Die 77-jährige Mutter von Feodore Schloss, Frau Minna Meyer, stand nicht auf der Liste der Deportierten, sie schloss sich freiwillig an – was blieb ihr übrig – und erlitt das gleiche Schicksal.


  • Autor: Claus Günther, Hamburg 2005
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