Meine zweite Fahrprüfung
Das Telefon in meinem kleinen Büro klingelte. Am Apparat war Herr Detlev P., der Büroleiter meiner Abteilung, mit dem ich mich auf humorvolle Weise gut verstand. „Herr Lubjahn, haben Sie eigentlich einen Führerschein?“ fragte er scheinbar ernst.
Ich stutzte. „Wie bitte? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Ich fahre unsere Dienstwagen, seitdem ich vor einem halben Jahr hier angefangen habe! Und überhaupt: Ich habe meinen Führerschein, seit ich gerade 18 geworden bin.“
Mitte der 1980er Jahre arbeitete ich als Umweltinspektor beim Berliner Senat und nutzte regelmäßig Fahrzeuge aus unserem Fuhrpark. Abgesehen von einer gewissen Störanfälligkeit der wegen ihres Vorbildcharakters teilweise mit Erdgas betriebenen VW Polo oder VW Passat waren diese Autos wahrlich nicht schwer zu fahren. Und meinen Führerschein hatte noch niemand sehen wollen.
„Nein, nein“, insistierte Herr P. mit dieser Stimme, bei der ich nie wusste, wie ernst er es meinte. „Für Dienstwagen braucht man eine Sondergenehmigung. Sie müssen noch eine zusätzliche Fahrprüfung ablegen.“ Und dann gönnte er mir eine kleine Pause des Staunens, bevor er nachsetzte: „Keine Sorge: Ich mache Ihnen einen Termin beim Fuhrparkleiter, Herrn Scherschnabel-Fuß.“
Wieder war ich mir nicht sicher, ob er scherzte. Wie gesagt, wir hatten nicht nur den gleichen Vornamen, sondern auch den gleichen, etwas schrägen Humor. Aber der Fuhrparkleiter trug tatsächlich einen drolligen Namen.
Einige Tage später fand ich mich im zentralen Fahrzeugdepot des Berliner Senats ein – in einem ehemaligen Straßenbahndepot nahe dem Rathaus Schöneberg. Herr Scherschnabel-Fuß begrüßte mich und wir gingen durch die riesige Halle, wo die Dienstwagen in Reih und Glied auf ihren Einsatz warteten.
Plötzlich blieb er stehen, deutete auf einen Wagen und fragte: „Können Sie dieses Auto fahren?“
Mein Herz machte einen Sprung. Vor mir stand ein schwarzer Mercedes 200 – exakt das Modell, das mein Vater einige Jahre zuvor besessen hatte, nur in Blau. Ich liebte dieses Auto, und der Abschied war mir schwergefallen, als mein Vater es verkaufte.
Wir stiegen ein. Ich auf den Fahrersitz, er auf der rechte Seite. Schon das satte „Plopp“ der Türen, das nur ein Mercedes hinbekommt, fühlte sich an wie ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten. Der Motor sprang an, vertraut wie ein lange nicht gehörtes Lied.
Ohne Zögern löste ich mit dem Fuß die versteckte Feststellbremse, die bei diesem Modell nicht als Hand-, sondern als Pedalbremse ausgeführt war. Herr Scherschnabel-Fuß nickte anerkennend.
Meine – zu kurze – „Prüfungsfahrt“ dauerte kaum mehr als fünf Minuten: Wir rollten gemächlich raus aus der Halle, viermal um die Ecke, zurück zum Depot. Für mich war es eine nostalgische Spritztour; für Herrn Scherschnabel-Fuß offenbar die Bestätigung meiner Fahrkünste.
Als er mir dann meine Prüfbescheinigung aushändigte, lag mir die Frage auf der Zunge, ob ich den Wagen nicht gleich mitnehmen dürfe. Ja, den Büroleiter Detlev P. hätte ich jetzt mit todernster Miene nach dem Autoschlüssel gefragt. Aber so nahm ich mit einem letzten Blick etwas wehmütig Abschied von dem Mercedes 200. Für meine zukünftigen Inspektionsfahrten musste ich mich weiterhin mit den eher bescheidenen VWs begnügen.
Anmerkung
Der damalige Fuhrparkleiter des Berliner Senats trug in Wirklichkeit einen anderen, ebenfalls ungewöhnlichen Namen. Um aber seine Anonymität zu wahren und trotzdem die Pointe zu retten, habe ich ihn in dieser Story „Scherschnabel-Fuß“ genannt.
Auf der Suche nach Fotos dieses blauen Mercedes 200 fand ich nur zwei Aufnahmen aus dem August 1974, aufgenommen in der Gegend von Suwałki in Nordostpolen, unweit der Grenze zur damaligen Sowjetunion.
Die Fotos sind in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Zum einen zeigen sie, dass mein Vater immer sehr großzügig war, wenn ich sein Auto haben wollte. Allerdings war es schon ein besonderer Vertrauensbeweis, dass er mir erlaubte, vierzehn Tage lang mit seinem recht neuen Wagen in das kommunistische und für uns damals eher unheimliche Polen zu fahren. Natürlich gingen wir – meine damalige Partnerin, meine Wenigkeit (rechts bei der Autowäsche) sowie ein befreundetes Pärchen – mit den Wagen in Masuren sehr pfleglich um.
Das Foto mit dem pickenden Huhn wurde bei einem Ausflug zur Grenze zum Oblast Kaliningrad in der Rominter Heide/Puszcza Romincka aufgenommen. Ein Gesprächspartner bemerkte gegenüber meinen polnischsprechenden Freunden lakonisch, dies sei wohl der erste gesichtete Mercedes seit 1945 in dieser Gegend.