An den Seliger See
Im Juli 1950 war ich mit meiner Mutter zum Seligersee gefahren, wir wollten dort einen langen Urlaub machen. Der Seliger ist ein großer See, er liegt in Waldaihöhen, zwischen Moskau und St. Petersburg.
Es ist dort erstaunlich schön, der große See, 66 Kilometer lang, hat 160 Inseln, manche sind ganz klein, wie ein Zimmer, bewachsen mit Moos, Preisel- und Moosbeeren, manche sehr groß, bewaldet, mit inneren Seen und kleinen Siedlungen. Auf den Inseln konnte man noch Reste von Einsiedeleien finden — seit Jahrhunderten lebten dort Mönche. 1555 wurde am Seliger das berühmte Nilow-Kloster gegründet, eines der größten und wohlhabendsten Klöster in Russland. Nach der Revolution hat der KGB dort einen Knast und Arbeitslager, ein Gulag, eingerichtet und 1950 hat es noch immer dem KGB gehört, war ruiniert und hinter Stacheldraht.
Der Seliger war 1950 von Urwäldern umgeben und an den Küsten befanden sich kleine Dörfchen. Die Küsten sind mit Schilf bewachsen, aber es gibt auch kleine Strände mit weißem Sand und das Wasser ist absolut klar, man konnte in der Tiefe die Fische beobachten.
Ungestörte Natur und Menschenleere, damals war es nicht leicht, den Seligersee zu erreichen. In Kalinin (heute Twer) musste man auf den langsamen Regionalzug umsteigen, der bis Ostaschkow am südlichen Ufer des Seliger fuhr, und von dort ist Richtung Norden ein Kutter gefahren, mit dem man damals die einzige Touristenherberge am See erreichte. Die Fahrt von Moskau dauerte 24 Stunden.
Die erste Woche hatten wir in der Herberge verbracht. Die Herberge hatte stationäre Zelte, eine Kantine und eine Bootsstation, wo man ein Ruderboot oder Kajak bekommen konnte. Aber für ein Kajak musste man ins Wasser springen und 20 Meter durchschwimmen. Schwimmen konnte ich nicht, also hatten wir ein Ruderboot bekommen. Das Wetter war schlecht, es regnete, die Zelte flatterten im Wind, und man konnte alle Gespräche aus den anderen Zelten mithören. Mutter mit ihrer Schlaflosigkeit konnte nicht schlafen. Also, sind wir umgezogen in das Dorf Neprie, ein paar Kilometer von der Touristenherberge entfernt.
Eine Bleibe haben wir beim Vorsitzenden der Kolchose gefunden, einem sehr sympathischen Mann. Er wohnte mit Frau und fünf Kindern in einem hölzernen Bauernhaus. Wir haben das große saubere
Zimmer bekommen, die Familie blieb im kleineren, wo sich ein großer russischer Backofen befand. Er wurde einmal am Tag geheizt, unseren Topf hatten wir auch dort abgestellt. Im Ofen konnte man sogar ein Dampfbad nehmen. Unsere Miete war sehr niedrig, teilweise haben wir mit Lebensmitteln bezahlt – Büchsenfleisch, Kondensmilch, Reis, Zucker, – die wir aus Moskau mitgebracht hatten. Die Gastgeber waren damit sehr zufrieden.
In den Dörfern war das Leben sehr dürftig. Die Ernten waren niedrig, weil der Boden dort arm ist, und das Wetter unbeständig. Alles, was die Kolchose erntete, musste sie dem Staat abliefern, für eine Arbeitseinheit bekamen die Kolchosbauern ein ganz klein wenig, man sagte damals arbeiten für ein Häkchen
. Man lebte vom eigenen Gemüsegarten, vom Wald und dem See. Erwachsene und Kinder sammelten im Wald Pilze und Beeren. In den Wäldern gab es eine Menge Pilze. Steinpilze und Rotkappen legte man auf ein Blech auf Stroh zum Trocknen im Ofen – für den Winter. Die Walderdbeeren verkauften die Kinder den Touristen in der Herberge oder tauschten an der Tür der Kantine ein Glas Erdbeeren für eine Scheibe Brot.
In den Dörfern wurde kein Brot verkauft, Neprie hatte überhaupt keinen Lebensmittelladen. Um Brot zu kaufen musste man nach Ostaschkow fahren, dort Schlange stehen, oft hat es für alle nicht gereicht.
Im See war damals sehr viel Fisch – Hechte, Brassen, Plötze. Alle im Dorf hatten Ruderboote, das war das Haupttransportmittel. Mit dem Boot brachte man Heu von den Inseln, fuhr in die Stadt, es gab keine Autos und die Wege waren meistens unpassierbar. Die Dolle war aus Holz, der Ruderer saß hinten, mit dem Gesicht nach vorn, so eine Art des Ruderns habe ich in Dänemark gesehen. Und der Ruderer hat dabei noch geangelt mit einem Blinker. Die Angelschnur hat er zwischen die Lippen genommen, um das Anbeißen zu merken.
Die Kolchosbauern hatten keine Renten, und überhaupt keine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Aber sie mussten Steuern zahlen – für die Kuh, für Schweine, für das Hofgrundstück und sogar für die Obstbäume im Garten, deshalb hat man sie alle abgeschlagen. Aber auf die Kühe konnte man nicht verzichten, wenn man Kinder hatte. Deshalb mussten die Bauern nach Ostaschkow zum Markt fahren, und ihren Überfluss
verkaufen, um Geld für die Steuern zu bekommen. Für sich selbst war kaum etwas übrig geblieben. Fleisch und Wurst auf ihrem Speiseplan gab es nicht, Fisch musste man im Ofen backen, weil kein Öl da war. Unter diesen Umständen war es ein Glück, Feriengäste zu haben und ihnen Milch und Kartoffeln zu verkaufen. Der Vorsitzende der Kolchose, ein gewissenhafter und kluger Mann, lebte nicht besser als alle anderen. Er hat uns viel über das Leben in den Kolchosen erzählt. Viele in den Städten hatten davon keine Ahnung.
Während des Krieges war diese Gegend unter deutscher Besatzung. Aber in Neprie hat man deutsche Soldaten nur einmal gesehen. Im Frühling und Herbst war Neprie unerreichbar, und das Dorf ist unzerstört geblieben. Auch nach dem Krieg hat man die Wege nicht ausgebaut. Die Kinder mussten bei jedem Wetter zur Schule zu Fuß durch den Wald laufen, bei Schnee und Regen, zwei Stunden lang, die Schule war sieben Kilometer entfernt.
Ungefähr in fünf Kilometern lag eine große Insel Gorodomlja. Manchmal konnte man sehen, wie sie von einem Patrouillenboot umkreist wurde. Die Einheimischen sagten, dass man sich auf keinem Fall der Insel nähern durfte – von dort kann ohne Warnung geschossen werden. Auf der Insel hatten deutsche Wissenschaftler und Ingenieure gearbeitet. Sie lebten dort mit ihren Familien. An Sonntagen hat man sie manchmal nach Ostaschkow zum Markt gebracht. Sie haben ohne zu feilschen frische Lebensmittel gekauft. Keiner wusste, was sie auf der Insel machten. Man munkelte, dass dort Biologen geheime Waffen entwickeln. Jetzt weiß man, dass nach Gorodomlja aus der sowjetischen Zone von Bleicherode und Peenemünde Raketeningenieure gebracht worden waren, um in Koroljews Labor zu arbeiten. Bakteriologische Waffen erforschte man dort auch. Bis heute ist der Zugang zu der Insel (jetzt Siedlung Solnetschny) für Unbefugte verboten.
Wir mieteten uns ein Boot mit normalen
Dollen, besuchten damit alle naheliegenden und weiteren Inseln, angelten ohne großen Erfolg mit einem Blinker. Mutter hat noch vom Ufer mit einer Angel Plötze geangelt, für die Katze zum Abendbrot. Wir spazierten im Wald und sammelten Pilze und Erdbeeren.
Ich las aus Moskau mitgebrachte Bücher und träumte vom interessanten, lebhaften Leben. Ich war damals 16, heimlich in meine Literaturlehrerin verliebt, träumte vom Theater, von Bühnenerfolg. Und hier war so eine Stille, in den Dörfern gab es keinen Strom, kein Radio, und Transistorradios gab es damals noch nicht. Zweimal am Tag konnte man die Musik vom Kutter hören, dann wurde ich besonders traurig. Und es passierte hier nichts!
So blöd war ich damals! Jetzt möchte ich so gerne in solch einer Schönheit und Stille einige Zeit verbringen!
Aber dann ist doch etwas passiert.
Am Morgen eines Sonntags sind wir mit unserem Boot nach Ostaschkow zum Markt gefahren. Geradeaus durch den See musste die Fahrt anderthalb bis zwei Stunden dauern. Meine Mutter ruderte hervorragend, denn in ihrer Jugend war sie in einem Ruderverein. Ich hatte auch manche Erfarung – dem Ruderklub hatte ich aber verschwiegen, dass ich nicht schwimmen konnte. Das Wetter war herrlich und es gab überhaupt keine Vorzeichen, dass es stürmisch werden könnte. Wir wechselten uns beim Rudern ab, und hinter dem Boot hing ein Blinker an der Leine. Wir machten noch einen Zwischenstopp an einer kleinen Insel und pflückten dort Preiselbeeren.
Dann wurde der Wind stärker und die Wellen größer. Mutter saß an den Riemen als plötzlich meine Leine stark angespannt wurde, und mit großer Mühe ist mir gelungen, einen recht großen Hecht in das Boot zu ziehen. Der Hecht hat angefangen im Boot, in dem schon recht viel Wasser war, herumzuspringen und mit dem Schwanz zu schlagen. Es flogen Spritzer. Ich konnte den Hecht nicht fangen, er war zu glitschig und ich hatte vor seinen Zähnen Angst. Mein wildes Gekreische konnte man wahrscheinlich in Ostaschkow hören. Also musste Mutter einspringen. Sie schlug den Hecht mit dem Riemen auf den Kopf und warf ihn in den Kasten.
Während wir mit dem Hecht kämpften, ist die Sonne verschwunden, die Wellen wurden recht stark und sie trieben unser Boot Richtung der verfluchten Insel Gorodomlja. Man musste hart gegen Wind und Wellen kämpfen. Zwischen Gorodomlja und Ostaschkow liegt eine breite Wasserfläche. Bei richtigem Sturm waren dort manchmal auch große Kutter gekentert. Man kann sich vorstellen, wie schwer es uns ging. Ich zitterte vor Angst, Mutter lächelte mich ermutigend an. Nachher hat sie mir gestanden, dass sie auch große Angst hatte, das Boot könnte kentern, und ich konnte nicht schwimmen. Zum Glück hatten wir endlich Ostaschkow erreicht. Zurück mussten wir mit dem Kutter fahren - mit dem letzten. Es ist ein richtiger Sturm ausgebrochen und zwei Tage war auf dem See kein Verkehr. Unser Boot hatten wir in der Stadt gelassen, aber meinen Hecht habe ich mitgenommen und war ganz stolz.