Mein kopfloser Zellengenosse
In den Jahren 1943-1944 hatte sich die Gesellschaft in Argentinien, nach den Kriegsgeschehen in Europa, stark polarisiert. Ein Teil unterstützte die Achsenmächte und der andere die Alliierten. Besonders unter den Studenten waren diese Auseinandersetzungen notorisch. Es kam zu Straßenschlachten und häufigen Krawallen in den Schulgebäuden.
Ich war damals Student und gliederte mich natürlich in die Bewegung ein, die der deutschen Gesinnung am nächsten stand: die Alianza Libertadora Nacionalista
(Nationalistische Befreiungs-Allianz). Diese Gruppierung verfolgte grundsätzlich die Ideale eines vom britischen Imperialismus unabhängigen Staates, unter dem Einfluss der katholischen Kirche und im Sinne eines eigenen Industrieaufbaus.
Argentinien stand nämlich immer im Schatten der Kolonialmacht Großbritannien. Im 19. Jahrhundert stritten sich Spanien und England um die Meere der Welt sowie auch um den größten Teil der zu erobernden Länder aller Kontinente. Der Vorgängerstaat Argentiniens, das Vizekönigsreich vom Rio de la Plata, wurde bereits 1776 von den Spaniern gegründet. Jedoch das Königreich Großbritannien hegte schon lange Ambitionen in Südamerika und dachte sich, es wäre doch einfach, diese spanischen Kolonien für die Krone zu erobern.
So kam es, dass 1806 eine britische Armee in der Nähe von Buenos Aires landete und kurz danach die praktisch wehrlose Hauptstadt okkupierte. Aber die einheimischen Milizen setzen sich zur Wehr und mit Hilfe der Bevölkerung, welche die britischen Soldaten von den Dächern aus mit heißem Öl begoss, verjagten sie die Eindringlinge aus der Stadt. Das war eine der bittersten Niederlagen des britischen Armeekorps. Ein zweiter Versuch im Jahr 1807, als die Briten über Montevideo, Buenos Aires wieder erobern wollten, scheiterte abermals an der tapferen Verteidigung der Criollos.
Nach diesem Desaster blieb Großbritannien nichts anderes übrig als seine Ambitionen in Südamerika aufzugeben. Aber das nur im militärischen Sinne. Denn bald begann die unsichtbare
Invasion der Finanz- und Wirtschaftskräfte. Die Briten bauten in Argentinien ein effektives Eisenbahn Netz, setzten Straßenbahnen in Buenos Aires ein, errichteten Kühl- und Schlachthäuser in der Pampa. Britische Schulen und Klubs wurden eröffnet, der Football und das Polo-Reiten wurden eingeführt. Harrods baute ein riesiges Einkaufszentrum mitten in der Hauptstadt. Alles wurde very british.
Auf dem entfernten Malvinas (Falkland) Archipel ist es den Briten im Jahre 1833 dennoch gelungen mit Gewalt und auf räuberische Art sich die Inseln anzueignen und die ansässigen Argentinier, sowie die argentinischen Behörden auszuweisen.
Also summierte sich bei den argentinischen Nationalisten die Abneigung gegen die britische Kolonialmacht mit der Sympathie zum Dritten Reich. Auf der anderen Seite blieben die Anglophilen und die Kommunisten. Meine Wahl war eindeutig.
Die Nationalistische Bewegung gewann rasch an Anhängern und in kaum zwei Jahren stieg die Mitgliederzahl auf 20.000. Ich beteiligte mich begeistert, solange es meine Studienzeit erlaubte und bald hatte ich eine verantwortliche Stellung in der Organisation erreicht.
Am 4.Juni 1943 wurde die Regierung von Präsident Ramón Castillo durch einen Militärputsch gestürzt. Anführer der Rebellion waren die Generäle Arturo Rawson und Pedro Pablo Ramirez. Letzterer übernahm einige Tage später das Präsidentenamt.
Ramirez löste zunächst das Parlament auf und regierte durch Erlasse. Er betrieb eine achsenmächte-freundliche Politik und verfolgte die alliierten-freundlichen Kräfte sowie die kommunistische Bewegung. Daher kam es zu energischen Protesten aus den USA, was ihn bewegte, den Druck auch gegen andere politische Organisationen auszuüben, um so zu sagen, ein Gleichgewicht herzustellen.
Eines Tages, ganz in der Früh, klingelte es in unserer Wohnung und mein Vater öffnete die Tür. Vor ihm standen zwei Polizeibeamte in Uniform, die sich als Unterkommissar (Subcomisario) und Hauptoffizier (Principal) des örtlichen Reviers auswiesen. Sie wollten mich sprechen. Ich frühstückte gerade und stellte mich den Beamten. Sie baten mich, ihnen mein Zimmer zu zeigen. Ich führte sie die Treppe hinauf in mein Schlaf- und Schreibzimmer und die Polizisten begannen mit der Durchsuchung meiner Sachen. Der Subcomisario öffnete als erstes das Schubfach meines Schreibtisches. Dort lag mitten drin ein geladener Eibar Revolver (spanischer Lizenzbau vom Smith & Wesson .38 Revolver) neben einer Schachtel Munition.
Mit erstaunter Miene fragte mich der Subcomisario: Wieso besitzen Sie eine Waffe?
Ich antwortete prompt: Die gehört mir nicht
- Die wurde mir so zu sagen, als
. Es war ja bekannt, dass mehrere Nationalisten von Kommunisten erschossen worden waren. Dienstwaffe
übergeben, zu meinem persönlichen Schutz
Während dessen durchstöberte der Principal mein Bücherregal. Er nahm etliche Bücher heraus um zu sehen, ob hinter ihnen etwas verborgen war. Ich hatte tatsächlich die Walther Pistole meines Vaters (Siehe Geschichte einer Waffe
) hinter einigen Büchern versteckt. Nun weiß ich bis heute nicht, ob der Offizier die Waffe übersehen oder absichtlich ein Auge zugedrückt hat
um mich nicht weiter zu belasten.
Da ich noch minderjährig war, erklärten die Polizisten meinem Vater, dass sie mich zur Wache bringen müssten, um meine Aussagen zu protokollieren. Der Eibar Revolver und die Munition wurden natürlich beschlagnahmt und mein Vater bekam eine Kopie der Akte.
Als ich in Begleitung der Polizeibeamten unser Haus verließ, sah ich, dass vor der Haustür zwei uniformierte Polizisten postiert waren. Außerdem war der ganze Häuserblock von Polizisten umstellt worden. So gefährlich wurde ich also eingeschätzt?
Ich wurde aufgefordert, in das Polizeiauto einzusteigen. Hinter mir gingen die zwei Offiziere, einer von ihnen hielt eine Mappe in seinen Händen auf der, wie auf einem Tablett, der Revolver und die Munitionsschachtel zu sehen waren. Was werden wohl die Nachbarn von mir gedacht haben, die heimlich hinter den Gardinen das Geschehen mit Neugier verfolgten?
Der Subcomisario und der Principal setzten sich auf den Vordersitz des Cabrios und ich bestieg in Begleitung eines Polizisten den hinteren Teil des Wagens. Wo sonst der Kofferraum liegt, wurde ein zusätzlicher Sitz hochgeklappt, wo ich im Freien durch die Gegend kutschiert wurde. Mir wurden keine Handschellen angelegt und ich wurde immer höflich behandelt.
Im Revier angekommen, wurde ich sofort dem Kommissar (Comisario) vorgeführt, der mich dann stundenlang verhörte. Ich versuchte mich zu konzentrieren, um mich nicht in Widersprüche zu verwickeln. Auch bemühte ich mich, keine weiteren Informationen preiszugeben als die, die ohnehin schon polizeilich bekannt sein müssten.
Schließlich wurde ich in eine Zelle eingeschlossen, um am nächsten Tag weiter verhört zu werden. Die Zellen befanden sich im Hinterhof des Kommissariats. Jede Zelle maß ungefähr 2 x 3 Meter und hatte als einziges Mobiliar eine Betonbank an der Hinterwand. Diese diente auch als Tisch und nachts als Bett. Schön hart! Die Tür bestand aus einem starken Gitter, mit Riegel und Vorhängeschloss. Um auf die Toilette zu gehen, musste man einen Wärter rufen, der einen dann zum Ende des Hofes führte, wo sich die Anlagen befanden.
Am nächsten Tag ging das Verhör weiter. Ich strengte mich sehr an, die Fragen immer mit denselben Antworten zu erwidern. Beim Vorbeigehen an den Büroräumen glaubte ich, durch einen Türspalt meinen Vater gesehen zu haben. In meiner Aufregung war ich mir aber nicht sicher.
Wie ich später erfuhr, hatte mein Vater alle seine Beziehungen spielen zu lassen, um zu erfahren, was mit mir geschehen sollte. Ein prominenter Politiker gab meinem Vater seine Visitenkarte und sagte ihm: Zeigen Sie diese Karte dem zuständigen Kommissar und ihr Sohn wird sofort auf freien Fuß gesetzt, selbst wenn er jemand ermordet haben sollte
.
Tatsächlich bestätigte der Kommissar diese Worte, bedauerte aber nicht zu wissen wo ich mich befinde. Ich war nämlich nicht offiziell verhaftet
worden, sondern wurde auf Regierungsbefehl festgenommen und stand zur Verfügung der Staatsmacht
(A disposición del Poder Ejecutivo). Keiner durfte meinen Standort verraten.
Ich merkte nur, dass meine Haftbedingungen sich offensichtlich verbessert hatten. Ich bekam eine Matratze zum Schlafen und in meiner Zelle wurde zur Nacht eine Rauchspirale gegen die Moskitos angezündet. Ein wahrer Luxus! Dazu wurde meine Zellentür nicht mehr verriegelt und ich durfte tagsüber frei durch den Hof spazieren.
In einer der Zellen saß ein Häftling, dessen Unterarme verbunden waren. Ich fragte ihn durch die Gittertür, was ihm geschehen sei. Er erzählte mir, dass er ein Kommunist sei und versucht hatte sich die Pulsadern durchzuschneiden, um beim Hospitalbesuch die Flucht ergreifen zu können. Sein Plan war aber gescheitert weil er trotz seiner Wunden immer gefesselt gewesen war. Ich sollte es auch versuchen zu fliehen, denn alle politische Gefangene würden bald nach Patagonien verbannt werden. Das konnte man mit Sibirien vergleichen!
Also begann ich einen Fluchtplan zu schmieden. Ich schlich mich in den Einsatzbesprechungsraum, in dem sich alle 8 Stunden etwa 70 Polizisten versammelten, um ihre Dienstpläne von einem Vorgesetzten entgegen zu nehmen. Von hier aus schwärmten sie dann in die Straßen der Ortschaft aus. Die meisten zu Fuß, einige mit dem Fahrrad und die am weitesten ihren Dienst leisten mussten, wurden mit dem Auto transportiert.
An einer Wand dieses Raumes hing ein Plakat mit der Gebrauchsanweisung für die Colt Pistole - die Dienstwaffe der Polizei. Ich hatte also die Gelegenheit diese Waffe genau zu studieren. Ich stellte fest, dass im Gegensatz zur Walther Pistole meines Vaters die Colt Pistole nicht weniger als vier Sicherungen hat. Ohne diesen Hinweis hätte ich diese Waffe nie betätigen können. In meinem Fluchtplan war nämlich die Entwendung einer dieser Waffen nicht ausgeschlossen.
Ich hatte beobachtet, dass am Eingangstor des Kommissariats immer ein Wachtposten stand der die Parole hatte, niemand durfte das Gebäude verlassen ohne dass zuvor ein Klingelton von der Wachzentrale betätigt wurde. Also musste sich jeder Besucher zuerst abmelden, damit der betreffende Offizier so oft auf den Klingelknopf drückte, wie Personen das Gebäude verlassen durften. Also müsste ich die Gelegenheit wahrnehmen, gleich nach dem ersten Klingelton bei der Wache vorbeizugehen, bevor der eigentliche Besucher das Tor erreichen konnte.
Aber da war noch ein Haken! Die meisten Polizisten des Reviers kannten mich schon, da ich ja öfters auf dem Hof gesehen wurde. Der Wachposten würde mich sofort beim Versuch, das Tor als Besucher
zu passieren, erkennen. Also müsste ich warten, bis einer der Feuerwehrmänner von der Wache nebenan den Posten am Tor übernehmen würde. Das passierte aber nur einmal in der Woche.
Eigentlich gab es zu viele wenn und aber
, die meinen Versuch zum Scheitern gebracht hätten. Ein Glück, dass es nicht soweit gekommen ist.
Inzwischen verbrachte ich die Tage mit der Lektüre eines Buches, das ich auf Anraten einer der Polizeibeamten mitgenommen hatte. Es handelte sich um Dostojewskis Der Spieler
. In meiner ganz besonderen Verfassung hat mich dieses Buch so sehr beeindruckt und geprägt, dass ich in meinem ganzen Leben nie ein Spielkasino betreten habe. Auch jede Art von Glücksspiel habe ich immer abgelehnt. So hatte meine Festname immerhin eine positive Nebenwirkung. Aber zur Zeit konzentrierten sich meine Gedanken immer noch auf die Flucht.
Eines Nachts hörte ich Geräusche in meiner Zelle. Im Dunkeln konnte ich einige Gestalten sehen, die etwas auf den Boden zu legen versuchten, wobei sie einige Schwierigkeiten zu haben schienen. Ich drehte mich einfach um und schlief weiter. Als es heller wurde, sah ich, dass auf dem Zellenboden tatsächlich ein längeres Objekt lag, mit Zeitungspapier bedeckt.
Als ich die Zeitungen vorsichtig entfernte, eindeckte ich die kopflose Leiche eines Mannes mittleren Alters. Den Kopf hatte man ihm unter den linken Arm gelegt. Keine schöne Ansicht!
Am nächsten Morgen, als die Leiche schon entsorgt war und ich die Zelle mit einem gelieferten Schrubber und Desinfektionsmittel gereinigt hatte, erzählte mir einer der Polizisten, dass der Tote auf der Eisenbahnschiene gefunden worden war, wo er offensichtlich Selbstmord begangen hatte. Da meine Zelle einen kühlen Lagerplatz bot und unverschlossen war, fanden die Polizisten keine bessere Lösung, als die Leiche einfach bei mir unterzubringen. Dabei hatten sie im Dunkeln Probleme mit dem Kopf gehabt, der immer wieder durch die Zelle kullerte, bis sie ihn mit dem Arm fixieren konnten. Ich hätte nie gedacht, dass ein menschlicher Kopf so schwer ist
, stöhnte einer der Polizisten.
Den nächsten Tag habe ich dann meine Zelle kaum betreten um nicht die schrecklichen Bilder wieder in Gedanken vor mir sehen zu müssen.
Aber dann kam schon ein Schimmer Hoffnung in die Gerüchte die man täglich zu hören bekam: es soll einen Führungswechsel in der Polizeimacht gegeben haben und alle Fälle würden neu überprüft. Tatsächlich wurde ich am nächsten Morgen im Auto des Kommissars ins Polizeihauptquartier gebracht, wo ich dem neuen Chef vorgeführt wurde.
Jetzt erkannte ich auch andere Kameraden, die womöglich woanders festgenommen worden waren und alle wurden wir in einer Reihe vor dem General Juan Filomeno Velazco aufgestellt. In seinem imposanten weißen Uniformrock fragte er uns, ob wir eine Straftat begangen hätten. Alle verneinten. Weswegen hat man euch dann festgenommen?
fragte er weiter. Weil wir das Vaterland verteidigt haben!
, kam die einstimmige Antwort.
Meine Herrn, ich gratuliere euch und Ihr könnt ab sofort als freie Bürger nach Hause gehen
. Die Erleichterung war groß, und es machte mir auch nichts aus, vorher nochmal ins Revier gebracht zu werden um einige Formalitäten zu erledigen
.
Vor unserem Kommissariat standen schon meine Eltern. Meine Mutter hielt einen großen Blumenstrauß im Arm, den ihr der Kommissar als Entschädigung für die Sorgen um ihren Sohn
geschenkt hatte.
Hier nahm ich die Gratulationen der ganzen Polizeibereitschaft entgegen und wurde dann mit meinen Eltern bis nach Hause gefahren. Vom beschlagnahmten Eibar Revolver, war niemals die Rede.
Das war die längste Woche meiner Jugendjahre!