Ferienfahrt nach Sylt
Vor einiger Zeit kramte ich in meiner alten Zeugnismappe, in der ich auch einige Erinnerungen aus meiner Schulzeit aufbewahre und fand eine längst vergessene Bildergeschichte, die ich 1965 für meine kleine Freundin Martina gezeichnet hatte.
Martina ist die Tochter einer lieben Bekannten aus Hamburg. Als ich sie das erste Mal sah, war sie etwa drei Jahre alt. Wie Kinder so sind, fragte sie ihre Mama auch ganz neugierig, wer denn dieser fremde Mann sei. Wir haben ihr dann gemeinsam erzählt, wie wir uns als Schüler kennen gelernt haben, als wir mit unseren Fahrrädern quer durch Norddeutschland gefahren sind und uns dann auf Sylt das erste Mal begegneten. Ich habe damals noch sehr gern gezeichnet und versprach dem kleinen Mädchen, ihr ein Bilderbuch zu malen, in dem sie diese Geschichte nachlesen könnte. Ich habe dann auch mit viel Liebe zum Detail eine Reihe von Federzeichnungen fertig gebracht und hatte schon die Hälfte dieser Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes aufgezeichnet, als ich eine Chance bekam, mich beruflich zu verbessern. Nach einer intensiven Vorbereitungszeit wurde ich dann als Beauftragter meiner Firma in den Außendienst versetzt. Ich hatte natürlich keine Zeit mehr, weiter zu zeichnen. So schlummerte dieses Fragment jahrelang vor sich hin und ist nie fertig geworden. Eigentlich schlimm, denn ich habe mein Versprechen bei Martina nie eingelöst.
Als ich mir mein Frühwerk
so betrachtete, kam mir zwar der Gedanke, es irgendwie zu vollenden, aber ich könnte heute sicher nicht mehr so filigran zeichnen, also habe ich diesen Plan verworfen. Die Idee, diese Geschichte wenigstens weiter aufzuschreiben, ließ mich aber nicht mehr los, obgleich ich weiß, dass Martina sie nicht mehr lesen wird.
Hier ist nun die ganze Geschichte.
Ich wohnte in der Nachkriegszeit bei meinen Großeltern in Berlin und ging dort auch zur Schule. In den 1950er Jahren konnte man zwar noch an vielen Stellen als Fußgänger oder Radfahrer meist noch unkontrolliert in den Ostsektor
oder in die Zone
fahren, aber es war schon recht schwierig. Drüben
zu übernachten, das ging nicht mal mehr bei Verwandten. Damals war drüben
eben doch schon eine ganz andere Welt und uns wurde ja auch dauernd eingeredet, dass Westberlin zum Westen gehört, also zum guten Teil
dieser Welt. Deshalb zog es uns auch nicht unbedingt in den Osten und Ferien wollten wir dort schon gar nicht machen. Das war uns alles schon zu sehr staatlich organisiert.
In den Großen Ferien 1953 beschlossen deshalb meine drei Freunde und ich, mit unseren Fahrrädern nach Sylt zu fahren. Wir waren damals alle so um die 16-17 Jahre alt und hatten zur Vorbereitung dieser Fahrt natürlich lange zusammen gesessen, die Fahrroute auf Landkarten ausgeguckt und nachgerechnet, ob und wo wir die nächste Jugendherberge finden konnten. Das war natürlich keine Sonntagstour, wie man sie heute mal fix mit dem Auto machen kann. In der Bundesrepublik konnte man schon längst wieder ohne Schwierigkeiten reisen, aber diese Freizügigkeit galt eben nie für Westberliner, wenn sie auf dem Landweg durch die DDR nach Westdeutschland
fahren wollten.
Man musste zusätzlich zu seinem Ausweis einen so genannten Interzonenpass haben. Das war ein mehrmals gefaltetes Dokument in vier Sprachen (nämlich: englisch, russisch, französisch und deutsch) und mit vielen Stempeln versehen, das man brauchte, wenn man durch die Ostzone
fahren wollte. Herausgegeben wurde dieses Papier von den Alliierten, die eigentlich bis zur Wende in Berlin das Sagen hatten. Mit dem Fahrrad durfte man natürlich nicht durch die DDR fahren, man musste entweder mit dem Zug, dem Bus oder anderswie rüberkommen. Das klappte auch, denn der Vater eines anderen Freundes war Fernfahrer. Also fragte ich ihn, ob er uns mitnehmen würde und so geschah es. Wir fuhren auf der leeren Pritsche seines Lastwagens von Berlin nach Helmstedt, dem damals bekanntesten deutsch/deutschen Grenzübergang, mit. Von dort erst ging es dann wirklich mit dem Radl los.
Meine erste Station war Sehnde, damals eine kleine Vorstadt von Hannover, wo sogar die Straßenbahn hinfuhr. Dort wohnten Verwandte von uns, die ich besuchen wollte. Es war natürlich alles vorher abgesprochen. Auch die anderen Freunde hatten Verwandte in der Nähe Hannovers, die sie besuchten. Eine Woche später trafen wir uns dann in der Jugendherberge in Fallingbostel und fuhren mit unseren Drahteseln
über Hamburg, Itzehoe, Brunsbüttelkoog und Friedrichstadt nach Süderlügum in der Nähe der dänischen Grenze, wo wir jeweils in den dortigen Jugendherbergen übernachteten. Um nach Sylt zu kommen, musste man - wie heute auch noch - mit der Bahn von Niebüll über den Hindenburgdamm fahren. Ab Westerland ging es dann wieder auf dem Fahrrad gen Norden, nach List. Dort war die einzige Jugendherberge, die es auf der Insel gab, sie ist es wohl auch heute noch.
Natürlich waren die Jugendherbergen in der Ferienzeit gut besucht und unter jungen Menschen gibt es tausend Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben. Das war damals nicht anders als heute. Wir klönten miteinander, spazierten in den Dünen und flirteten, wo sich die Gelegenheit bot und vor allem, wir saßen abends zusammen, es gab immer ein Lagerfeuer und irgendwer hatte bestimmt eine Klampfe dabei. Ob wir die Texte kannten oder nicht, wir sangen oder brummten immer fleißig mit. Wir vier schlossen uns bald einer Pfadfindergruppe an, bei der ein Mädchen Klampfe spielte und stellten fest, dass sie aus Hamburg kamen. Die Gruppe bestand aus 8 Jungen und Mädchen, etliche recht jung, aber mindestens drei der Mädchen waren etwa in unserem Alter. Das Mädchen mit der Klampfe hieß Christa, wurde aber Miggi gerufen. Sie gab son bisschen den Ton an. Als wir dann erfuhren, dass sie an dem Tag wieder abfahren wollten, den wir uns auch ausgeguckt hatten, beschlossen wir, zusammenzubleiben und gemeinsam zurückzufahren.
Wir brauchten drei Tage von Sylt bis Hamburg, denn mit den damaligen Fahrrädern, die meist noch nicht einmal eine einfache Gangschaltung hatten, konnte man pro Tag höchstens 80 bis 100 km zurücklegen und auch bei dieser Distanz hatten wir schon ziemliche Schwierigkeiten. Fiesen Wind, der natürlich immer von vorn kam, gab es auch damals! Und dann passierte schon mal die eine oder andere Panne, die uns zeitlich zurückwarf, aber gemeinsam war der Schaden dann doch immer recht bald behoben.
Unterwegs kurz vor Hamburg besorgten
wir noch ein paar Pfund Kartoffeln und irgendwer griff auch mal schnell in den Butterkarton (pfui Spinne!), den die Molkerei am Straßenrand für den Bauern neben die leeren Milchkannen hingestellt hatte. Das war unsere Morgengabe an Christas Mutter, die mit Mann und Tochter in der Nähe des Hamburger Schlump wohnten.
Dorthin hatte Christa alle eingeladen und wir verspeisten in fröhlicher Runde Pellkartoffeln mit Butter und Salz! Köstlich!
Nach dieser opulenten
Mahlzeit spielte Christa-Miggi noch einige lustige Lieder auf der Klampfe und später verabschiedeten wir uns so herzlich, vor allem von Muttern
, als hätten wir uns schon ewig lange gekannt. Ehrensache, dass wir unsere Adressen austauschten und versprachen, im nächsten Jahr wieder vorbeizukommen. Das war eigentlich unter Pfadfindern eine Pflichtübung, meistens jedoch nur warme Luft
, aber das hier schien anders zu laufen.
Im Anfang war es nur eine nette Brieffreundschaft, nichts tief greifendes, aber doch herzlich und das mit dem gegenseitigen Besuchen klappte auch ein paar Mal. Daraus wurde schließlich eine lange herzliche Freundschaft die auch andauerte, als wir beide - natürlich jeder mit einem anderen Partner - verheiratet waren Letztlich war diese Ferienfreundschaft sogar der Beginn meiner Liebe zu Hamburg.
Den Rest der Geschichte kann man schneller erzählen. Meine erste Station im Außendienst war Celle. Ich mietete dort Anfang 1968 eine kleine Wohnung und fuhr dann auch mehrmals z.T. beruflich nach Hamburg. Für Martina war natürlich klar, dass ich sie besuchte und nicht ihre Mami. Dann wurde ich nach Süddeutschland versetzt, aber auch von dort pflegten wir unsere Beziehungen, wenn auch nicht mehr so intensiv. Martina besuchte uns dort sogar einmal in den Ferien. Als sich dann Ende der 70er Jahre mein Wunschtraum erfüllte und ich nach Hamburg versetzt wurde, wohnte Martina schon längere Zeit bei ihrem Vater. Christa hatte sich von ihrem Mann, der jahrelang zur See fuhr, getrennt. Warum Martina nicht bei ihrer Mutter blieb, hab ich leider nicht mehr in Erfahrung bringen können.
Christa ist vor 10 Jahren verstorben. Was aber bleibt, ist die Erinnerung an ein schönes Jugenderlebnis und an ein liebes kleines Mädchen. Ich freue mich jetzt, dass ich die unvollendete Zeichengeschichte noch immer besitze. Sie hat mir dabei geholfen, die fast vergessenen Erinnerungen wieder aufzufrischen.