Weihnachtsbaumus maximus
Nachdem meine Großeltern innerhalb kurzer Zeit verstorben waren, übernahmen meine Schwester und mein Schwager Mitte der 60er Jahre in Berlin die Altbauwohnung, in der die alten Herrschaften über 50 Jahre gewohnt hatten.
Mein Schwager hatte, so lange ich ihn kannte, einen unbändigen Spaß daran, seiner Frau zu unmöglichen Terminen die tollsten und überraschendsten Geschenke zu machen. Weshalb er dies tat, lässt sich leider nicht mehr ergründen, aber ich glaube heute noch fest daran, er wollte sich so für den größten Unfug, den er jemals seiner Frau angetan hatte, revanchieren. In der Zeit, als es ihnen nämlich in den frühen 60er Jahren noch schlecht ging und er kein Geld hatte, ihr etwas Schönes zu kaufen, wickelte er einmal ein schmales Brikett so geschickt in Geschenkpapier ein, dass es wie eine Tafel Blockschokolade aussah. Da er wusste, dass dies damals ihre Lieblingsschokolade war, legte er ihr das Päckchen frühmorgens auf das Kopfkissen und ging arbeiten. Als die junge Frau dies sah, floss sie dahin und himmelte ihren Gatterich für ein paar Augenblicke richtig seelenzufrieden an. Das änderte sich von einer zur anderen Sekunde, als sie die vermeintliche Blockschokolade in der Hand hielt. Das Loch in der Tür soll noch lange zu sehen gewesen sein!
Von dieser Zeit an waren seine Geschenke aber immer echte Überraschungen.
Weihnachten 1966 stand vor der Tür und ich war bei Schwager und Schwester zum Fest eingeladen. Mein Schwager war schon mehrere Tage zuvor allein in der Wohnung, um - wie er sagte - den kleinen Weihnachtsbaum
zu schmücken und die Geschenke einzupacken. Er ließ alle im Glauben, dass er die Zeit brauche, weil er so ungeschickt sei. Die Gute Stube
blieb, wie wir das seit eh bei den Großeltern erlebt hatten, bis zum 24. Dezember nachmittags verschlossen. Keiner durfte auch nur einen Blick reinwerfen. Als dann wunderschöne Weihnachtsmusik in ziemlicher Lautstärke von innen erklang, durfte erst meine Schwester allein und dann das Gefolge, ein befreundetes Ehepaar und ich, eintreten.
Was wir dort sahen, verschlug uns für einen Moment die Sprache: auf der linken Seite stand der alte Zuschneidetisch meiner Großmutter, also eine Platte von ca. 2 qm auf Böcken mit einer roten Filzdecke verhangen, auf der weihnachtliche Motive waren und darauf lagen Dutzende von wunderschön eingepackten Weihnachtsgeschenken in allen Größen. Auch neben dem Tisch stapelten sich weitere weihnachtliche Pakete in allen Variationen. Diese Geschenke waren ausnahmslos für seine Frau ausgesucht und aufgebaut. Ein Kind hätte nicht überraschter sein können als meine Schwester, man sah ihr dies an den strahlenden Augen an.
Aber fast noch verrückter war der Weihnachtsbaum! Ich weiß nicht, wo der Schwager dieses Monstrum aufgetrieben hatte, bei normalen Händlern konnte man so etwas sicher nicht bekommen. Der Baum reichte vom Fußboden bis zur Decke!
Nun muss man wissen, dass die Altbauten in Berlin Deckenhöhen von 3,80 m bis 4,30 m haben, ich meine, dass wir beim Tapezieren einmal bis zur rundum laufenden Stuckatur 3,80 m ausgemessen hatten, die lichte Höhe lag etwa bei 4,00 m. Diese Höhe nahm auch der Weihnachtsbaum ein! Und er war von oben bis unten mit Kugeln, Lichterketten, Lametta und allerlei schönen Sachen behängt, die nach meiner Meinung eigentlich zu Weihnachten um die Jahrhundertwende gehörten! Wo er das alles aufgetrieben hatte, weiß der Kuckuck. Es war überwältigend. Die unteren Ausleger nahmen soviel Platz ein, dass man Mühe hatte, zur Balkontür zu gelangen.
Dass man ein solches Monstrum nicht so ohne weiteres aufstellen kann, wurde mir erst später klar, daher fragte ich den Schwager, wie er denn dies vollbracht hätte. Und so erfuhr ich, dass er den Baum im wahrsten Sinne des Wortes festgenagelt hatte. Er hatte sich ein paar Dachlatten und einen Fuchsschwanz besorgt, die Latten zurechtgeschnitten und diese Mammutrutsche einfach in den Fußboden genagelt! Die alten Häuser hatten damals keinen schwimmenden Estrich oder etwas Ähnliches, zwischen den einzelnen Stockwerken waren dicke Balken eingezogen und darauf lagen Dielen, die mit Nut und Feder verlegt waren. Viele dieser Dielen knarrten natürlich fürchterlich, aber man kannte diese Stellen, deshalb war das halb so schlimm. Knarrte es zu sehr, wurde auch schon mal in Eigenhilfe ein Zimmermannsnagel eingeschlagen.
Mit solchen Nägeln war also der größte Weihnachtsbaum, den ich je in einer Privatwohnung gesehen hatte befestigt. Umfallen konnte der jedenfalls nicht!