Der letzte Alarm
Es war eine denkwürdige Zeit, Ende des zweiten Weltkrieges um Ostern 1945, in Gelsenkirchen-Horst. Dort hatten wir, das heißt, meine Mutter, meine kleine Schwester Doris und ich zusammen mit einigen Tanten von mir bei den Eltern meiner Mutter Unterschlupf gefunden, nachdem im Januar 1945 unsere Wohnung im ca. 27 Kilometer entfernten Bochum-Werne zerstört worden war. Dieser Ort liegt mitten im Ruhrgebiet, im Kohlenpott
, wo Deutschlands geballte Schwerindustrie von Kohle, Stahl und Chemie zu Hause ist, damals ein Zentrum der Kriegswirtschaft und somit ein primäres Dauerziel der alliierten Luftwaffe.
Vor seiner wechselvollen Eingemeindung hieß das selbständige Städtchen Horst-Emscher, weil es an dem Fluss Emscher liegt. Kurz nach dem Krieg spielte sein bekanntester Fußballverein, der MTV Horst-Emscher, in der Fußballwelt Emscherhusaren
genannt, mehrere Jahre lang in der Oberliga West, in der wohl spielstärksten der damals vier höchsten Spielklassen der Trizone und späteren Bundesrepublik Deutschland. Seine erste Mannschaft glänzte durch Zusammenhalt und technische Brillianz, spielte 1950 um die deutsche Meisterschaft und war in jener Zeit erfolgreicher als die Knappen
vom FC Schalke 04, deren damalige Glück-Auf-Kampfbahn
ganz in der Nähe lag. Die Husaren
stellten sogar mehrere Nationalspieler, ich erinnere zum Beispiel nur an den dribbelstarken Flügelflitzer und Weltmeister von 1954 Berni Klodt, den treffsicheren Mittelstürmer Fredy Kelbassa und den Zerberus im Fußballtor Heinz Flotho. Leider war es damals schon wie heute: die besten Spieler wurden von reicheren Vereinen regelmäßig weggelockt, vor allem von den sportlichen Erzfeinden Schalke 04 und Borussia Dortmund, und damit begann der Abstieg. - Aber Horst hatte sportlich noch einiges mehr zu bieten, zum Beispiel die berühmte Galopprennbahn, ein Mekka für Pferdefreunde und Zocker. Doch davon mehr in meiner Geschichte Hammelsprünge
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Nach dem Einmarsch der Amerikaner …Klick hier ….
Zurück zu 1945. Gründonnerstagabend zogen sich die traurigen Reste deutscher Truppen im Schutz der Dunkelheit zurück, zum Teil mit Pferd und Wagen - unglaublich. Ich hatte vergeblich gehofft, einige Panzer der mächtigsten Klasse, Tiger
oder gar Königstiger
, in natura zu Gesicht zu bekommen, die man uns immer in den Wochenschauen zeigte. Mit pathetischem Stolz war uns verkündet worden, sie besäßen die stärkste Panzerung weltweit und seien bei den Feinden als nahezu unbezwingbar gefürchtet. Wahrscheinlich stimmte es. Aber aus deutscher Sicht gab es viel zu wenig davon. Jener Anblick damals erinnerte mich an das bekannte Gemälde, auf dem Napoleons geschlagenes Heer auf dem Rückzug aus dem brennenden Moskau und winterlichen Russland zu sehen ist. Dazu habe ich noch von irgendwoher einen Text im Ohr: Mit Mann und Ross und Wagen hat sie der Herr geschlagen …
- Beinahe gespenstische Stille herrschte. Nur von ferne grollte hin und wieder Kanonendonner. Jeder wusste nun, was die Stunde geschlagen hatte, und mich Zwölfjährigen befielen - wie viele andere in meiner Generation auch - unterschiedliche Gefühle:
Einerseits ein Gefühl von Untergang. Dauernd sind unsere Soldaten auf dem Rückzug. Offensichtlich ist der Krieg verloren. Der uns mit riesigem propagandistischem Aufwand eingehämmerte Glaube an den Endsieg entpuppt sich als schrecklicher Irrglaube. Wo bleibt die vom Führer
versprochene Wunderwaffe? Eine hohle Phrase! Was werden die siegreichen Feinde mit uns machen?
Andererseits griff ein Gefühl der Erleichterung um sich mit der Aussicht: Endlich keine Fliegerangriffe mehr, keine Lebensgefahr mehr, ausgezogen im Bett durchschlafen können. Wie oft habe ich nachts im stickigen Bunker, beim spärlichen Licht der elektrischen Notbeleuchtung oder funzeliger Hindenburgkerzen
die Erwachsenen seufzen hören: Ich will mein Leben lang lieber trockenes Brot essen, als dauernd diese Luftangriffe ertragen und wie ein gejagter Hase in den Bunker rennen müssen.
Sie sprachen mir aus dem Herzen, wenn ich an meine eigene Situation dachte: Hunderte Mal im Dauerlauf oder Sprint mit dem Nötigsten im Handgepäck, den Kinderwagen mit der kleinen, vierjährigen Doris schiebend, die herzkranke Mutter an der Seite, die oft stehen bleiben musste und vor Schmerzen und Luftnot ihre Hände auf der Brust verkrampfte. Dabei verloren wir wertvolle Sekunden. Das tiefe und bedrohliche Brummen der Bombermotoren schon im Ohr zappelte ich auf der Stelle und flehte Mutti an, doch bald weiterzulaufen. In die Luftschutzkeller stiegen wir nicht mehr hinab, weil sie infolge der enorm gesteigerten Vernichtungskraft der Bomben und Luftminen kaum Schutz boten.
In dieser Gründonnerstagnacht heulten die Sirenen zum letzten Bombenalarm, aber es gab danach keine Entwarnung mehr. Wahrscheinlich war der deutsche Befehlsstand inzwischen erobert worden. Für Tiefflieger wurde schon lange kein Alarm mehr ausgelöst, denn sie konnten immer und überall urplötzlich mit grässlichem Heulen über die Dächer fegen. Wir schliefen — wie schon seit vielen Wochen und Monaten — im überfüllten und verwanzten Hochbunker auf harten Holzbänken im Sitzen. Wer eine der wenigen Holzliegepritschen erobert hatte, war gut dran. Leider standen die Pritschen im obersten Stockwerk. Dort waren die Einschläge und Explosionen der Bomben trotz der meterdicken Stahlbetondecke und -wände unerträglich laut zu hören sowie das Schwanken und das Auf- und Niederwippen des Bunkers allzu deutlich zu spüren. Weil die Bombergeschwader bekanntlich keine Einzelbomben, sondern dichte Bombenteppiche abwarfen, verhielt sich der Hochbunker - das Leben rettende Bauwerk und unsere einzige Sicherheit- zeitweise wie ein Schiff im Sturm auf hoher See, nur mit viel schnelleren Bewegungen.
Am nächsten Morgen, es war Karfreitag, der 30. März, lief die Parole durch den Bunker: Sie kommen!
Aber die bange Frage stand im Raum, wer sind sie
. Amerikaner, Briten, Franzosen oder gar Russen? Wir vermuteten und hofften, dass es Amerikaner sind. Aber sicher war gar nichts. Dennoch stand den meisten Leuten zaghafte Hoffnung ins Gesicht geschrieben in der Erwartung auf ein Ende des Krieges - wie auch immer. Natürlich drängelte ich mich trotz mütterlicher Mahnung zum Bunkerausgang, der mit einer schweren, stählernen Tür, die sogar gasdicht sein sollte, verschlossen war. Dort stand der Bunkerwart und ließ niemanden hinaus. Er selbst musste jedoch die Lage beobachten und hielt deshalb die Tür einen kleinen Spalt offen. Immer lauter werdendes Motorengeräusch dröhnte herein. Von Neugier getrieben, schlich ich mich hinter seinem Rücken heran und spähte hinaus. Da sah ich Panzer auf Panzer mit aufgemaltem, weißem Stern, also Amerikaner, langsam und vorsichtig auf der Straße heranfahren. Vor dem Bunker stoppte der erste Tank und schwenkte seinen Turm ein bisschen. Mein Herz schlug bis zum Hals. Hat der uns gesehen und will auf uns schießen, dachte ich. Doch der Turmdeckel wurde aufgeklappt. Aus dem Inneren erfasste eine schwarze Hand den Turmrand, dann noch eine schwarze Hand, und im selben Augenblick schob sich ein schwarzes Gesicht aus dem stählernen Koloss. Es war der erste Neger, den ich in meinem Leben leibhaftig gesehen hatte. Bald folgten viele. Auffällig war, dass das Fahrpersonal weit überwiegend aus Schwarzen bestand. Man sagte, sie hätten ein besseres Gefühl für Fahrzeuge als Weiße. - Ich muss erklären, dass damals in meiner Umgebung das Wort Neger
im Gegensatz zu Nigger
keinen abfälligen oder gar rassistischen Klang hatte, sondern ganz neutral bedeutete: (Kräftiger) Mensch mit schwarzer Hautfarbe. — Für mich gilt das heute noch.
Schnell trug ich die neue Kunde zu meinen Angehörigen. Aufatmend sagten alle: Gott sei Dank keine Russen. Die Amerikaner werden uns wohl nichts tun, vor allem nicht die Neger.
Tatsächlich hielten die allermeisten von uns die Schwarzen für die moralisch besseren Menschen. Ob es wohl auch an dem sehr bekannten Buch Onkel Toms Hütte
lag, das viele gelesen hatten? Vielleicht.
Ein bis zwei Tage lang durften wir Zivilisten den Bunker nicht verlassen. Die amerikanischen Soldaten durchkämmten vorsichtig und langsam den Ort nach deutschen Truppen, fanden aber keine mehr. Der gefürchtete Häuserkampf blieb allen erspart. Sie beschlagnahmten die wenigen einigermaßen intakten Häuser und Wohnungen für sich selbst. Die Wohnung meiner Großeltern verschmähten sie. Verständlich, denn eine Haushälfte war durch einen Volltreffer völlig zerstört. In der noch stehenden Hälfte klafften breite Risse in den Wänden. Die Fenster hatten keine Glasscheiben mehr, sondern durchscheinendes Cellophanpapier; oder sie waren mit Brettern vernagelt. An einigen Stellen tropfte es bei Regen durch die Decke, weil die Dachpfannen größtenteils fehlten. Aber wir waren froh, eigene vier Wände zu besitzen.
Wenn die Besatzer die beschlagnahmten Wohnungen nach Tagen oder Wochen wieder zurückgegeben hatten, hinterließen manche Soldaten tadellos saubere Räume mit ordentlich behandeltem Inventar, manche aber ein Chaos, — manche leider auch tödliche Andenken
. Ein Cousin meiner Mutter fand nämlich in der ehemals besetzten elterlichen Wohnung unter dem Sofa eine vergessene (?) Eierhandgranate. Dieses Ding kannte der 14jährige nicht, weil er bei deutschen Soldaten nur Stielhandgranaten gesehen hatte. Er untersuchte das unbekannte Etwas mit der rätselhaften Schnur. Das war dann auch seine letzte Handlung in seinem jungen Leben. Leider kein Einzelfall.
Zu Ostern durfte die Bevölkerung in die nicht beschlagnahmten Wohnungen gehen, falls sie noch bewohnbar waren. Seitdem habe ich nie wieder einen Bunker betreten. Obwohl ich diesen gewaltigen Klötzen aus Stahlbeton bestimmt viele Male mein Leben verdanke, würde ich darin zu stark an die Angstschreie, Flüche und Gebete — je nach innerem Strickmuster der einzelnen Menschen — erinnert werden.
Das Leben begann, sich schüchtern zu normalisieren. Endlich kein Rennen in den Bunker mehr. Endlich nachts im Bett ohne Oberkleidung durchschlafen dürfen, ein Bad in der Zinkwanne nehmen können, keine Bomber und Tiefflieger mehr fürchten müssen. Zwar jaulten noch die Jabos (Jagdbomber) am Himmel, aber sie beharkten
in einigen Kilometern Entfernung die schwachen Verteidigungsstellungen der deutschen Wehrmacht jenseits des Rhein-Herne-Kanals. Eigentlich bestanden sie nur aus vereinzelten MG-Nestern, besetzt mit 14-16jährigen Jungen. Die Flieger spielten gefahrlos sozusagen Schiffe versenken
, indem sie alles Schwimmbare, jedes Binnenschiff, jeden Kahn, jedes Ruderboot aus der Luft mit Bomben und Bordwaffen auf den Kanalgrund schickten. Von einer deutschen Fliegerabwehr hatten wir schon lange nichts mehr gehört und gesehen. - Dort stand also die Front etwa 14 Tage, weil die deutschen Truppen auf ihrem Rückzug alle Brücken über den Kanal und über die parallel zu ihm fließende Emscher gesprengt hatten. Es dauerte einige Zeit, bis die amerikanischen Pioniere mit den Behelfsbrücken fertig waren.
Die Emscher ist ein 98 km langer Nebenfluss des Rheins. Sie durchfließt das hochindustrialisierte Ruhrgebiet, ist ziemlich breit, aber nicht schiffbar, deshalb hatte man zu Beginn des Industriezeitalters den Kanal gebaut. Der Fluss wurde kanalisiert und als Industriekloake benutzt (missbraucht würde man heute sagen). In seinem eklig stinkenden, schwarzen Wasser konnte damals kein Lebewesen existieren. Mich erfasste immer ein Schauder, wenn wir seine Fluten, auf denen riesigen Ölflecken in allen Regenbogenfarben schwammen, über eine Brücke passieren mussten. Ein Mensch, der dort hineinfiel, war dem Tod durch Vergiftung geweiht. Doch ein Unrechtsbewusstsein gegenüber der Umwelt im heutigen Sinne war damals nicht erkennbar, vielleicht ein leichtes Bedauern. Was sollte man auch mit der gewaltigen Menge an industriellem Abwasser tun? Die heutige, hochentwickelte Klärtechnik war noch nicht erfunden. Die Schwerindustrie und die Chemiewerke gaben Millionen Menschen Arbeit und Brot, dafür nahmen sie manche Nachteile in Kauf.
Am Kanal kämpften die Amerikaner sozusagen im Schichtbetrieb. In Ihrer Freizeit kamen Soldaten in unsere Häuser und suchten Hitlerbilder, etwas dezenter Alkohol und Fräuleins
— genau in dieser Reihenfolge. Über den ersten Wunsch
konnten wir nur schmunzeln und staunen, denn diese Bilder hatten für uns überhaupt keinen Wert. Aber die Soldaten waren scharf darauf, wahrscheinlich handelten sie auf Befehl. Inzwischen wurde Hitler spöttisch Gröfaz
genannt, Abkürzung für größter Feldherr aller Zeiten
. Über die anderen beiden Wünsche.......na ja, es waren eben Soldaten. Die Verhandlungen über den dritten Wunsch überließen sie einem jungen Deutschen, einem ortskundigen, schmierigen Typ, der meistens mit Schokolade, Kaugummi, Zigaretten und Damenstrümpfen sein Ziel erreichte.
Viele Kinder trauten sich, die Amerikaner um Schokolade und vor allem um Kaugummi, den wir vorher überhaupt nicht kannten, anzubetteln. Mit Respekt muss ich sagen, dass die Soldaten in der ersten Zeit sehr freigiebig waren.
Es kam auch in jenen Tagen vor, dass Soldaten einfach nur zur Abwechslung und aus Wissbegierde eine Stunde oder zwei bei einer deutschen Familie verbringen wollten, besonders diejenigen, die deutsche Vorfahren hatten. Auch wir bekamen einige Male solche Besucher, die vorher ganz manierlich anfragten. Sie stellten ihre Gewehre im Flur ab — aber immer in Sichtweite - brachten dann für heutige Verhältnisse geringfügige Kleinigkeiten mit, wie z.B. eine Wachskerze oder eine Dose Büchsenfleisch. Für uns waren es damals Kostbarkeiten. Die Soldaten erkundigten sich danach, wie wir so leben und erzählten auch von ihrer fernen Heimat und mitunter auch von ihrem Heimweh. Ich hatte in der Schule ein Jahr Englischunterricht gehabt und musste in solchen Fällen dolmetschen. Da ich aber inzwischen fast ein Jahr kriegsbedingt keinen Unterricht mehr genossen hatte, gelang mir dieses Geschäft
mit dem Englisch, das die Amerikaner sprachen, leider nur auf der untersten Konversationsebene, aber es gelang irgendwie.
Doch eines Tages nahm unsere Gastfreundlichkeit ein gefährliches Ende. Das kam so. Wir hatten wieder Besuch. Einer der fünf oder sechs Soldaten, ein Weißer, noch ziemlich jung und fast schmächtig, guckte während der Unterhaltung zufällig auf meine schwarze Skimütze, die am Kleiderhaken hing. Diese Art Mütze war damals die gängige Kopfbedeckung für Jungen. Sie hieß auch Jungvolkmütze, und zwar deshalb, weil sie vorne eine kleine, aufgenähte Raute mit einem Hakenkreuz trug. Sie gehörte zur schwarzen Winteruniform des Jungvolks und der HJ. Man konnte sie aber auch als Einzelstück kaufen. Skimützen ohne Raute waren bei uns nicht zu bekommen. Diese Raute hatte meine Mutter rechtzeitig vor der Besetzung sorgfältig herausgetrennt, aber ein schwacher Abdruck blieb. Ausgerechnet das entdeckte dieser Soldat und zischte hasserfüllt: You are SS-man.
Ich verneinte es postwendend und wies darauf hin, dass ich mit meinen 12 Jahren noch viel zu jung für die SS und überhaupt für die Wehrmacht sei. Ob dieser Amerikaner besonders schlimme Erfahrungen mit der SS gemacht hatte oder ob Alkoholgenuss sein Bewusstsein trübte oder ob noch andere Gründe vorlagen, weiß ich nicht. Jedenfalls ließ er sich nicht von seiner Meinung abbringen, zog blitzschnell einen silberblanken Revolver und zielte auf mich. Es war keine übliche Waffe der Streitkräfte, sondern ein sog. Tesching, eine private Schusswaffe. Dabei stieß er im amerikanischen Slang hastig etwas hervor, das ich kaum verstand, aber mir den Eindruck vermittelte, dass es um mich geschehen sei. Für mich war das absolut glaubhaft, denn wir befanden uns im Frontgebiet, Deutschland hatte noch nicht kapituliert, es herrschte Kriegsrecht, und die (für uns unverständliche) Angst der Amerikaner vor der Organisation Werwolf war deutlich zu spüren.
Meine eigenen Gedanken in dieser Situation, die ja viel, viel schneller ablief, als sie mit Worten zu schildern ist, haben mich am meisten überrascht. Ich dachte nämlich: Wenn ich nun sterben muss, dann Gott sei Dank nicht diesen unehrenhaften, anonymen Tod durch mechanisch abgeworfene Bomben oder verschossene Granaten, die mich zufällig treffen, so wie man Ungeziefer vernichtet, sondern durch einen gezielten Schuss eines Kriegers, der mich als ebenbürtigen Krieger anerkennt, Auge in Auge mit dem Feind, Mann gegen Mann, eine ehrliche Sache, wenn auch hier auf einem Missverständnis beruhend. Nichts sehnlicher wünschte ich mir in diesem Augenblick, als ebenfalls eine Waffe in der Hand zu haben. Mir schossen dabei die uns eingehämmerten Heldenphantasien und die stereotyp überall offiziell geäußerten Sprüche vom Heldentod für Führer, Volk und Vaterland und von der Aufnahme in die Reihe der Heldenahnen durch den Kopf; alles das, was ich im Jungvolk beim nationalpolitischen Unterricht immer und immer wieder gehört hatte, meistens ohne zu wissen, was es konkret bedeutet. Aber ich hatte die Hoffnung, dort im vorgegaukelten (nebulösen) Walhalla meinen Vater und meinen Onkel, die beide vor wenigen Monaten gefallen waren, als Held unter Helden wiederzusehen. In diesem Moment hatte ich wirklich keine Angst vor diesem Tod. (Jahre später wurde mir so richtig bewusst, welche Macht und Verantwortung diejenigen besitzen, die junge Menschen erziehen. Kinder lernen leicht, behalten <fast> alles ihr Leben lang, was sie lernen, egal, ob es gut oder böse ist, weil sie noch nicht oder nicht gut genug werten und differenzieren können und den Erziehern vertrauen. Auch ideologisches Gift können sie nicht vergessen, selbst wenn sie sich später längst davon distanziert haben, so wie ich.)
Nun zurück zu der damaligen Situation. Gleichzeitig hatte ich aber auch das sichere Gefühl, dass ich irgendwie aus dieser tödlichen Bedrohung lebend herauskommen werde. Ich war ja damals wieselflink und überlegte, soll ich ihn auf 1-2 m Entfernung mit einer Hechtrolle anspringen, wie ich es bei den Pimpfen gelernt hatte, und ihm den Revolver entreißen, oder ist es besser, blitzschnell unter dem Tisch abzutauchen und im Gewühl zu verschwinden. Aber dann wären noch immer die anderen Soldaten da, die ihrem Kameraden helfen würden. Doch Rettung kam unerwartet von anderer Seite. Meine Mutter und meine Tanten sprangen schreiend auf und flehten den Amerikaner an, mir nichts anzutun. Doch Tante Hilde, schon immer die kräftigste und resoluteste von allen, 29 Jahre alt und im 6. Monat schwanger, baute sich in voller Lebensgröße wie eine leibhaftige Walküre vor ihm auf, die Fäuste in die Seiten gestemmt, und kanzelte ihn mit ihrer klaren, hellen Stimme ab: In unserer Wohnung wird nicht geschossen! Tun Sie sofort das Ding da weg und machen sie, dass Sie rauskommen, Sie gemeiner Kerl!
Ihr Zeigefinger wies unmissverständlich auf den Revolver und dann auf die Tür. Der übereifrige SS-Jäger
verstand sicher nicht ihre Worte, aber bestimmt ihre Körpersprache. Dadurch war er Gott sei Dank etwas abgelenkt. Seine Kameraden, die erkannt hatten, dass sein Verdacht stark übertrieben und sein Verhalten unangemessen waren, fielen ihm in den Arm, beruhigten ihn, nahmen ihre Gewehre und führten ihn aus dem Haus. — Für die nächste Zeit lehnten wir verständlicherweise Besuchswünsche dankend ab.
Für alle Deutschen verhängte die Militärregierung ab sofort bis in den Sommer hinein eine tägliche Ausgangssperre von abends bis morgens und ließ die Einhaltung rigoros kontrollieren. Die patrouillierenden Soldaten hatten Befehl, während der Sperrzeit aus ihren schnellen Jeeps ohne Warnung auf jeden scharf zu schießen, der keine alliierte Uniform trug. Ganz in der Nähe erwischten sie an hellen Frühlingsabenden zwei Nachbarn auf dem Weg zum Klo. Ich muss dazu erklären, dass es in den einfachen Siedlungshäusern für das große Heer von Bergleuten und Fabrikarbeitern keine Toiletten gab. Diese stillen Örtchen
wurden als Plumpsklos in den Kleinviehstallungen am Ende des Hofs eingebaut. Wenn jemand dort sein Geschäft
erledigen wollte, musste er den Hof überqueren, der keinen Sichtschutz bot. Auf diesem Weg trafen die Kugeln einer Patrouille unsere armen Nachbarn. Sie waren sofort mausetot. Wem also sein Leben lieb war, verrichtete während der Sperrstunden seine Notdurft in der Wohnung auf dem Eimer.
Von nennenswerten Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung ohne Befehl der Militärregierung habe ich nichts gehört. Innerhalb der amerikanischen Einheiten sorgte eine ruppige und schlagkräftige Militärpolizei für Ordnung und Disziplin. Mit ihren wendigen Jeeps, weißen Helmen, weißen Koppeln und Schulterriemen und vor allem mit ihren sehr locker sitzenden Gummiknüppeln verschafften sie sich blitzschnell und nachhaltig Respekt. Leider schützte die Militärpolizei die Zivilbevölkerung nicht vor zivilen Übeltätern. Vor Dieben, Einbrechern, Räubern und noch schlimmeren Verbrechern waren wir total ungeschützt und mussten uns gegen sie selbst wehren.
Die ersten deutschen Ordnungskräfte wurden viele Wochen später eingesetzt — anfangs ohne Uniform, nur mit Ausweis, Aktentasche und Fahrrad bewaffnet
. Von Staatsmacht de facto keine Spur. Unser Hauptanliegen war damals: Wie komme ich an meine nächste Mahlzeit. Die Wege dahin waren äußerst mühselig, manche erwiesen sich leider als Holzwege. Über einen erfolgreichen Weg berichte ich in meiner nächsten Geschichte Hammelsprünge
.
Übrigens: Die letzte Entwarnung ist bis heute unterblieben. Ich denke, das ist gut so. Wir sollen unser Leben lang im Alarmzustand und wachsam bleiben.