Vorsicht! Baby an Bord !
Ein Baby muss man ganz vorsichtig behandeln wie ein rohes Ei. Es ist ja noch so zart und empfindlich
, schärfte Mutti mir ein, nachdem meine Schwester Doris geboren worden war.
Ich hatte als siebenjähriges Einzelkind kaum Erfahrungen mit Säuglingen sammeln können, außer dass diese Winzlinge vorwiegend von Frauen - oft von wildfremden - mit neugierigen und entzückten Augen beguckt und mit merkwürdig kindischen Sätzen wie: Ja, wo bist du denn?
Oder Da,da,da
angelächelt und manchmal dabei mit dem Zeigefinger am Brustwickel zart gekitzelt wurden. Auch war mir aufgefallen, dass diese kleinen Menschenbündel entweder schlafen, schreien oder trinken - und dauernd Stoffwindeln verschmutzen, die ihre Mütter in einem Topf auf dem Küchenherd auskochen. Das ergab einen ganz charakteristischen Geruch in den Wohnungen. Einwegwindeln waren noch nicht erfunden.
Muttis Belehrungen merkte ich mir gewissenhaft, denn ich wollte ein guter, zuverlässiger Bruder sein und war froh, endlich wie andere Kinder auch ein Geschwisterlein zu haben.
Wenige Wochen nach Doris' Geburt zogen wir um vom Ortsteil Langendreer-Dorf nach Langendreer-Wilhelmshöhe, Everstalstraße 30. Dort stand inmitten eines Parks ein evangelisches Gemeindehaus, das meine Eltern bewirtschafteten. Dieses Gebäude war das letzte in der Everstalstraße, die dort als Asphaltstraße zu existieren aufhörte. Sie ging über in einen schmalen, unbefestigten und holprigen Feldweg, der an vielen Äckern und Feldern vorbei zur Ortschaft Somborn führte. Diese Übergangsstelle war meistens sumpfig oder sogar überschwemmt, weil die Everstalstraße nach dorthin teilweise erhebliches Gefälle aufweist und damals keine Kanalisation für das Regenwasser besaß. Diese Tatsache wird gleich in der weiteren Geschichte eine besondere Bedeutung bekommen. Heute ist das alte Gemeindehaus abgerissen, und das gesamte freie Gebiet drum herum wurde erschlossen und bebaut.
Das Gemeindehaus mit seinem Park verlangte meinen Eltern intensive Arbeit ab. Es gab sehr unterschiedliche Veranstaltungen, die jeweils besondere Einrichtungen im Saal und auf der Bühne erforderten. Tische und Stühle mussten gerückt werden. Statt einer zentralen Warmwasserheizung hatte jeder Raum einen Ofen. Kohlen- und Ascheschleppen war angesagt. Da Vati 12 Stunden im Werk an der Drehbank stehen musste - der Krieg ging schon ins zweite Jahr - blieb das meiste an Mutti hängen. Ich half ihr, so gut ich es mit meinen schwachen Kräften neben der Schule konnte. Hauptsächlich fuhr ich die kleine Doris nachmittags stundenlang im Kinderwagen aus, denn mit zunehmendem Alter
schlief sie tagsüber immer weniger und schrie dann. Aber wenn sie gefahren, geschaukelt oder getragen wurde, war sie still und betrachtete mit großen Augen die Umgebung.
Was geht wohl im Kopf eines siebenjährigen Jungen vor sich, wenn er einerseits mit einer sehr sinnvollen Aufgabe, nämlich ein süßes und hilfloses Baby zu betreuen, beauftragt wurde, aber andererseits deren Ausführung ihm mit der Zeit recht monoton und langweilig vorkommt? Besonders, wenn er den anderen Kindern bei den schönsten Spielen im Park und auf der Straße nur zugucken darf.
Richtig! Liebe Leserin, lieber Leser. Er kommt auf dumme Gedanken. — So auch ich. Wenn ich schon den Kinderwagen die Straße rauf und runter fahren muss
, sagte ich mir, warum dann nur im Schritttempo? Warum bergab nicht schneller?
Das Straßengefälle macht es möglich. Warum soll ich mir den Spaß nicht gönnen und auf dem Wagen mitfahren? Doris freut sich bestimmt auch darüber
.
Gedacht, getan.
Ich schob also den Kinderwagen die Straße hinauf, drehte ihn um, schob ihn an und sprang mit den Knien auf die Hinterkante unterhalb der Schiebestange. Der Wagen rollte prima den glatten Asphalt hinunter. Doris gefiel es wohl auch, denn sie lächelte mich, der da sozusagen außenbords vor ihr hockte, an. Doch ich erkannte auch die Gefahr. Sie steckte in der immer schneller werdenden Fahrt, und unten lauerte der Sumpf. Bremsen besaß der Kinderwagen nicht. Also musste ich rechtzeitig abspringen, solange ich noch mittrippeln und ihn anhalten konnte. Das tat ich mehrmals. Aber es machte mir keinen richtigen Spaß, weil ich die maximal mögliche Geschwindigkeit nicht auskosten konnte.
Mir ging folgendes durch den linksgescheitelten Kopf; nach landläufiger Meinung war ja der rechte Scheitel dem Führer, sowie Strebern und Angebern vorbehalten: Warum abspringen und die schöne Geschwindigkeit abbrechen. Warum nicht bis ans Ende der Straße und dann in einer rasanten Linkskurve von 180 Grad in entgegen gesetzter Richtung — den Schwung ausnutzend — ein Stückchen bergauf fahren. So machen es größere Jungen auf ihren selbst gebastelten Seifenkisten. Dass der Kinderwagen keine drehbare Vorderachse, hat, ist ein Manko, aber durch geschickte Gewichtsverlagerung kriegst du das schon hin
. Dachte ich mir.
Das nebenstehende Foto aus dem Jahr 1941 zeigt mich mit meinem Schwesterchen, das an diesem Tag ein Jahr alt geworden ist. Wie auch unschwer zu erkennen ist, wurde mein Vorhaben durch die seiner Zeit moderne Konstruktion des Kinderwagens begünstigt: kleine Räder, tiefe Lage und dadurch tiefer Schwerpunkt. Wenn die Radlager quietschten, wurden sie mit Margarine geschmiert. Butter war sehr rar, und Wagenschmiere gab es nur für die Räder
, die für den Sieg rollen mussten
. Meine Mutter hatte das Fahrzeug
von einer bekannten Frau gebraucht gekauft und es für 50 Reichsmark, wenn ich mich korrekt erinnere, weiterveräußert. Doris konnte dann schon laufen und stieg in einen - ebenfalls gebrauchten — Kindersportwagen um. Das war damals so üblich, denn die wenigsten Arbeiterfamilien konnten sich einen teuren Neuen leisten. Außerdem wurde die Kinderwagenproduktion kriegsbedingt stark gedrosselt.
Ich probierte also meine neu erdachte Fahrweise aus, erst ganz vorsichtig, dann immer forscher, und es klappte. Ein Riesenspaß! Aber ich steuerte auch unbekümmert auf ein Ereignis zu, das sogar jedem Rennfahrer einmal in seiner Rennmaschine passieren kann. — Sie ahnen sicher schon etwas.
Im Geschwindigkeitsrausch hatte ich eines Nachmittags mein Gewicht in der Kurve zu weit nach innen verlegt. Die Schieflage brachte den Kinderwagen zum Kippen. Ich sprang ab, versuchte das Schlimmste zu verhindern. Es nützte nichts mehr. Der Wagen rutschte auf der Seite mit einem unmelodischen Krrrrrr …
ein Stückchen den Asphalt entlang, bis er zum Stillstand kam. Nur die Räder drehten sich noch in der Luft. — Totenstille. Ich erwartete Geschrei. Aber kein Laut drang aus dem Kinderwagen. Mich überfiel die schreckliche Vorstellung, das zarte Wesen darin könnte den Sturz nicht überlebt haben. Ich beugte mich zum Wagen hinab — und ein Riesenstein fiel mir vom Herzen. Die Kleine lag unversehrt in ihren Kissen und guckte ganz normal, wie Säuglinge eben so gucken. Der Wagen war nämlich mit seiner Öffnung zum Kurveninneren gekippt, und so hatte die Fliehkraft seinen Inhalt - Baby und Kissen — in den Wagen gedrückt und nicht aus ihm heraus. — Dem physikalischen Gesetz sei Dank.
Aber jetzt stürmte eine neue Gefahr in Person meines Vaters auf mich zu. Er hatte im Hintergarten gearbeitet und zufällig die Unfallszene gesehen. In dem Glauben, unserem Nesthäkchen, das er so liebte (wie wir alle), wäre durch meinen Ungehorsam und Leichtsinn etwas Schlimmes zugestoßen, sprang er in seinen Arbeitsholzschuhen über den Zaun, rannte zur Straße und brüllte: Ich h … den Bengel, wenn der Kleinen was passiert ist!
Meine Mutter und meine Tante waren etwas eher zur Stelle, hatten sich bereits von Doris' Unversehrtheit überzeugt und stellten sich dem tobenden Mann in den Weg, damit mir nichts passiert. So außer sich vor Rage hatte ich Vati vorher und auch hinterher nicht erlebt. Er war sonst herzensgut. — Angesichts des guten Ausgangs des Unfalls wurde er bald ruhig und hat mir keine Tracht Prügel verabreicht. Aber er hielt mir eine kernige Strafpredigt und verbot mir strikt diese wilde Fahrerei.
Diesen Vorfall nahm ich mir sehr zu Herzen und zog meine Lehren daraus:
1. Fortan feilte ich sorgfältig an meiner Kurventechnik bis zur Perfektion,
2. passte ich scharf auf, dass mich Mutti oder Vati nicht bei meinen Fahrten sehen konnten.