Nur Fliegen ist schöner
Je schneller, desto besser. Jedes Beförderungsmittel war mir recht, damals im Alter von sieben bis neun Jahren. Die Geschwindigkeit zu spüren, darauf war ich ganz versessen. Sogar der Kinderwagen meiner kleinen Schwester war davor nicht sicher, nachzulesen in meiner Geschichte Vorsicht! Baby an Bord!
Es tobte der zweite Weltkrieg. Was ich von diesem blutigen Geschehen unmittelbar zu sehen bekam, waren die fast täglichen Luftkämpfe. Vorsichtig, aber auch sehnsüchtig spähte ich aus dem Luftschutzkeller in den als Schlachtfeld missbrauchten Himmel und wünschte mir nichts lieber als am Steuerknüppel eines der damals schnellsten Jagdflugzeuge der Welt, der Me 109 (Messerschmitt Bf 109) und der Focke-Wulf 190 (Focke-Wulf Fw 190), zu sitzen und — wie ein Habicht im Taubenschwarm, aber mit mehr als 700 km/h (damals Höchstgeschwindigkeit) — unter den todbringenden feindlichen Bombergeschwadern mit den Bordwaffen aufzuräumen
. In den Pausen auf dem Schulhof übten wir Jungen dieses spielerisch, indem wir mit ausgebreiteten Armen, Motorengeräusche und Maschinengewehrfeuer imitierend, kurvenreich über den Platz hetzten. — Aber unsere kindlichen Phantasien wurden — im Nachhinein betrachtet glücklicherweise — nicht Wirklichkeit. Eine Gnade der späten Geburt.
Auf dem Erdboden waren damals meine Möglichkeiten auf schnelle Fortbewegung ausgesprochen kümmerlich. Noch nie war ich in einem Auto gefahren. Als kleines Vorschulkind hatte mich mein Vater auf dem Fahrrad mitgenommen, wobei ich auf einem winzigen Kindersattel, den er auf der Stange angeschraubt hatte, saß und die Fahrt genoss. Meine kleinen Füße ruhten auf Fußrasten, die an der Radgabel angeschraubt werden konnten. Ab ungefähr dem vierten Lebensjahr war ich zu groß für diese Transportmethode. Kinderfahrräder gab es nach meiner Erinnerung noch nicht bei uns. Ein Dreirad und etwas später einen Tretroller besaß ich zwar, aber in billigen Ausführungen mit kleinen Holzrädern, weil meine Eltern jeden Pfennig mehrmals umdrehen mussten. Wie sehr habe ich die Kinder beneidet, die auf teuren Wipprollern mit Luftreifen an mir vorbei rauschten.
So oft es ging wurde ich auf Fahrten mit der Eisenbahn oder Straßenbahn mitgenommen. Das war dann immer ein Freudentag für mich. Ich stürzte mich auf einen freien Fensterplatz und drückte mir die Nase an der Scheibe platt. Fasziniert saugte
ich mit den Augen die vorbei fliegende Welt in mein kindliches Gedächtnis. Genau so spannend empfand ich an den Haltestellen das Warten auf die Ankunft dieser Verkehrsmittel. Die Straßenbahn kündigte ihr Erscheinen lange vorher an durch das Quietschen in den Kurven und die grellen Blitze, die zischend zwischen Oberleitung und Stromabnehmer zuckten.
An der Eisenbahn war die Lokomotive der große Hingucker. Dieses gewaltige, schwarze Dampfkraftwerk auf riesigen Stahlrädern faszinierte mich ungemein. Nicht nur der imposante Anblick, sondern auch die archaischen Geräusche: Schnauben, Zischen, Pfeifen, Poltern, Fauchen. Das Ungetüm spie dicke Wolken aus Dampf und Ruß und Asche in die Luft. Wenn der Heizer die Feuerbüchse aufriss und Schaufel auf Schaufel Stückkohle in den feurigen Schlund schleuderte, war nachts die Umgebung taghell erleuchtet. Um den Zug schneller in Fahrt zu bringen, gab der Lokführer manchmal so viel Dampf auf einmal auf die Zylinderkolben, dass die Antriebsräder auf den Schienen durchdrehten und Schwärme von Funken versprühten.
Mir kam der Feuer speiende Drache aus der Siegfriedsage gegenüber diesem Koloss wie ein harmloser Regenwurm vor. Die Männer, die dieses Monstrum beherrschten, standen bei Wind und Wetter und in jeder Jahreszeit auf einem offenen Führerstand. Nicht in schneidiger Uniform wie die Bahnbeamten auf dem Bahnhof, sondern im ölig verrußten, schwarzen Arbeitsanzug und mit einer speckigen Schirmmütze auf dem Kopf. Sie hantierten nicht an kleinen, sauberen Knöpfen, sondern malochten an schweren Hebeln und großen Handrädern. Das Dampfross gehorchte ihnen total und fuhr auf den Zentimeter genau, wie es sollte. Dafür wurde es nicht nur mit Kohle und Wasser gleich tonnenweise gefüttert, sondern seine Gelenke wurden auch geschmeidig gehalten und massiert. Bei Stillstand turnte nämlich einer der beiden Männer mit einer großen Ölkanne und einem Putztuch um die behaglich schnaufende Maschine herum und pflegte sie.
Zurück zum gewöhnlichen Alltag in jener Zeit. Es mussten ja auch mal schwere Lasten transportiert werden, wozu sich das Fahrrad nicht eignete. Da die meisten privaten LKW und PKW für Kriegsdienste beschlagnahmt worden waren, bestimmten die langsameren Pferdefuhrwerke das Straßenbild. Weniger Verkehrslärm, Abgase und Staub konnte man als Vorteil ansehen. Die in ziemlichen Mengen anfallenden Pferdeäpfel auf den Straßen bedeuteten kein Problem. Mancher Gartenbesitzer hat sie hastig in einen Eimer geschrappt und als willkommenen Dünger in seinen Garten gestreut. Den Rest recycelten die Spatzen, die die Städte in großen Schwärmen bevölkerten und für Gartenbesitzer fast eine Plage waren.
Für den Hausgebrauch hatten die meisten Haus- oder Gartenbesitzer irgendein zusammengebasteltes zweirädriges Wägelchen mit ausgedienten, rostigen Kinderwagenrädern oder eine alte Schubkarre aus der Vorkriegszeit.
Einige Leute jedoch besaßen kleine vierrädrige Handwagen, die von einem Stellmacher hergestellt worden waren. Sie hatten eine schwenkbare Vorderachse und eine Deichsel, die um 90 Grad auf und nieder bewegt werden konnte. Sie waren merklich stabiler als die kleinrädrigen Bollerwagen, mit denen man heute die Gören und die Badeklamotten an den Strand karrt. Wer so ein Ding besaß, gehörte sozusagen zum Establishment
.
Als King
konnte jedoch derjenige sich fühlen, der diese Art Wagen eine Nummer größer besaß. Das waren schon fast kleine Pferdewagen und man konnte mehrere Zentner auf einmal damit transportieren. Ihr Eigengewicht war so beträchtlich, dass sie im leeren Zustand von einem Kind kaum bewältigt werden konnten. Aber auch dieser größere Typ hatte keine Bremse. Meine Eltern besaßen solche vierrädrigen Wagen nicht. Wenn sie einen Wagen der kleineren Art benötigten, liehen sie ihn sich von der mit uns gut befreundeten Familie J., die mehrere hundert Meter von uns entfernt in einer Nebenstraße, Dreerhöhe, wohnte und beide Wagentypen besaß. Sie schickten mich los, um den Wagen zu holen, was ich sehr gerne tat. Warum? Der Weg zurück nach Hause, zur Everstalstraße 30, war durchweg abschüssig und ideal für eine flotte Fahrt. Auf diese Weise konnte ich mein starkes Verlangen nach Geschwindigkeit stillen. Ich zog also die Vorderklappe des Wagens heraus, setzte mich auf diesen Platz, ließ die Deichsel waagerecht nach unten fallen und klemmte sie zum Steuern zwischen meine Füße. Ab ging's. Juchhei!
Die eisernen Radreifen trommelten auf dem etwas löchrigen Asphalt. Die fehlende Hupe ersetzte ich durch lautes Schreien: Vorsicht, Vorsicht!
Alle Pferdefuhrwerke wurden überholt. Mancher Fuhrmann drohte mit der Peitsche, weil ich angeblich die Gäule scheu machte. Wenn die Geschwindigkeit zu gefährlich wurde, bremste ich sie mit den Schuhsohlen etwas ab. An unserem Haus endete die Everstalstraße abrupt und ging in einen sehr holprigen Feldweg über, der meistens sumpfig war. Bis dahin musste der Wagen zum Stillstand gekommen sein, sonst gab es unweigerlich einen Unfall mit Überschlag, vielleicht noch ein Schlammbad dazu. Ich löste das Bremsproblem mit Bravour, indem ich das rechte Vorderrad sehr feinfühlig fast parallel zur Bordsteinkante lenkte und schleifen ließ. Mit den Schuhsohlen half ich etwas nach, und der Wagen stand. - Natürlich hatten meine Eltern mir diese Fahrerei verboten, aber sie sahen es ja nicht, und ich war selig.
Eines Tages schickten mich meine Eltern, den großen Wagen zu holen. Weil der aber, wie schon gesagt, von einem kleinen Jungen alleine nicht sicher gehandhabt werden konnte, sollte mir Gerd, der jüngste Sohn der siebenköpfigen Familie J., dabei helfen. Der war ein Jahr älter als ich und mein bester Freund. Ein starker, flinker, furchtloser Junge. Zusammen hatten wir so manches kindliche Abenteuer erlebt. Er kannte alle Tricks, die ein Junge in diesem Alter nur wissen konnte. Besonders nützlich war mir sein Ruf als verwegener Draufgänger mit den schnellsten Fäusten im ganzen Viertel. Er schlug aber nicht grundlos oder nur so zum Spaß, sondern dann, wenn ihm einer dumm kam oder wenn eine Horde einen Einzelnen oder Ältere Jüngere verprügelten. Dann mischte er sich richtig ein und schlug den Bösewichten gerne auf die Augen. Das tat weh und das Veilchen
war tagelang für alle sichtbar, was wiederum sein Ansehen und den Respekt vor ihm erhöhte. Nach dem Krieg wurde er ein erfolgreicher Amateurboxer. Die Zusammenarbeit zwischen ihm und mir war ideal. Ich half ihm beim Lesen und Rechnen und er half mir aus der Patsche, wenn mich größere Jungens piesacken wollten. Es reichte schon aus, wenn ich bei beginnenden Streitigkeiten erwähnte, dass ich Gerd informieren werde. Mit seinen Fäusten wollte keiner Bekanntschaft machen.
Gerd und ich zogen also den großen Wagen, besser gesagt, wir stemmten uns wegen des Gefälles gegen ihn, brav die Straße eine kurze Strecke hinab — bis wir außer Sichtweite seines Elternhauses waren. Dann zogen wir schnell vorne und hinten die Klappen hoch und setzten uns hinein, ich vorne an der Deichsel und er rücklings hinten. Die Beine ließ er heraushängen, um mit den Füßen bremsen zu können und die Geschwindigkeit in Maßen zu halten. Sofort nahm der schwere Wagen, dazu noch mit zwei Personen besetzt, gewaltig Fahrt auf. Anfangs war es ein Riesenvergnügen, aber bald rasten wir ungewöhnlich schnell. Es wurde mir langsam mulmig, weil der ungestüme Gerd gar nicht daran dachte zu bremsen. Das Ende der Straße mit dem Sumpf kam unheimlich schnell näher. Wenn wir jetzt nicht sofort bremsten, würde ein Unglück passieren.
Gerd jubelte noch vor Vergnügen, weil er nicht nach vorne guckte und meine Warnrufe überhörte. Wenn ich mit dieser hohen Geschwindigkeit wie gewohnt zum Bremsen im spitzen Winkel gegen die Bordsteinkante fahre, muss der Wagen unweigerlich umkippen oder über den Bürgersteig in die Fußgänger rasen
, fuhr mir durch den Kinderkopf. Was soll ich nur tun?
In höchster Not beschloss ich, kurz vor dem Sumpf eine Wende um 180 Grad zu riskieren und riss die Deichsel scharf nach links. Doch die Straße war zu schmal und die Zentrifugalkraft zu groß. Der Wagen kippte nach rechts um und überschlug sich laut krachend. Gerd und ich flogen mitsamt den losen Brettern im hohen Bogen auf den Asphalt und blieben erstmal liegen. Das Getöse hatte meine Eltern und Nachbarn aufgeschreckt, die mit großem Lamento herbeieilten und Erste Hilfe leisteten.
Nun, der Wagen war stabil gebaut und konnte wieder zusammengesetzt werden. Der zähe Gerd trollte sich nach Hause mit einer dicken Beule an der Stirn und bekam Dresche von seinem strengen Vater. Mich selber erwischte es schlimmer. Ein rotierendes Rad hatte an meinem linken Innenknöchel die Haut bis auf den Knochen abgeschliffen. Außerdem bereitete mir ein hühnereigroßer Knubbel am Unterbauch schneidende Schmerzen.
Unser Hausarzt stellte einen Leistenbruch fest. Auf den besorgten Blick meiner Mutter hin und auf ihre Frage nach einer Operation antwortete er gelassen: Das wächst sich noch in diesem Alter aus. Das Dicke immer schön reindrücken und gut eine Woche im Bett liegen. Dann vorsichtig aufstehen und nicht anstrengen. Auf den Knöchel streichen Sie Wundsalbe — Seine Prognose traf hundertprozentig zu. Und ich wusste nun durch leidvolle Erfahrung, wie viel gefährliche Energie in so einer einfachen Karre steckt, wenn man damit rast. Ferner wurde ich schmerzhaft daran erinnert, dass elterliche Warnungen und Verbote gar nicht so unbegründet sind. Ihre Übertretungen haben meistens auch ihren Preis — manchmal einen ziemlich hohen.