Konrad Adenauer aus nächster Nähe
Obwohl mein Interesse an Politik noch ausgesprochen unterentwickelt war, staunte ich nicht schlecht, als der erste Bundestag im Jahr 1949 den Rheinländer Konrad Adenauer zum ersten Kanzler der aus der Trizone (Trizonesien) Im März 1948 einigten sich die drei Westmächte in London darauf, ihre Besatzungszonen in Deutschland, die amerikanische, die britische sowie die französische Besatzungszone, zur so genannten Trizone zusammenzuschließen. Trizone ist die inoffizielle Bezeichnung der größeren Wirtschaftseinheit, die dadurch geschaffen und in das amerikanische Aufbauprogramm des Marshall-Plans einbezogen wurde.
Man sprach jedoch auch von Westzone
, spaßhaft von Trizonesien und später von Westdeutschland.Quelle: Wikipedia.dehervorgegangenen Bundesrepublik Deutschland mit der Mehrheit von einer Stimme gewählt hatte. Erstaunt hat mich hauptsächlich sein Alter von 73 Jahren, das mir, dem damals Sechzehnjährigen, schon biblisch vorkam. Vielleicht macht er es noch drei oder vier Jahre, dann kommt bestimmt ein Jüngerer ans Ruder
, dachte ich. Tatsächlich blieb er noch 14 Jahre Bundeskanzler und wurde 91 Jahre alt.
Ich hatte vorher noch nie etwas von ihm gehört, ebenso wenig von seiner neuen Partei CDU, deren Vorsitzender er war. Allerdings hatten mich auch bisher am Ausgang meiner Flegeljahre ganz andere Dinge als Politik beschäftigt, wie sich jeder denken kann. (Flegeljahre: Pubertät war damals nur in der wissenschaftlichen Fachsprache gebräuchlich, galt im Volksmund als verschrobenes Fremdwort und hatte einen leicht unanständigen Klang).
Da es das Fernsehen als Massenmedium noch nicht gab, sah ich den Alten aus Rhöndorf
, wie Konrad Adenauer bisweilen genannt wurde, nur manchmal im Kino in der Fox Tönende Wochenschau
im üblichen Schwarzweiß, wodurch alle Gesichter kreidebleich aussahen. Doch ich sollte zweimal die Gelegenheit bekommen, aus nächster Nähe zu sehen, wie er wirklich aussah.
Das erste Mal war vier Jahre nach der Gründung unserer Republik, im Wahlkampf vor der Bundestagswahl 1953. Der Kanzler hielt eine Rede in Bochums Innenstadt. Er wollte wiedergewählt werden. Leider war ich mit meinen 20 Jahren noch nicht zur Stimmabgabe zugelassen, denn das Wahlalter und die Volljährigkeit lagen damals bei 21 Jahren. Aber ich stand wenige Monate vor dem Abitur und wir hatten im Stundenplan das neu eingeführte und beliebte Fach Gegenwartskunde
, in dem auch geprüft werden konnte. Über eine aktuelle Rede des Kanzlers referieren zu können, dürfte für die Zensur nur von Vorteil sein, dachte ich. Deshalb und auch, um unseren Regierungschef aus der Nähe in natura zu erleben, war ich mit der Straßenbahn von unserem Vorort Bochum-Werne zur Stadthalle gefahren.
Adenauer stand straff und kerzengerade vor dem Saalmikrofon, sprach klar und schnörkellos, wies kämpferisch auf die Erfolge seiner Politik hin, kanzelte Zwischenrufer und Störer souverän ab. Die Menschen standen in der Halle dicht gedrängt wie die Heringe und klatschten, obwohl Bochum damals, nach meiner Erinnerung, unterm Strich rot wählte.
Nach dem Schluss seiner Rede schritt der Alte aus Rhöndorf
durch die Menschenmenge, die ihm bereitwillig eine schmale Gasse öffnete, dem Ausgang zu, ohne Leibwächter und Polizei. Glücklicherweise stand ich so, dass er keine drei Meter an mir vorbeiging. Mich überraschte, wie groß er in Wirklichkeit war und wie frisch und rosig sein Gesicht aussah. Dagegen vermittelten die Filmaufnahmen eher das Bild einer fahlen Mumie.
Gut sieben Jahre später sollte ich den Kanzler wieder aus nächster Nähe sehen, aber unter sehr kuriosen Umständen. Gymnasium und Hochschule hatte ich inzwischen erfolgreich absolviert und bekleidete eine Stelle in der Stahlindustrie. Der Verein Deutscher Eisenhüttenleute, in dem ich schon als Student Mitglied geworden war, feierte am 4. November 1960 in Düsseldorf sein hundertjähriges Bestehen. Als Ehrengast und Hauptredner war Bundeskanzler Adenauer eingeladen.
Ich reiste mit der Eisenbahn an und war spät dran, aber nicht zu spät, Punkt 10 Uhr, so auch der angesagte Beginn. Auf die Schnelle begrüßte ich im Foyer der riesigen und vollbesetzten Festhalle einige Bekannte und ehemalige Kommilitonen. Schon bei der Mantelabgabe in der Garderobe und an der Rezeption beim Empfang des Namensschildes umtoste mich das Dauergeräusch, das jeder kennt, wenn mehr als tausend Menschen laut und munter durcheinander sprechen und lachen, so dass man kaum sein eigenes Wort versteht. Schwerarbeit für das Gehör.
Zielstrebig, die Augen geradeaus, schritt ich auf den Haupteingang neben der Bühne zu und betrat die Festhalle - nach einem freien Platz Ausschau haltend. Urplötzlich verstummte jeder Laut. Totenstille. Nur meine Schritte hörten sich für mich subjektiv wie Hammerschläge an. Ebenso mein Herz. Wie auf Kommando hatten sich alle Köpfe in meine Richtung gedreht. Unzählige Augenpaare fixierten mich. Gleichzeitig erhob sich vor mir die riesige Menge von Herren in dunklen Festanzügen und klatschten Applaus. Der damalige Vereinsvorsitzende, Herr Prof. Dr. Ing., Dr. Ing. E.h. Hermann Schenck, bei dem ich studiert hatte und der mir auch das Hauptexamen abgenommen hatte, eilte von der großzügig geschmückten Bühne, wo der Tisch des Festkomitees stand, zur Begrüßung herunter - auf mich zu - und haarscharf vorbei.
Einen winzigen Augenblick glaubte ich zu träumen, dann fiel der Groschen
schnell. Rasch sah ich mich um und - blickte dem Kanzler ins Gesicht, kaum fünf Schritte entfernt, mit Respekt begrüßt von unserem Vorsitzenden.
Es war wohl ein kleiner Regiefehler passiert. Was hinter mir geschah, hatte ich nicht sehen und bei dem Lärm auch nicht hören können. Aber ein Saaldiener hätte mich vor dem Eingang zurückhalten müssen, um dem Ehrengast den Vortritt zu geben. Mein Vortritt wurde jedoch mit Gelassenheit hingenommen. Wuchtig setzte das Orchester ein und intonierte forte fortissimo die Ouvertüre zur großartigen Feuerwerksmusik von Georg Friedrich Händel, während ich einen freien Sitzplatz suchte und fand.
Dieser kleine und unbedeutende Vorgang blieb mir jedoch unvergessen, ebenso die Schlussbemerkung in der Rede des Kanzlers, der immer ein Freund der einfachen Worte war: Alle Institutionen, Organisationen, Vereine und dergleichen schmücken sich heutzutage bei der Namensgebung mit klingenden Fremdwörtern. Aber Sie, meine Herren, sind bei Ihrem alten, deutschen Namen geblieben. Bleiben Sie also weiterhin gute Deutsche Eisenhüttenleute. Glückauf!
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