Der gute, alte Nikolaus
oder
Was hat der Heilige mit meinem Gebiss zu tun?
Heute am Nikolaustag musste ich ganz heftig an meine Kindheit denken, wie ich damals diesen Tag erlebt habe. Es war für mich eine schaurig-schöne Zeit und Welt. In ihr tummelten sich auch Gestalten aus dem Reich der Geister, gute und böse, an die ich fest glaubte, bis ich ungefähr 7 Jahre alt war. Ich glaubte deshalb fest daran, weil es meine Eltern und nahe Verwandten sagten. Was diese Menschen redeten, war für mich unumstößlich, zumal die Fakten im realen Leben ja auch meistens für die Richtigkeit sprachen (in Anbetracht meines noch nicht voll ausgebildeten kritischen Verstandes).
Zu den Guten zählten zum Beispiel die Engel, die einen beschützen und noch viel lieblicher aussehen, als die Mädchen im Kindergarten und später in der Schule.
Das Christkind, das Weihnachten wunderbare Geschenke bringt, leider lässt es sich nie sehen und kommt nur nachts, wenn wir schlafen.
Frau Holle, die ihre Betten ausschüttelt und uns die herrlich tanzenden Schneeflocken vom Himmel schickt, damit wir dann rodeln und Schneeballschlachten machen können.
Der Klapperstorch, der die kleinen Kinder bringt.
Die gute Fee, die im Schein des Vollmondes um Mitternacht auf einer Waldwiese herabschwebt und einem guten Mädchen einen Wunsch erfüllt. Jungens sind der Legende nach ausgeschlossen, weil sie angeblich von Natur aus böse seien.
Zu den Bösen zählten zum Beispiel der Teufel, der die frechen Menschen für alle Ewigkeit in die Hölle stürzt.
Die Roggenmuhme, die Kinder, die ins Kornfeld laufen, auf Nimmerwiedersehen entführt; über ihr Schicksal ist nichts bekannt, aber es muss schrecklich sein.
Der schwarze Mann und der Bullemann, die im Dunkeln mit Kindern ihr Unwesen treiben. Über sie kursieren die schlimmsten Geschichten.
Knecht Ruprecht, der hin und wieder den Nikolaus ausschließlich zum Verkloppen der Kinder mit der Rute begleitet und die frechsten Kinder sogar in den Sack steckt und ins Wasser schmeißt.
Die Hexe aus dem Märchen Hänsel und Gretel
. Wenn es bei starkem Wind im Ofen und Kamin heulte und jaulte, erklärte mir Mutti, das sei diese Hexe, die jetzt nun braten müsste. Seltsamerweise empfand ich außer Genugtuung auch ein bisschen Mitleid mit ihr, weil sie für eine einmalige verbrecherische AbsichtDie Absicht an sich wäre nicht strafbar gewesen, aber es handelte sich 1. Um eine vollendete Tat gemäß § 239 StGB (Freiheitsberaubung) und 2. um einen versuchten Mord (§ 23 iVm § 211 StGB).
Die Hexe hatte ihre Absicht zur vorsätzlichen Tötung des Hänsel in final gerichtete Tathandlungen umgesetzt. Spätestens mit dem Anheizen des Backofens am Tattage, in dem sie Hänsel braten wollte, war die Grenze der straflosen Vorbereitungshandlungen überschritten und hatte die Tatausführung begonnen.
Letztlich ist es nur deshalb nicht zur Vollendung der Tat gekommen, weil die Schwester des Opfers, Gretel, die Hexe in den vorgeheizten Backofen stieß, in dem die Hexe zu Tode kam.
Inwieweit diese Handlung von Grete durch Notwehr in Form der Nothilfe (§ 22 StGB) gerechtfertigt war, wäre in einem gesondertem Verfahren zu klären. Anmerkung H.F. ewig büßen muss.
Eine Sonderstellung zwischen den Guten und den Bösen nahmen für mich Gott und der Nikolaus ein. Beide vergaßen nichts und konnten sowohl fürchterlich strafen als auch fürstlich belohnen. Von den Erwachsenen hatte ich gehört, dass Gott zwar gut ist und seinen Sohn als Jesuskind in der Krippe zu Bethlehem geschickt hat, damit wir Menschen das wunderschöne Weihnachtsfest feiern können. Dass das Christkind und das Jesuskind — theologisch gesehen — identisch sind, überforderte damals mein Begriffsvermögen. Aber andererseits hat Gott die Menschen, bis auf Noah und seine Familie, in der Sintflut ertränkt als Strafe für ihre Sünden. Da ich nicht sicher war, ob und wann der Ewige wieder so eine Strafe verhängen wird, hatte ich bei langen Regenfällen schlimme Angst, dass eine neue Sintflut kommen könnte und wir alle ertrinken müssten. Selbst meine Eltern konnten mich dann kaum beruhigen. Aber ich überlegte mir einige RettungsmaßnahmenAusgedachte Rettungsmaßnahmen gegen eine neue Sintflut:
1.) schnelle Auswanderung nach Afrika. Denn die unschuldigen, kleinen Negerkinder in meinen Bilderbüchern konnten noch keine Sünden begangen haben und würden verschont werden.
2.) wir breiten eine riesige Zeltplane direkt unter den Regenwolken aus und leiten das Regenwasser in die großen Flüsse Rhein und Ruhr.
3.) wir bauen und stellen einen gigantischen Ventilator auf und blasen damit die Wolken weg.
Vielleicht zeichnete sich damals schon mein späterer Beruf auf dem technisch-naturwissenschaftlichen Gebiet ab.
Als ich dieses meinen Eltern vortrug, lehnten sie alle meine Vorschläge wegen Undurchführbarkeit ab. Als auch mein sehr fortschrittlich eingestellter Onkel Hans den Kopf schüttelte, konnte ich nur noch auf Gottes Gnade hoffen.*(siehe Anhang) für den Fall der Fälle.
Vor dem Nikolaus hatte ich eine ebenso große Angst. Gott sei Dank besuchte er die Erde nur einmal im Jahr. Ich kannte ihn bis zum sechsten Lebensjahr nur aus Erzählungen und von Bildern. Hin und wieder sah ich am 6. Dezember, abends im Dunkeln ängstlich aus dem Fenster lugend, in unserer Straße von weitem eine große, schwere Person mit klobigen Stiefeln, langem, roten Mantel, weißem Vollbart und roter Zipfelmütze, einen prallen Sack aus grobem Stoff auf dem Rücken und eine Rute in der Hand. Manchmal und nicht jedes Jahr folgte ihm eine finstere Gestalt ganz in Schwarz, gräuslich anzusehen, Knecht Ruprecht. Meine Ohren meldeten Kinderschreie. Ein Schauer durchfuhr mich. Jahre später kam ich dahinter, es war ein bestellter Mensch in Nikolaustracht. Damals aber für mich eine reale Person vom Himmel, wo er das Jahr über wohnt. Er soll schweren Schritts laut die Treppe hochtrampeln, anstatt manierlich anzuklopfen, wuchtig gegen die Tür poltern und rabiat Einlass fordern, ein großes, dickes Buch bei sich führend, in dem alle guten und schlechten Taten jedes einzelnen Kindes drinstehen. Er soll daraus mit kräftiger Stimme vorlesen und mit der Rute strafen, aber auch für gute Taten ansehnliche Geschenke aus dem Sack holen und verteilen. Außerdem fordere er, ein Gedicht aufzusagen oder ein Lied zu singen. Meine jüngere Cousine Gerda schwor damals Stein auf Bein, dass auch manchmal Erwachsene eine Tracht Prügel abbekommen hätten und der heilige Mann ganz besonders unartige Kinder in den Sack gesteckt und in den Kanal (sie meinte den bei uns nahen Rhein-Herne-Kanal) geschmissen habe.
Dieses alles im Gedenken hockte ich jedes Jahr am Nikolausabend kleinlaut bei Mutti in der Wohnküche. Angst und Erwartung krochen in mir hoch.
Mutti, kommt der Nikolaus auch zu uns heute Abend?
fragte ich zaghaft.
Ihre Antwort: Er hat viel zu tun. Das kommt ganz darauf an, wie viel Böses von dir in seinem Buch steht. Wenn wenig drin steht, legt er nachts nur Geschenke vor die Tür und geht wieder weg.
So wartete ich zitternd, bis ich einschlief. Am nächsten Morgen lagen tatsächlich herrlich leckere Sachen vor unserer Tür und für mich war der Nikolaus ein guter Mann und ich wähnte mich wieder für ein Jahr in Sicherheit.
Das änderte sich abrupt am 6. Dezember 1939, zwei Monate vor meinem 7. Geburtstag und ich hatte noch nicht den Glauben an den Nikolaus verloren. Nach Ostern war ich eingeschult worden und am 1. September war der 2. Weltkrieg ausgebrochen. Der Nikolaus erschien leibhaftig wie ein Naturereignis genau so wie ich es die Jahre vorher gehört und befürchtet hatte, aber glücklicherweise ohne Knecht Ruprecht
Wir hatten Besuch, das Zimmer war voll und der riesige, rot bemantelte Kerl rief dröhnend meinen Namen auf. Ich musste aufstehen, mir fiel das Herz in die Hose und ich stand wohl wie ein Häufchen Elend vor meinem unbestechlichen Richter, der mich scharf ansah. Mal sehen, was über dich in meinem Buch steht
, brummte es aus seinem Rauschebart.
In diesem Moment fielen mir viele Sünden im ausgehenden Jahr ein. Oh jemine. In der Schule hatte mich z. B. unser Fräulein (damals die übliche Anrede für die Lehrerin) erwischt, dass ich gar nicht das Stück im Lesebuch vorgelesen, sondern auswendig hergesagt habe. Außerdem hatte ich Mädchen an den Zöpfen gezupft usw.. Und das Schlimmste, auf dem Schulhof hatte ich eine leere Patronenhülse gefunden und fröhlich darauf herumgepfiffen, ohne sie abzugeben, wie es Vorschrift war. Ein Klassenkamerad, ein Schleimer, seine Eltern führten eine Metzgerei (Fleisch war schon rationiert), der Lieblingsschüler unserer Lehrerin, dessen Name ich heute noch weiß, aber nicht nenne, hatte mich bei ihr verpfiffen, worauf sie mich zur Strafe in die letzte Reihe setzte — eine Schmach für mich.
Nun würde mich auch noch der Nikolaus aburteilen. Aber oh Wunder, nichts dergleichen. Angestellt hast du ja einiges, aber ich will mal darüber hinwegsehen, wenn du es nicht wieder tust
, rollte es mit sonorem Bass aus dem Bart. Ja
, hauchte ich erleichtert. Aber dann brach es mit Donnerhall über mich herein: Hier im Buch steht auch, dass du immer noch am Daumen lutschst! Das gehört sich nicht für so einen großen Jungen! Schäm' dich! Wenn ich nächstes Jahr wiederkomme und du immer noch lutschst, dann stecke ich dich in den Sack!
— Sprach's, schwang die Rute, aber schlug nicht zu, ließ mich ein Gedicht aufsagen, reichte mir trotzdem noch einige Süßigkeiten, guckte sich um, gab einer jungen Nachbarin mit der Rute einen leichte Klaps auf den Hintern, obwohl sie meines Wissens nichts Schlimmes getan hatte, und stampfte aus der Wohnung.
Seine kernige, drohende Ansprache fuhr mir durch Mark und Bein und von Stund an habe ich nicht mehr meinen Daumen in den Mund gesteckt. Dem Nikolaus sei Dank, sonst wären meine oberen Schneidezähne noch mehr nach vorne gezogen worden. Es war eine Unart von mir seit dem Säuglingsalter wie bei vielen aus meiner Generation. Meine Eltern hatten es mir schon so oft abgewöhnen wollen und alles Mögliche vergeblich versucht mit gutem Zureden, Lappen drumwickeln und mit Senf beschmieren. Nichts hat geholfen.
Jahre später hat Mutti mir gebeichtet, dass sie und Vati genau deswegen den Nikolaus bestellt und ihm vorher dieses gesteckt haben. Den Namen des Mannes haben sie mir nicht verraten. Im Krieg durfte unser Zahnarzt keine Zahnspangen zum Regulieren der Zähne verschreiben, weil sie nicht kriegswichtig waren. Edelstahl wurde dringend für Waffen gebraucht.
Der Glaube an den Nikolaus hatte dann in der Folgezeit verspielt. Einmal, weil mein kritischer Verstand gegen den unbedarften Kinderglauben siegreich auf dem Vormarsch war, andererseits, weil infolge des fortdauernden Krieges und der feindlichen Luftangriffe abends uns der Sinn für solch schönes Brauchtum nicht mehr stand. Schade, es war eine spannende Zeit, aber der Nikolaus starb nicht den Heldentod, ist nach dem Krieg wiedergekommen und hat seinen angestammten Beruf weiterhin ausgeübt.
*) Anhang 1
Ausgedachte Rettungsmaßnahmen gegen eine neue Sintflut:
Erstens, schnelle Auswanderung nach Afrika. Denn die unschuldigen, kleinen Negerkinder in meinen Bilderbüchern konnten noch keine Sünden begangen haben und würden verschont werden.
Zweitens, wir breiten eine riesige Zeltplane direkt unter den Regenwolken aus und leiten das Regenwasser in die großen Flüsse Rhein und Ruhr.
Drittens, wir bauen und stellen einen gigantischen Ventilator auf und blasen damit die Wolken weg.
Vielleicht zeichnete sich damals schon mein späterer Beruf auf dem technisch-naturwissenschaftlichen Gebiet ab.
Als ich dieses meinen Eltern vortrug, lehnten sie alle meine Vorschläge wegen Undurchführbarkeit ab. Als auch mein sehr fortschrittlich eingestellter Onkel Hans den Kopf schüttelte, konnte ich nur noch auf Gottes Gnade hoffen.
*) Anhang 2
Die Absicht an sich wäre nicht strafbar gewesen, aber es handelte sich 1. Um eine vollendete Tat gemäß § 239 StGB (Freiheitsberaubung) und 2. um einen versuchten Mord (§ 23 iVm § 211 StGB).
Die Hexe hatte ihre Absicht zur vorsätzlichen Tötung des Hänsel in final gerichtete Tathandlungen umgesetzt. Spätestens mit dem Anheizen des Backofens am Tattage, in dem sie Hänsel braten wollte, war die Grenze der straflosen Vorbereitungshandlungen überschritten und hatte die Tatausführung begonnen.
Letztlich ist es nur deshalb nicht zur Vollendung der Tat gekommen, weil die Schwester des Opfers, Gretel, die Hexe in den vorgeheizten Backofen stieß, in dem die Hexe zu Tode kam.
Inwieweit diese Handlung von Grete durch Notwehr in Form der Nothilfe (§ 22 StGB) gerechtfertigt war, wäre in einem gesondertem Verfahren zu klären. Anmerkung H.F.