Hoher Besuch
Ende der Fünfziger Jahre arbeitete ich im Institut für Tierphysiologie und Tierernährung der Uni Göttingen an meiner Promotion. Wie der Name schon vermuten lässt, hatten wir es dort mit Tieren zu tun: Kühe, Kälber, Schweine, Hühner und Schafe, für die wir in sogenannten Stoffwechselversuchen die optimale Ernährung bei gleichzeitiger Gesunderhaltung herausfinden mussten. Die Tiere fristeten meistens ein erträgliches Leben, denn im Gegensatz zu ihren Artgenossen auf einem landwirtschaftlichen Betrieb blieben sie unverhältnismäßig lange vor dem Schlachthaus oder einer anderen Weiterverwertung verschont. In den recht ausgedehnten versuchsfreien Zeiten tummelten sie sich draußen auf einem weideähnlichen Auslauf oder in geräumigen Gattern und wurden von mehreren Tierpflegern umsorgt.
Letztere entwickelten meistens eine besondere Beziehung zu ihren Pfleglingen und brachten ihnen dabei gern einige Dinge bei, die man nicht unbedingt in einer normalen Tierhaltung vorfindet. Und jedes Tier hatte seinen Namen. So war zum Beispiel eine ganze Anzahl Hammel nach berühmten römischen Persönlichkeiten benannt. Es gab dort unter anderen den Nero, den Cäsar, den Gajus usw. Und, nicht zu vergessen, den Brutus, denn dieser ist die Hauptperson in der folgenden Geschichte.
Brutus war in vielerlei Hinsicht ein überdimensionierter Schafbock. Er war von außergewöhnlich kräftiger Statur, und vom Gewicht her brachte er mindestens halb mal mehr Kilogramm auf die Waage als alle anderen Kollegen. Wehe dem anderen Bock, der ihn beim gemeinsamen Weidegang nicht als Leithammel respektierte!
Und diesem Brutus hatte man eine Aufgabe anerzogen, die normalerweise nur einem Hofhund zukommt: Er hielt das Institutsgelände, soweit es ihm als Auslauf zugänglich war, frei von Personen, die da seiner Meinung nach nicht hingehörten. Kurzum: Jeder, der als Fremder seinen Bereich durchquerte, lief Gefahr, recht unsanft mit seinem harten Schädel Bekanntschaft zu machen, vor allem – und das war der wesentliche Punkt – wenn derjenige einen normalen Straßenanzug oder ähnliches anhatte. Uns als Institutsangehörige tat er nichts, da wir ja alle weißbekittelt waren. Aber es hatte schon verschiedentlich Beschwerden gegeben von fremden Leuten, die dem Schafbock plötzlich allein gegenüber standen und nicht schnell genug über den nächsten Zaun fliehen konnten. Durch diese unliebsamen Vorkommnisse war Brutus bei der Institutsleitung immer mehr in Ungnade gefallen, denn neben der meistens recht laut geführten verbalen Auseinandersetzung mit den Geschädigten, standen auch gelegentliche Schadensansprüche ins Haus.
Zur Sache: Der Kurator hatte sich angesagt, der wichtigste Mann jeder forschenden Universität. Denn er war und ist sicher auch heute noch zuständig für Geldzuweisungen, Genehmigung der Forschungsaufträge usw. Und gelegentlich pflegt er seine Kundschaft
zu besuchen, um zu sehen, wo und wie das Geld verbraten worden ist oder erst noch werden soll.
Das ganze Institut war in heller Aufregung. In allen Räumen, Stallungen und Labors war Hochglanz angesagt. Der leitende Professor eilte dreimal am Tag mit wehenden Rockschößen durch alle Gemächer und fand natürlich überall noch gravierende Mängel, die uns bestimmt jeden weiteren Geldsegen vermiesen würden. Meine Herren, wir werden ihm auch das Stallgebäude zeigen. Achten Sie auch dort bitte auf peinlichste Sauberkeit und Ordnung!
Und schon halb im Weggehen: Und passen Sie mir auf den Brutus auf, meine Herren! Nicht, dass der, … na ja, Sie wissen schon!
Und damit entschwand er wieder in sein Büro.
Wir schauten uns an und der Gesichtsausdruck bei einigen Kommilitonen deutete an, dass sich da unmittelbar ein Plan zusammenbraute, der keineswegs mit den Absichten des Professors vereinbar war.
Machen wir es kurz: Der Tag kam heran, der hohe Besuch auch und alles schien einen guten Verlauf zu nehmen. Die Institutsarbeit wurde von unserem Professor über den Klee gelobt, was der Kurator auch kopfnickend zur Kenntnis nahm. Die Zukunft schien also absolut außer Frage zu stehen. Wir waren angewiesen worden, ganz normal weiterzuarbeiten, was wir dann auch taten.
Irgendwann hörte ich Schritte auf dem Flur nebenan und eine Tür zuklappen: Aha, die Besichtigung war kurz vor dem Abschluss, denn man ging zum Stallgebäude. Der Weg dorthin führte ca. 35 Meter über ein Grasgelände, das den Tieren als Auslauf diente und das von meinem Labor aus gut einzusehen war.
Plötzlich großer Run auf mein Labor. Eine ganze Anzahl Kollegen kam herein: Dürfen wir mal schauen?
Sie durften, aber was denn? Alles drängte zu der Fensterfront, die zum besagten Grün hin lag. Ich mischte mich unter die Neugierigen und sah, dass der Professor und sein Besuch gemächlichen Schrittes und eifrig diskutierend zum Stall rüber gingen, wobei sie öfters eine Pause einlegten, um ein anscheinend besonderes Thema auch mit entsprechender Gründlichkeit zu behandeln.
Plötzlich erschien Brutus auf der Szene, sondierte das Areal, wie es seine Art war und sah auch bald die Zweiergruppe, die dort nichts ahnend wichtige Dinge besprach. Der Professor hatte den erforderlichen weißen Kittel an, aber der Kurator erregte mit seinem guten dunklen Zwirn sofort das Missfallen des Schafbocks. Wir hielten die Luft an, einige wollten schnell raus, um das Unglück noch abzuwenden. War aber schon zu spät, denn Brutus leitete die Attacke bereits ein, indem er ein paar Mal hochsprang, und zwar mit allen vier Füßen gleichzeitig wie ein Springbock in der Kalahari. Und dann galoppierte er auch schon los, mit gesenktem Schädel und in voller Fahrt in Richtung Kurator.
Die beiden Herren merkten zunächst nichts von dem, was da auf sie zu hetzte. Sie waren schon ziemlich an der Eingangstür des Stalles angelangt, als unser Professor im letzten Moment das Unheil kommen sah. Er wollte noch schnell seinen Gast am Ärmel fassen und ihn aus der Stoßrichtung des Bockes ziehen, da war Brutus aber schon dran am Objekt seines Missfallens. Rums! Sein Schädel traf punktgenau die hintere Breitseite des Kurators, so dass dieser mit ein paar übermäßig langen Schritten und den Kopf voran durch die - Gott sei Dank - offen stehende Tür in das Stallgebäude rein schoss.
Brutus sprang schon wieder mit allen vier Füßen gleichzeitig hoch, um in einer weiteren Attacke dem Gast im Stall den totalen Garaus zu machen, da erkannte der Professor die Sachlage und packte den Schafbock schnell am Halsband: Mein Gott, hilft mir denn keiner!
Er pflegte bei heiklen Vorkommnissen immer den obersten Schöpfer als Zeugen anzurufen. Brutus fühlte sich offensichtlich ungerecht behandelt und wollte zum Finale unbedingt noch einmal in den Stall. Da kamen aber auch schon einige Tierpfleger und brachten ihn zur Räson.
Über den Verbleib des Kurators erzählte später ein Kommilitone, der zufällig im angrenzenden Kuhstall gearbeitet hatte: Ich sah nur, wie eine dunkle Gestalt zur Außentür rein huschte und im Stroh an der Waage verschwand!
Wiederum - Gott sei Dank - lag dieser Strohhaufen dort, sonst wäre bestimmt noch ein Unglück passiert. So aber kroch der hohe Gast aus dem Haufen hervor, und zwar unversehrt, nur die hintere Körperpartie schien noch Schmerzen zu verursachen und wurde fleißig gerieben. Mithilfe des Professors und einiger Kommilitonen reinigte man den edlen Zwirn notdürftig vom Stroh, und mit den gebührenden Trostworten wurde der Kurator auch bald wieder bei Stimmung gebracht.
Das Ende vom Lied: Der vor dem ungewollten Unfall
festgestellte gute Eindruck des Instituts wurde durch die Brutus-Attacke nicht weiter getrübt und die Gelder flossen in gewohnter Weise.
Wer den Schafbock frei gelassen hatte, ist nie aufgeklärt worden.