Von der Schule in den Beruf
Kapitel 1
Meine Schulzeit in Berlin
Wir schreiben das Jahr 1946 und haben uns in der Wohnung Am Urban 19 in Berlin SW 29 eingerichtet. Ein wunderbarer Blick vom Balkon auf den Landwehrkanal — kein vis-à-vis. Noch existierte der Urbanhafen, wo täglich Lastkähne mit Kohle entleert wurden, und der Weg am Sportplatz entlang zur 7. Volksschule in der Wilmsstraße war nicht weit. Zwar gab es dort keine Turnhalle — sie lag noch in Trümmern — ‚ doch das störte uns wenig. Folglich wurde der Schulhof zum Sportplatz. Die Mädchenschule war gleich nebenan, durfte aber selbst in der Pause nicht betreten werden.
In der Wohnung hatten wir uns arrangiert: Ich bezog das kleine Zimmer — die ehemalige Mädchenkammer — und meine Schwester teilte sich das halbe Zimmer mit meiner Mutter. In Erinnerung ist noch der herrliche grüne und runde Kachelofen mit den vielen Ornamenten. Mein Vater schlief im Wohnzimmer auf der Couch und eines der großen Zimmer hatten wir der Oma Frieda, Tante Friedels Mutter, zur Verfügung gestellt. So blieb ein großes Zimmer frei für Familientreffen und mit Austritt auf den Balkon. Küche und Bad wurden gemeinsam genutzt.
Die Schule hier in Kreuzberg war auch äußerlich anders als in Hermsdorf. Alte Klassenräume, lange Gänge mit runden Fenstern und eine große Aula für die Veranstaltungen mit den Eltern und für den Musikunterricht. Schnell bildeten sich Freundschaften, die über den Beruf hinaus erhalten blieben. In der Freizeit wurde das Planufer ebenso erforscht wie das Ruinengrundstück nebenan. Die Treppenaufgänge waren noch erhalten, doch die Fußböden zu den ehemaligen Wohnungen fehlten. Wohl aber hatten die alten Kachelöfen, die auf Eisenträgern standen, die Zerstörung überlebt. Da kam uns die Idee, dass man die Kachelöfen mit Steinen solange bewerfen könnte, bis auch sie in den Abgrund stürzten. Gesagt, getan. Zunächst aber forschten wir im Keller nach einem Durchbruch zum Haus Am Urban 19. In der Tat fanden wir den Notdurchbruch, wie er im Kriege zwischen den Häusern angelegt worden war, um im Falle der Bombardierung in den Nachbarkeller flüchten zu können. Für uns aber hatte es einen anderen Grund. Unsere geplanten Attacken auf die Kachelöfen waren mit viel Lärm und Staub verbunden und es bestand die Gefahr, dass Nachbarn die Polizei rufen. Dann war es soweit. Im 4. Stock balancierten wir auf den Eisenträgern durch die Räume
und starteten den ersten Angriff auf einen Kachelofen. Nach vielen gezielten Steinwürfen zerbarst der Ofen tatsächlich und stürzte in die Tiefe. Viel Lärm und noch mehr Staub, der durch den Absturz aufgewirbelt wurde. Damit hatten wir nicht gerechnet und auch damit nicht, dass die Eisenträger, auf denen wir standen, aus den Fugen gerieten. Langsam zogen wir uns zurück und konnten noch von oben beobachten, dass Nachbarn tatsächlich die Polizei gerufen hatten. Also ab in den Keller und ins Nachbarhaus. Vom dortigen Hof beobachten wir dann die Aktivitäten der Polizei. Irgendwann zog sie wieder ab, weil sie sich die Ursache des Absturzes der Öfen nicht erklären konnten. Damals trugen die Polizisten noch Tschakos. Wieder auf der Straße, lief einer von uns hinter einem Polizisten her, drückte ihm den Tschako von hinten über das Gesicht und sagte, er könne jetzt Feierabend machen. Ehe der sich befreit hatte, waren wir längst weg. Auf dem Rinnstein in der Dieffenbachstraße wurde regelmäßig mit den kleinen Rennwagen um die Wette gefahren. Das war unsere Freizeit. Eines Abends kam ich spät nach Hause. Es war schon dunkel und die Doppeltür musste mit einem großen Schlüssel geöffnet werden. Der Lichtschalter befand sich links an der Wand. Wie ich das Licht einschalte, sitzt vor mir eine riesige Wasserratte, die mir den Weg zur Treppe versperrt. Ich war sprachlos und überrascht, ging aber auf die Ratte zu, die nun ihrerseits die Treppe hinauf flüchtete, aber auf jedem Absatz wartete. Auf unserem Podest blieb ich zunächst stehen, steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch, jagte das Vieh die Treppe hinauf, drehte mich blitzschnell um, öffnete die Tür und verschwand ohne das liebe Tier in der Wohnung. Durch das Schlüsselloch konnte ich beobachten‚ dass das liebe Tierchen offenbar weiter nach oben gestiegen war.
In der Schule wurde es erst in der siebenten und achten Klasse interessant. Unser Klassenlehrer, Herr Ernst Schuetz, ein großer Mann mit weißen Haaren und einer sonoren Stimme, lehrte uns alles, was für das Leben wichtig ist. Jeden Tag wurde ein Diktat geschrieben und diese Arbeiten wurden akribisch bewertet. Ordnung war sein Konzept und verband sich mit der Vorliebe für Musik von Bach. Bach ist nicht nur Musik, so lehrte er uns, sondern eine mathematische Gleichung. Nicht selten spielte er uns die Kantaten in der Aula vor. Dort mussten wir auch als Chor unter seiner Regie singen. Jeder Tag in der Schule begann damit, dass der Klassensprecher auf der Tafel die Sollzahl der Schüler und die Zahl der Anwesenden vermerkte. Fehlende Schüler wurden namentlich vermerkt und ins Klassenbuch eingetragen. Betrat Herr Schuetz den Klassenraum, standen alle Schüler auf und begrüßten den Lehrer. Seinem Unterricht zu folgen, war immer interessant. Da erzählte er uns einmal, dass es Menschen gäbe, die nicht lesen können. So sprachen sie ihn als Herr Schnetz an, weil sie das u
für ein n
gelesen hatten. Die Schultasche mit den Heften durfte ihm jeden Tag ein Schüler nach Hause tragen. Das war immer eine besondere Ehre!
Eines Tages mussten einige Schüler unserer Klasse — auch ich — den die Aufsicht habenden Lehrer in der großen Pause auf dem Schulhof unterstützen. Ziel war es immer, Zwist und Prügelei zu verhindern. Ich bemerkte etwas entfernt am Rande des Hofes einen heftigen Streit und einen beginnenden Schlagabtausch und lief eilends hin. Bei meinem Versuch, die Streitenden zu trennen, geriet ich selbst in das Gemenge. Das wiederum hatte der die Aufsicht führende Lehrer gesehen, doch die Situation falsch erfasst. Er zog mich an den Ohren fort und beschimpfte mich in übelster Form, was ich mir verbat. Beim Schulleiter stellte er die Situation so dar, dass ich Auslöser des Streites gewesen sei. Solche Schüler wolle er nicht mehr zur Unterstützung auf dem Hof haben. Der Schulleiter nahm auch meine Ausführungen zur Kenntnis, tendierte aber in Richtung Lehrer. Heulend ging ich in meine Klasse. Herr Schuetz hatte schon erfahren, was auf dem Hof und bei dem Schulleiter geschehen war. Er ließ sich von mir die Sachlage noch einmal schildern, umarmte mich dann und sagte: Das Leben sei nicht immer einfach und auch nicht immer gerecht. Auch bringe ein Widerstreit gegen Vorgesetzte oft nicht den erwünschten Erfolg. Besser sei es, wenn der Klügere nachgebe. Gehe in der nächsten Pause zu dem Lehrer und entschuldige dich.
Es fiel mir schwer, doch ich befolgte den Rat. Diesmal hatte der Lehrer in der dritten Etage die Aufsicht, stand vor einem Fenster, aß sein Brot und schaute hinaus. Ich stellte mich neben ihn. Was willst du?
sagte er ohne mich anzusehen. Ich will mich für mein Verhalten entschuldigen.
Antwort: Das kann ja jeder sagen.
Ich ging sehr betrübt und berichtete meinem Lehrer. Herr Schuetz sah mich lange an und sagte: Du hast alles richtig gemacht. Vergiss nichts und lass es dir eine Lehre sein für dein künftiges Leben.
Viele Jahre später habe ich zufällig erfahren, dass dieser Lehrer unehrenhaft aus dem Dienst entlassen wurde.
Mit Herrn Schuetz, der sich auch mit meinem Vater gut verstand, verbanden mich über die Schule hinaus viele schöne Begegnungen, ob zum Bachkonzert in der Philharmonie oder beim Schachspiel zu Hause bei seiner Frau. Er nahm an meiner Konfirmationsfeier in der Kirche der Berliner Stadtmission am Südstern teil und später durfte ich ihm auch Fräulein Helga Riegert, meine Verlobte, vorstellen. In den Gesprächen hatte ich dann auch erfahren, dass seine geliebte und sehr begabte Tochter 1945 mit 12 Jahren an Tbc gestorben war. Seitdem besuchte er die Grabstelle auf dem Friedhof in der Bergmannstraße beinahe täglich.
In der Zwischenzeit hatten wir uns — Günter Wenzel, Wolfgang Östereich und ich — zum Konfirmationsunterricht in der Berliner Stadtmission angemeldet. Praktisch die Fortsetzung vom Religionsunterricht in der Schule und doch anders. Hier wurde viel intensiver die Kirchengeschichte gelehrt, es wurde gesungen und aus der Bibel gelernt und anschließend diskutiert. Oft war unser Pastor Damrath anwesend. In Erinnerung sind die sogenannten Freizeiten — Ausflüge mit Übernachtungen in Zelten — in die Umgebung von Berlin. Auch eine neue Erfahrung, dass wir mit Mädchen die Fahrten unternahmen. Unsere wöchentlichen Treffen fanden in der Sakristei der Kirche am Südstern statt — früher einmal die evangelische Garnisonskirche von Berlin. Noch heute kann der Platz angeschaut werden, den seinerzeit Herr Hindenburg im Gottesdienst einnahm. Eines Tages besuchten uns christliche Pfadfinder und machten Propaganda für ihre Organisation. Von dem Tuch mit dem Knoten und von der Gürtelschnalle mit der Lilie waren wir schnell begeistert. Unsere Katechetin versuchte unsere Begeisterung zu bremsen. Wir sollten uns eine Mitgliedschaft sorgfältig überlegen. Schließlich folgte nach vorangegangener Prüfung die feierliche Konfirmation am 21. Mai 1950 in der Kirche der Berliner Stadtmission am Südstern. Ein überwältigender Augenblick und ein neuer Lebensabschnitt — wie ein Reifezeugnis. Mein Konfirmationsspruch aus Philipper 4 Vers. 13: Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.
Zu Hause wurde im kleinen Kreis gefeiert. Immerhin trug ich zum ersten Mal einen dunklen Anzug. Dabei fällt mir ein, dass meine Schwester Vera bereits 1945 in Hermsdorf in der Dorfkirche eingesegnet worden ist. Damals gab es keine Feier. Vera — fünf Jahre älter als ich — hatte bereits das Gymnasium beendet und verdiente sich in einer Kunstwerkstatt ein wenig Geld. Darüber war mein Vater sehr verärgert. Doch meine Schwester, einst sein Liebling, ließ sich mit fast 21 Jahren nichts mehr sagen. Es gab häufig Streit untereinander, der schon fast handgreiflich wurde.
Mit der Versetzung in die 9. Klasse erfolgte auch ein Schulwechsel in die Oberschule in der Dieffenbachstraße in Kreuzberg, weil die Räumlichkeiten in der Wilmsstraße begrenzt waren. Die Trennung von Herrn Schuetz fiel mir schwer. Neue Schule, neuer Lehrer — jung und voller Elan — war Offizier im letzten Krieg. Während des Unterrichts ging er durch die Reihen und knuffte die Schüler, die zur Gangmitte saßen, in die Schulter. Seltsamer Unterricht. Den Sportunterricht gestaltete er auch selbst. Es wurde auf dem Schulhof geboxt mit großen Handschuhen. Dazu ließ er einen Ring aufbauen und erklärte uns die Regeln. Die jeweiligen Gegner suchte er aus. So paarte er große und kleine Schüler oder die Schwächsten mit den Stärksten. So auch bei mir. Ich hatte den Klassenstärksten als Gegner und konnte mir das Ergebnis ausrechnen. Für mich gab es deshalb nur eine Lösung. Der Gong ertönte und die Gegner gingen jeweils aus ihrer Ecke mit nach vorn gestreckten Fäusten in Handschuhen zur Begrüßung in die Mitte, um dann zurückzutreten und mit dem Kampf zu beginnen. Ich ging auch mit gestreckten Fäusten in die Mitte, holte dann aber aus und traf meinen überraschten Gegner voll auf das Kinn. Der ging zu Boden. Also KO! Ein Moment des Schweigens. Dann wurde ich disqualifiziert und erhielt eine sechs im Sport. Ich aber hatte meine voraussehbare Niederlage vermieden und mir außerdem Respekt gegenüber dem Klassenstärksten verschafft.
In dieser Klasse wurden die Schüler schon auf mögliche Berufe vorbereitet. Es wurde diskutiert und es wurden Bewerbungen geschrieben. Wer eine Lehrstelle in Aussicht hatte, konnte die Schule auch vorzeitig verlassen. Mit meinem Vater hatte ich verschiedene Berufszweige erörtert. Er meinte, ich solle mich bei Siemens bewerben. Leider ohne Erfolg, wie sich aus dem Vorstellungsgespräch ergab. Es folgten viele Absagen und Enttäuschungen. Aber schließlich war die Bewerbung bei der Firma Riedel & Grund GmbH in der Körtestraße in Kreuzberg als Lehrling im Großhandel und Fabrikation (Großhandelskaufmann) zum 1. April 1951 erfolgreich. Damit endete meine Schulzeit ohne Übergang am 31. März 1951.