Vom Tellerwäscher zum Millionär
oder:
Der reiche Onkel in Amerika
Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zogen wir in unser neues Zuhause ein. Die Häuser waren regelrecht aus dem Boden gestampft worden, zunächst ohne Versorgungsleitungen, in billigster und schnellster Bauweise und ohne Heizung. Es ging in erster Linie darum, den vielen Ausgebombten und Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf zu errichten. Die Stadt Hamburg lag noch weitgehend in Trümmern, der Zuzug wurde durch die englische Besatzungsmacht geregelt und viele wohnten noch lange in Ruinen, Behelfsheimen und notdürftig aus Holz gebauten Baracken.
Für meine Eltern war es ein Neuanfang im neuen Zuhause, denn die Welt ihrer Kindheit in Ostpreußen gab es nicht mehr. Für mich war dies mein Zuhause, hier bin ich aufgewachsen und habe meine Kindheit und Jugendzeit verbracht. Meine Mutter erzählte oft von Zuhause
. Sie bekam dann einen verklärten Blick und träumte von ihrer Jugendzeit in Osterode in Ostpreußen, von ihrer Kindheit mit ihrem Bruder, den Pferden und dem Fuhrbetrieb des Vaters. Bei mir entstand dann oft der Eindruck, dass wir dieses Haus im Norden Hamburgs nur vorübergehend bewohnen würden.
Auf dem Gelände, das ab 1938 zur Germania-Kaserne gehörte und als Truppenübungsplatz genutzt wurde, errichte die Nordwestdeutsche Siedlungsgenossenschaft nach dem Krieg eine Siedlung mit Doppelhäusern und Selbstversorgergärten. Gegenüber zog eine Familie Freese mit ihren Kindern ein. Der Junge war in meinem Alter und wir freundeten uns an, spielten öfters auch miteinander. Ich erinnere mich, dass wir gern Murmeln spielten. Mit der Hacke wurde ein Loch im Gehweg gemacht. Dazu stellten wir uns auf die Ferse und drehten uns um die eigene Achse. Dann versuchten wir, die Murmeln möglichst in einem Zug in das Loch zu schubsen. Wer die wenigsten Versuche brauchte, hatte gewonnen und durfte alle Murmeln, die im Loch lagen, behalten. Hier machten sich die ersten sozialen Unterschiede bemerkbar, als die ersten Glasmurmeln bei den Mitspielern auftauchten. Die waren natürlich viel mehr wert, als die ollen ungeliebten Aschmurmeln aus glasiertem Ton, mit denen ich spielte, weil meinen Eltern das Geld für solche Kinkerlitzchen
fehlte. Zuerst wurde noch ein Tauschwert festgelegt, zwei Ascher
für eine Glaser
. Später wurde man einfach weggejagt und durfte nicht mehr mitspielen.
Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, erzählte mir mein Freund Schorsch von gegenüber etwas von einem fernen Land Amerika, in das er jetzt bald mit seiner Familie auswandern wollte. Dort waren die Leute alle unvorstellbar reich, hatten jeden Tag Berge voll mit Essen, fuhren alle in einem großen Auto herum und wohnten in riesigen, geheizten Häusern. Man konnte dort in einem Restaurant als Tellerwäscher anfangen und sich in kürzester Zeit bis zum Millionär hocharbeiten, erzählte er. Und, dass er so einen reichen Onkel in Amerika hätte, der ihnen bei ihrer Ankunft dort helfen würde.
Eines Tages war es wirklich so weit, ohne viel Aufhebens zog die Familie Freese aus. Es kam kein Umzugswagen, wie heute, denn kaum jemand besaß viel oder was das Mitnehmen gelohnt hätte, außer den mit Seegras gefüllten Matratzen und den Federbetten. Schon gar nicht, wenn es über den großen Teich
nach Amerika ging. Ich habe von meinem Freund Schorschi und seiner Familie nie mehr etwas gehört.
Aber meinen Vater musste die Auswanderung der Nachbarn sehr beeindruckt haben. Einmal fragte er mich, ob ich mir vorstellen könnte, als Gaucho über die Pampa zu reiten. Ich glaube, er trug sich damals wirklich mit dem Gedanken, nach Argentinien auszuwandern. Das lag wohl im Nachkriegsdeutschland im Trend. Argentinien, Chile und die Vereinigten Staaten von Amerika waren die Länder, in die bevorzugt ausgewandert wurde. Nein, als Gaucho auf einem Pferd durch die Pampa zu reiten war nicht mein Ziel, das konnte ich mir nicht vorstellen, wollte hier auch nicht weg und Pferde waren mir unheimlich wegen ihrer Größe und ihres Gewichts. Außerdem war ich ganz zufrieden hier.
Eines Tages kam ein Paket. Im Gegensatz zu heute, wenn ich jeden Tag in unserer Straße mindestens drei verschiedene Logistikunternehmen bei der Zustellung von Paketen beobachten kann, war es in den 1950er-Jahren schon eine Sensation, wenn ein Paket ankam. Auch sahen die Pakete damals völlig anders aus. Ein Karton wurde mit braunem Paketpapier umwickelt, das überstehende Papier wurde sorgfältig eingeschlagen und gefaltet, um anschließend mit Paketschnur über Kreuz umwickelt und verschnürt zu werden. Dort, wo die Schnüre zusammenliefen, wurde sorgfältig ein Paketknoten gemacht und nach Möglichkeit noch eine Schlaufe, damit sich das Paket gut tragen ließ. Paketpapier war kostbar, es wurde nicht zerrissen, sondern geglättet, gefaltet und aufbewahrt für das nächste Paket, was zu verschicken war. Klebeband gab es noch nicht, aber Paketschnur, die ebenfalls entknotet, aufgewickelt und zur Wiederverwendung aufbewahrt wurde.
Das Paket kam am Vormittag und sollte erst am Abend geöffnet werden, wenn die ganze Familie zusammen Abendbrot gegessen hatte, und das Paket kam aus Amerika! Die Zeit verging im Schneckentempo, nie hatte ich mich so darauf gefreut, dass mein Vater nach Hause kam. Endlich aber war es so weit, nach dem Abendbrot wurde die Paketschnur entknotet, die Schnur aufgerollt und das Paketpapier vorsichtig entfernt. Zum Vorschein kam ein Karton mit Deckel. Der Deckel wurde gelüftet und ein rosa Schlafanzug kam zum Vorschein. Der sah wie ein Strampelanzug aus, mit den langen Arm- und Beinlingen. Geschlossen wurde er mit einer Reihe von Knöpfen, die vom Schritt bis zum Halsausschnitt reichte. Hinten war eine mit Druckknöpfen verschließbare Klappe eingearbeitet. Und nein, es war kein Strampelanzug, schon gar nicht für Kinder, es war eine Männerunterwäsche, wie sie in Amerika getragen wurde. Und in Rosa! Ich weiß nicht, ob mein Vater den Anzug je getragen hat. An den weiteren Inhalt des Pakets kann ich mich nicht mehr erinnern, wahrscheinlich deshalb, weil für uns Kinder nichts dabei war. Aber ein Geldschein lag noch dabei, den der reiche Onkel
aus Amerika uns geschickt hatte, eine ganze Dollarnote. Das war damals sehr viel Geld, ein Dollar brachte im Umtausch vier D-Mark ein, so war der Wechselkurs. Und noch ein Foto lag dem Paket bei, das ich heute noch besitze. Der reiche Onkel aus Amerika
entpuppte sich als reiche Tante
, eine entfernte Verwandte meines Vaters mütterlicherseits. Wie genau wir miteinander verwandt sein sollten, wurde damals von den Eltern nicht weiter erklärt und von der Tante
habe ich auch nie wieder gehört.
Die entfernte Verwandte aus Milwaukee hat uns aber nie besucht, ihre armen Verwandten in Deutschland. Ein weiteres Paket hat sie uns auch nie zukommen lassen. Irgendwann aber tauchten in Mutters Haushalt rosa Putzlappen auf und einmal kam ein in Spanisch geschriebenes Dankschreiben für ein Paket aus Kuba an. Aber das ist eine ganz andere Geschichte… die Sie natürlich hier nachlesen können:Pakete in die Ostzone
[Klick …] …