Als die Briten kamen
In den ersten Nachkriegsjahren zogen wir von Hasloh nach Quickborn, meine Mutter, Olga (unser Dienstmädchen) und ich. Wir wohnten jetzt bei Tante Hertha, einer Schwester meiner Mutter. Sie lebte mit ihrem Sohn Wilfried in der Schulstraße.
Wilfried war fast so alt wie ich und durch ihn habe ich in Quickborn viele Freunde und Spielkameraden gehabt. Unsere Spiele waren gewiss anders als heutzutage. Wir haben Kippel-Kappel gespielt. Dazu wurde ein circa 20 Zentimeter langer Stock auf beiden Seiten angespitzt, auf die Erde gelegt und mit einem langen Stock auf eines der Enden geschlagen. Der Kippel flog rotierend hoch und musste dann in der Luft getroffen und möglichst weit weggeschlagen werden.
Mit Münzen (das zeigt, dass das Geld schon wertlos war) wurde Ditschen
gespielt.
Aus cirka einem Meter Entfernung wurden Geldstücke auf eine geglättete Fläche gegen eine Hauswand geworfen. Dessen Münzen am dichtesten an der Wand lagen, der durfte alle Münzen in die Hand nehmen. Die Münzen wurden einmal hochgeworfen, landeten auf dem Handrücken, wurden noch mal hochgeworfen und mit einem Griff aufgefangen. Alle Münzen die man erwischte, durfte man behalten.
Spielzeug konnte man nicht kaufen. Wir schnitzten uns deshalb kleine Schiffe aus dicker Baumrinde. Die Borke entfernten wir uns mit einem Messer von den alten Bäumen am Prophetensee. Als Ruder bekamen die Schiffe hinten eine Rasierklinge eingesetzt, und als Segel eine Hühnerfeder. Autos bauten wir aus einer großen hölzernen Garnrolle. Die Ränder wurden zackig eingeschnitzt. Durch das Loch der Rolle kam ein Gummiband. Auf die eine Seite kam ein Streichholz, auf die andere Seite ein langer Nagel. Dann wurde das Gummiband durch den Nagel aufgedreht, das ganze Gefährt auf die Erde gesetzt und durch die Kraft des aufgedrehten Gummibandes fing die Rolle alleine an zu laufen.
Für unsere Mütter war es sicher schwer, immer Essen anzuschaffen. Mein Großvater gab uns in Hasloh ein Stück Weideland und eine Kuh. So hatten wir jedenfalls schon mal täglich Milch. Kartoffeln und etwas Fleisch bekamen wir entweder vom Hof meines Großvaters oder von Tante Erna, die ebenfalls einen Bauernhof in Hasloh hatte. Später wurde meine Mutter Milchkontrolleurin (wahrscheinlich durch die früheren Beziehungen meines Großvaters). Sie brachte jeden Abend zwei Liter Milch mit. Zu damaliger Zeit ein gewaltiger Schatz. Wir haben nie hungern müssen, aber wie alle anderen Deutschen auch das fürchterliche Maisbrot gegessen.
Eines Tages kamen die Engländer. Mit einem Riesenlärm fuhren sie mit den Panzern durch die Schulstraße. Die englischen Offiziere beschlagnahmten dann sehr viele gut aussehende Häuser.
Ich weiß es noch wie heute. Ein Offizier der Besatzungsmacht betrat auch unser Haus und ging mit Tante Hertha durch die einzelnen Räume. In der Stube hing ein größeres Bild von Onkel Willi in Uniform, mit einem breiten schwarzen Seidenband bespannt. Onkel Willi war in Frankreich an der Front gefallen. Der Engländer salutierte vor dem Bild, verließ stillschweigend das Haus und wir brauchten nicht auszuziehen.
Dieser für mich ergreifende Vorfall hat mir schon damals gezeigt, dass sich auch im Krieg die höheren Ränge gegenseitig achten.
Als Kinder haben wir damals auch oft mit scharfer Munition gespielt, die die deutschen Soldaten auf der Flucht einfach weggeworfen hatten. Sehr viel Munition lag auch am Elsensee im Wasser. Wir hatten auch Dynamitstangen in der Hand, aus Respekt vor der Gefahr aber wieder beiseite gelegt. Sehr oft haben wir Flaschen mit Karbid und Wasser gefüllt. Die flogen dann nach kurzer Zeit in die Luft.
Nach einiger Zeit hatten wir uns als Kinder an die Soldaten der Besatzungsmacht gewöhnt Die englischen Soldaten sprachen uns oft an: Have you stamps?
Als wir begriffen, dass sie Hitlerbriefmarken haben wollten, sind wir ohne Scheu in die besetzten Häuser an der Bahnhofstraße gegangen. Unsere Briefmarken haben wir dort gegen Schokolade und Weißbrot getauscht
Auch bei meinem Großvater in Hasloh waren viele Zimmer von englischen Soldaten besetzt. Die Soldaten hatten eine ganze Horde riesiger Hunde (Windhundeart) bei sich. Auch hier gingen wir nach anfänglicher Scheu ein und aus. Jedes Mal konnten wir einige Köstlichkeiten abstauben. Bei uns gab es zu der Zeit solche schönen Dinge nicht zu kaufen.
Oft sind Wilfried und ich auch zu Tante Erna nach Hasloh gelaufen. Ungefähr fünf Kilometer. Dort trafen wir auch Peter Mohr. Tante Erna hatte vier Töchter. Auf dem Hof tobte für uns Kinder immer das Leben. Tante Erna hatte für uns immer etwas Besonderes. Wir bekamen roten oder grünen Wackelpeterpudding. Hin und wieder gab es auch mal eine amerikanische Zigarette.
Woher hatte sie all die unerreichbaren Dinge? Sie war eine junge Frau und sie hatte eine traumhafte Figur! Wenn wir aber darüber frech wurden, kamen wir in die stockdunkle Besenkammer auf der großen Diele. Das half.
Ja, Schwimmen habe ich in dieser Zeit auch gelernt. Im Prophetensee. Der hatte damals noch richtig Wasser. Als Hilfe diente mir eine ca. 80cm lange Gummiwurst mit Bändern, die wir von den Engländern geschenkt bekommen hatten.
Ein Erlebnis, das mich auch geprägt hat, waren gefundene Lebensmittelmarken. Wilfried und ich fuhren nach Hasloh. Auf der Kieler Straße in Höhe Elsensee lag eine Brieftasche und daneben, durch den Wind zerstreut, viele Lebensmittelmarken. Ohne diese Marken war damals ein vernünftiges Überleben kaum möglich. Wir sammelten die einzelnen Markenblöcke ein und brachten sie in Begleitung von Tante Hertha zu den Eigentümern. Funkersiedlung, Pinneberger Straße.
Anstatt eines Dankeschön oder einer Belohnung gab es nur ein Gekeife, weil einige Marken fehlten. Etwas Ähnliches habe ich später noch einmal erlebt. Das brachte mich zu der Erkenntnis, dass Ehrlichkeit im Leben nicht immer der richtige Weg ist, um weiter zu kommen.
Eines Tages stand mein Vater plötzlich vor der Tür, In einem langen, grau-braunen Filzmantel und aufgedunsen. Er war 1948 aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Auf dem Rückzug aus Russland wurde mein Vater in Schleswig-Holstein gefangen genommen. Die gefangenen deutschen Soldaten mussten vier Wochen bei Eutin auf einer Wiese leben und sich von Gras und Wasser ernähren.
Anschließend kamen sie nach Belgien und kurz darauf in ein Lager nach England. Da auch in England das Essen im Lager unter aller Würde war, meldete sich mein Vater für Feldarbeiten in der Landwirtschaft. Die Hoffnung, die Heimat wieder zu sehen, so weit weg, war nicht sehr groß. Einer Tages fand er in einer englischen Zeitung eine Annonce der Firma Pein u. Pein aus Halstenbeck. In diesem Augenblick wusste er, dass er eines Tages wieder nach Hause kommen würde.
Kurze Zeit nach seiner Anmeldung in Quickborn musste mein Vater zur Entnazifizierung nach Hasloh. Als er wieder nach Hause kam, habe ich meinen Vater das einzige Mal in seinem Leben weinen gesehen. Die oberschlaue Kommission aus Deutschen und Engländern hatte ihm vorgeworfen, Soldat gewesen zu sein. Er hätte sich weigern müssen. Bei Adolf Hitler wäre das einem Todesurteil gleichgekommen.
Dieses Ereignis war der Grund, warum ich mich später geweigert habe, zur Bundeswehr zu gehen.