Klönschnackoder
drei alte Schachteln?
Corona? Ich gehöre mit meinen 87 Jahren zur Risikogruppe und soll möglichst zu Hause bleiben.
Die Enkel kaufen für mich ein und versorgen mich mit allem, was ich brauche. Mir fehlen natürlich die Fahrt mit dem Stadtbus und der Kontakt zu den Menschen im Supermarkt. Um einigermaßen beweglich zu bleiben, bin ich in den letzten Wochen oft auf dem Wanderweg hinter unserem Haus spazieren gegangen, aber es begegnen einem immer dieselben Menschen mit ihren Hunden, und die Landschaft bleibt auch immer die gleiche. Mitte Mai habe ich entschieden, wieder selbst einkaufen zu fahren, obgleich jetzt auch noch erschwerend hinzukommt, dass alle eine Maske, die Mund und Nase bedeckt, an der Haltestelle, im Bus und im Supermarkt tragen müssen. Der vordere Teil im Bus, wo der Fahrer sitzt, ist von der Decke bis zum Boden mit Plastikfolie abgedeckt, um ihn vor der Ansteckung mit Corona zu schützen. Fahrkartenverkauf findet nicht statt. Im Vorverkauf oder an Automaten, die es nicht überall gibt, soll man sich mit Fahrscheinen versorgen, und dann? Soll man bei jeder Fahrt einen Fahrschein selbst entwerten und entsorgen? Wer macht denn so was? Ich nicht und andere Fahrgäste auch nicht, also fahren wir umsonst.
Ich bin mit meinem Einkaufswagen, dem sogenannten Hackenporsche
, unterwegs. Beim Schlendern durch die Gänge des Supermarktes ist es sehr verlockend, hier und da in den Regalen zuzugreifen, auch wenn ich den Artikel nicht unbedingt brauche. Der Hackenporsche ist bis zum Rand gefüllt. Ich schaue auf die Uhr, der Bus fährt nur alle Stunde und ist gerade weg. Das Wetter ist heute angenehm, windstill und zirka 18 bis 20 Grad warm. Ich entschließe mich, auf der Bank an der Bushaltestelle auf den nächsten Bus zu warten. Viele Menschen gehen an mir vorüber, mit und ohne Maske. Ich habe meine abgenommen, sie hängt nun um meinen Hals.
Eine ältere Dame kommt auf mich zu, auch mit heruntergezogener Maske, und fragt: Na, kommt der Bus gleich?
Nein
, antworte ich, der ist gerade weg und der Nächste kommt erst in ungefähr 50 Minuten, aber da das Wetter schön ist und keiner auf mich wartet, habe ich mich entschlossen, diesen zu nehmen.
Sie setzt sich auf ihren Gehwagen und meint: Auf mich wartet auch niemand, und bei dem Wetter sollte man sich im Freien aufhalten, ich warte mit Ihnen.
Sie schaut mich an, zeigt auf ihre Gesichtsmaske und fragt: Was halten Sie denn hiervon?
Nicht viel, erst erklärt man uns, dass die nichts nützen, und jetzt ist es Pflicht, sie zu tragen. Ich denke, unsere Generation hat ganz andere Zeiten im Krieg und in der Nachkriegszeit mitgemacht und überstanden, diese haben uns widerstandsfähiger und belastbarer gemacht, als es viele jüngere Menschen von heute sind.
Sie nickt mit dem Kopf und erzählt, dass sie, ihre Mutter und ihre Schwester kurz vor Kriegsende vor den Russen aus dem Osten geflüchtet und hier in Schleswig-Holstein hängen geblieben sind. Man habe sie damals sehr liebevoll aufgenommen und versorgt. Ihre Mutter und Schwester leben nicht mehr, aber schmerzlicher wäre der Verlust ihres Sohnes, der vor einiger Zeit mit 46 Jahrenam plötzlichen Herztod verstorben ist. Mir sitzt mit einem Mal ein dicker Kloß im Hals und den Tränen bin ich auch ganz nah. Ich sage mit zitternder Stimme: Mein Sohn ist kurz vor Weihnachten gestorben, er ist nur 63 Jahre alt geworden. Ich hätte gehen müssen und nicht er.
Haben Sie denn keine Enkel?
Doch, zwei Enkelsöhne und zwei Urenkelinnen
, antworte ich. Da weiß man doch, wofür es sich zu leben lohnt
, meint sie, und ich muss ihr recht geben.
Auf dem Fahrrad kommt eine weitere ältere Dame direkt auf uns zu und spricht die Dame an, mit der ich mich unterhalte. Was machst du hier, kennt ihr euch, warst du schon einkaufen?
Die Angesprochene zeigt auf mich und erklärt ihr: Wir sind gerade dabei uns kennenzulernen, die Dame wartet auf den Stadtbus und ich leiste ihr Gesellschaft.
Da mach ich mit, auf mich wartet niemand und Zeit habe ich auch.
Sie stellt ihr Fahrrad ab und setzt sich zu mir auf die Bank. Die erste Dame erzählt ihr von meinem Verlust kurz vor Weihnachten. Darauf berichtet die neben mir Sitzende, dass sie ihren Sohn, er war 15 Jahre alt, verloren hat an einer zu spät erkannten Blutvergiftung, aber sie habe noch drei Kinder, und vor seinem Schicksal kann man nicht davonlaufen, das Leben geht nun einmal immer weiter.
Sie schaut mich an und fragt: Ihr Sohn war 63 Jahre alt, darf ich sie fragen, wie alt Sie sind?
Ich antworte: Ich bin 87 Jahre alt.
Das hätte ich nicht gedacht, ich habe sie für jünger gehalten, denn ich bin 81 Jahre alt.
Zu der anderen Dame meint sie, du bist noch keine 80 Jahre, oder?
Die andere verneint und sagt: Aber im nächsten Jahr werde ich 80.
Plötzlich ruft die Dame mit dem Fahrrad: Ich sehe Ihren Bus kommen, nicht dass Sie ihn verpassen!
Mit Mühe erhebe ich mich nach dem langen Sitzen von der Bank. Die 81-jährige hat schon meinen Hackenporsche an den Straßenrand gestellt mit den Worten: Vielleicht trifft man sich mal wieder
, und beide rufen: Bleib gesund!
Gleichfalls
, rufe ich und steige in den Bus. Beide Damen winken mir mit lachenden Gesichtern zu, ich winke zurück.
Es gibt unvergessliche Tage, trotz Corona, dies ist so einer.