Verhaltensforschung mit Niko Tinbergen
An einem schönen Junitag 1952 setzte die Forschungsgruppe mit einem Hummerfischer über zu den kleinen Farne-Islands. Begrüßt wurde sie von einer Horde Seehunde, die in der Sonne ruhten und nun, aufgestört, ins Wasser planschten und neugierig die Menschen beäugten. Ruhig, wie die Dosen im Regal des Kaufmanns, saßen die Dreizehenmöwen Flügel an Flügel aufgereiht auf ihren Nestern, balancierend auf den angsterregend schmalen Simsen, die sich stufenförmig über die hohe Klippe ziehen. Die Forscher traten dicht an die Vögel heran, die aber ließen sich nicht stören und machten ruhig weiter beim Füttern ihrer süßen, silbergrauen Küken. Dazwischen bewegten sich ein paar Krähenscharben und dunkle Kormorane mit dem fantastischen, grünen Schimmer am Hals und bronzefarbenen Federn am Rücken. Sie bedrohten die Menschen mit Kopfschütteln und weit offenen gelben Schnäbeln. Im Hintergrund gab es lautstarke Diskussionen unter den Trottellummen. Über allem ertönte eine Lautsinfonie, wie man sie nur in solch gigantischen Vogelkolonien zu hören bekommt. Im Inneren der Insel wurde die Oxfordgruppe begrüßt vom Geschrei der Küstenseeschwalben, die an der Sandküste der St. Couthbert's Bucht ihren Tätigkeiten nachgingen. Überall führten Eiderenten ihre Küken, stets bedroht von den räuberischen Silber- und Schwarzkopfmöwen.
Staunend besichtigten die Doktoranden die mittelalterlichen Ruinen des Turms, der ehrwürdigen Kapelle und die Reste der Gebäude, die einst Heilige Mönche des berühmten St. Cuthbert beherbergten. Von einer hohen Klippe aus beobachteten sie Hunderte von Papageitauchern, die zu fliehen trachteten. In diesem Vogelparadies wollte das Farne-Islands-Commitee ein Zentrum für Feldstudien etablieren. Studenten sollten im restaurierten Turm wohnen, Tür an Tür mit den Vögeln. Es dauerte nur Minuten, und Doktorandin Esther Cullen verliebte sich in die Dreizehenmöwen, Tinbergen fand das in Ordnung, denn er hoffte, diese Spezies würde interessante Unterschiede zu den großen Möwen zeigen. Mike Cullen fand eine gute Gelegenheit, einige der über tausend Paare der hiesigen Küstenseeschwalbe zu studieren. Tinbergen erinnert sich So fanden wir Anschluss an diese seltsame, kleine Gilde Britischer Insel-Naturforscher, die alle die besten Jahre ihres Lebens an ähnlichen einsamen Orten verbracht haben, und immer, wenn wir uns treffen irgendwo – wir sehnen uns zurück auf unsere kleine Insel.
Die Cullens verbrachten drei Sommer auf Farne, vom frühen März bis Ende August. Niko begleitete das Forscherehepaar immer wieder für ein paar Wochen, half bei den Tests und machte seine Fotos und Filmaufnahmen von ihren Beobachtungen. Tinbergen fotografierte ohne Pause. In Leiden hatte er einem Kameramann assistiert bei etwas primitiven Filmen über die Stichlinge. In Oxford bekam er eine Bell & Howell Filmkamera mit Teleobjektiven, und Niko war begeistert. Auf diese Weise konnte er nicht nur seinem Jagdinstinkt leben, sondern auch seinem Bedürfnis, anderen zu zeigen, was er in der freien Natur gefunden hatte. Drei Filme hatte er in Norfolk über die Schwarzkopfmöwe gedreht, bevor er Esther Cullens Arbeit illustrierte, mit mehreren 20-Minutenfilmen in Schwarzweiß, in denen er sich auf Vögel mehr als auf Menschen konzentrierte, auf Resultate eher als auf den Prozess der Forschung. Eibl-Eibesfeldt, der selbst Kilometer von 16-mm-Film verschossen hat, schrieb später: Für die objektive Dokumentation visueller Verhaltensweisen braucht man Filmaufnahmen. Der Film fixiert Verhaltensweisen als
;Bewegungspräparate
. Das ist für eine vergleichende Arbeit ebenso wichtig wie für die spätere Überprüfung von Aussagen.
Vögel auf den Klippen zu beobachten war ein kaltes Stück Arbeit. Meist waren die Temperaturen recht niedrig, und in der Nässe, im starken Wind unter schweren Wolken brauchte man Zähigkeit und Geduld, vor allem für die Stunden geduldigen Harrens und Beobachtens, Notierens. Da nützten auch die dichtesten Klamotten und die dicken Handschuhe wenig. Und der Aufenthalt im Turm war alles andere als komfortabel, die Mauern hatten handbreite Risse, und es zog erbärmlich. Durch die Ritzen hörte man die Stare draußen singen, als säßen sie nebenan. Wie oft standen die Menschen kältezitternd mit dem Rücken am offenen Feuer. Der Holländer Tinbergen lernte, man musste früh beginnen, ein richtiger Brite zu werden!
Esther und ihre Kittiwakes
Die Dreizehenmöwe Rissa tridactyla trägt ihren englischen Namen nach dem ohrenbetäubenden Geschrei der Brutkolonien kiti-week
. Sie brütet auf Simsen und in Nischen an senkrechten Felswänden. Die Flügelspitzen sind schwarz, ähnlich wie bei der Sturmmöwe. Esther Cullen bemerkte darin aber individuelle Muster und fertigte Kennkarten über jeden Vogel an und konnte bald 30 Paare gut unterscheiden. Geduldig saß Esther tagaus tagein, und die Möwen übersahen sie bald als uninteressant. Ihr wichtigstes Augenmerk waren die Unterschiede zu anderen Möwenarten. Sie fand heraus: Diese lebten monogam, die Paare blieben fest zusammen über mehr als ein Jahr. Die Partner kannten sich persönlich, bauten gemeinsam das Nest. Das Männchen fütterte das Weibchen und beide gemeinsam die Küken. Auch Nachbarn erkannten sich. Esther staunte, wie zahm die Vögel waren, kaum kümmerten sie sich um Menschen oder um Silbermöwen, die sonst als Eiräuber gefürchtet sind. Silbermöwen stahlen ständig Eier von Eiderenten, nie aber von Kittiwakes. Esther schloss, die Zahmheit wäre entstanden mit dem Nisten auf extrem schmalen Simsen, schon dies schützte vor Räubern. Welcher Säuger würde es wagen, diese Klippen zu besteigen – nicht einmal der kühne arktische Fuchs. Und die Möwen brauchten deshalb auch keine Alarmrufe. Niko verglich sie mit dem Mann im feuersicheren Haus, der sich um keine Versicherung kümmert und das Geld für anderes ausgibt. Dafür aber sind die Dreizehenmöwen ständig damit beschäftigt, einander zu bedrohen, sich zu bekämpfen. Grund: sie haben Wohnungsprobleme. Andere Möwenarten brüten auf dem Boden und haben Platz, Kittiwakes aber kennen nur Klippen und jedes Paar will nahe bei den anderen und möglichst mitten in der Kolonie hausen. Andere Möwenküken verlassen das Nest und laufen umher. Nicht so die Kittiwakes. Die Kleinen bleiben dicht am Nest und gehen keinen Schritt weg, das ist lebenswichtig, wenn man keinen Platz hat. Aus Mangel an Räubern tragen sie auch kein Tarnkleid wie andere Möwenküken, sondern ihr hübsches Silberkleid. Esther mühte sich um das Verständnis der Funktion dieses unterschiedlichen Verhaltens – und fand, es sei entstanden durch die Evolution des Klippenbrütens. Und sie bemerkte: Anpassung prägt immer das ganze Lebewesen. Niko war hoch zufrieden mit den Ergebnissen, die seine Schülerin ihm vorlegte. Und bedauerte sehr, dass sie diese Art der Feldforschung aufgab. Sie machte noch einige Versuche an Stichlingen für Niko, zog ihre Kinder auf und meinte, sie sei eben nicht aggressiv genug für eine Forscherkarriere.
Und Niko bekam 20 Jahre später, zusammen mit Karl von Frisch und Konrad Lorenz, den Nobelpreis. Die Farne-Inseln haben nicht wenig dazu beigetragen.