Traktat über Strumpfhosen, Strapse und Pubertät
von Klaus Schwingel
Der unglücklichste Tag für uns Kinder war der Sonntag. Denn sonntags gab es frische Wäsche. Wir ergriffen die Flucht, wenn uns unsere Mutter morgens die Kleider zurechtlegte, die wir anziehen sollten.
Woche für Woche, Sonntag für Sonntag fochten wir unseren vergeblichen Kampf gegen die unerbittlichen Urgewalten mütterlicher Fürsorge. Wir versuchten es mit Protest. Vergebens. Wir versuchten es durch gutes Zureden. Umsonst. Wir versuchten es durch das Versprechen immer brav zu sein und waren bereit, auf alle Besitzansprüche, auf alle Wünsche zu verzichten. Ja, ich wäre bereit gewesen, niemals wieder mit meiner Schwester zu streiten. Aber unsere Mutter ließ sich nicht erweichen.
Wir hatten den Krieg mit all seinen Schrecken schadlos überstanden, den finsteren Bunker, den gespenstischen Keller. Doch nun, Sonntag für Sonntag widerfuhr uns seelische Grausamkeit in schlimmster Form. Wir brüllten unseren hilflosen Schmerz aus der misshandelten Seele. Wir protestierten. Wir flehten. Nichts half. Mutter blieb unerbittlich: Wir mußten frische Strümpfe anziehen! Selbstgestrickte Schafwollstrümpfe! Aus dicker, selbst gesponnener Schafwolle. Gestrickte Marterinstrumente! Sie kratzten bestialisch! Sicher gab es in jener Zeit auch feinste, weiche Baumwollstrümpfe. Aber wer konnte sich diese leisten? Für uns waren sie unbezahlbar. Pikanterweise kamen am 15. Mai 1940, also einen Tag nach meiner Geburt, in Amerika die ersten Nylonstrümpfe auf den Markt. Eine epochale Erfindung, die wenige Jahre nach dem Krieg auch deutsche Frauenherzen höher schlagen ließ - nicht nur Frauenherzen. Aus Gründen, die ich als Zehnjähriger noch nicht verstand, erfreuten sich die Nylons auch bei den Männern größter Beliebtheit. Welch ein Kontrast zu den derben, kratzenden Schafwollstrümpfen!
Im Sommer konnte man mit den schafwollenen Kniestrümpfen noch leben. Sie bedeckten nur den Fuß und die Waden, also Körperregionen, die verhältnismäßig unempfindlich sind. Aber wann war bei meiner Mutter einmal Sommer? Wie alle Mütter hielt sie fast jede Witterung für zu kalt. Selbst wenn sie mir ausnahmsweise Kniestrümpfe anzog, nutzte das nur wenig. Es war lediglich ein Aufschub, denn wenn montags oder dienstags das Thermometer um zwei Grad fiel, holte sie unwiderruflich die langen Selbstgestrickten aus dem Schrank. Ja, es bedurfte nicht einmal des Thermometers: ein Blick aus dem Fenster genügte ihr, und sie wusste ganz einfach, dass es zu kalt war. Ich empfand das als Willkür.
Und es war Willkür! Die verhassten Strümpfe hinterließen ihre gefürchtete Wirkung an der zarten Haut unserer Oberschenkel. Waren die Strümpfe nämlich frisch gewaschen, richteten sich spitze Wollenden borstig und hart gegen die empfindliche Haut. An Weichspüler und Aprilfrische war damals nicht zu denken. Einzig der Umstand, dass es noch keine Waschmaschine gab und meine Mutter alle Wäsche von Hand waschen musste, linderte unseren Frust. Denn aus diesem Grund wurden die Strümpfe nicht täglich, sondern nur einmal pro Woche gewechselt.
Waren die Schafwollenen einige Stunden oder gar einige Tage getragen, ließ das Kratzen nach. Die Wolle wurde von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag geschmeidiger und weicher. Allerdings nach einer Woche, wenn der Idealzustand erreicht war, begann die qualvolle Prozedur von Neuem. Damit die Durchblutung der Beine nicht beeinträchtigt wurde, besaßen die langen Strümpfe kein Gummiband, sondern wurden mit Strapsen gehalten.
Mädchen wie Jungen trugen Leibchen, an welchen die Strapse befestigt waren. Insgesamt vier. Zwei für jedes Bein. Jeweils einen Straps vorne und einen an der Seite. Hinten war kein Straps, damit wir beim Sitzen nicht behindert wurden.
Waren die Strümpfe groß genug, oder hatten sie sogar Übergröße, was bei neuen Strümpfen grundsätzlich der Fall war, wurden sie vorne bis zum Hüftgelenk hochgezogen und bedeckten so das ganze Bein. Hinten hingen die Strümpfe wegen des fehlenden Strapses immer etwas durch. Wurden die Strümpfe allmählich kleiner, weil wir ihnen entwuchsen, reichten sie nicht mehr aus, den ganzen Oberschenkel zu bedecken. Unter der kurzen Hose ließen sie dann vorne einen schmalen, hinten einen breiteren, mondsichelförmigen Streifen nackter Haut frei. Ein Bild für die Götter.
Bis 1950, also bis zu meinem zehnten Lebensjahr, waren die borstigen Selbstgestrickten mit Strapsen und die klar konturierten Streifen nackter Haut die bestimmenden Merkmale unseres Outfits. Später bekam ich Socken und lange Hosen, meine Schwester lange baumwollene, noch später Nylonstrümpfe, jeweils mit Strapsen. Besagter Streifen nackter Haut war natürlich unter einem Rock, der mit zunehmendem Alter immer länger wurde, keusch verborgen.
So wussten wir Jungen aufgrund unserer Kindheitserfahrungen stets, was die Mädchen mit Hilfe ihrer langen Röcke vor unseren Blicken verbargen. Wir machten jedoch kaum unsere ersten pubertären Erfahrungen, indem wir begannen, uns dem geschwungenen, vertrauten Streifen nackter Haut erneut und diesmal mit völlig anderem Interesse zuzuwenden, als unsere Erwartungen schlagartig zunichte gemacht wurden: Ein deutscher Strumpfhersteller hatte die Strumpfhose erfunden, die einen gigantischen Siegeszug antrat und die Welt wie keine andere menschliche Errungenschaft revolutionierte. Das Zwanzigste Jahrhundert wird in zahlreichen, irreführenden Zusammenhängen gesehen. Rückblickend muss ich jedoch sagen, das zu Ende gehende Jahrhundert war nicht das Jahrhundert der Raumfahrt, nicht das Jahrhundert des Automobils, nicht das Jahrhundert der Kommunikationstechnik: Das Zwanzigste Jahrhundert war das Jahrhundert der Strumpfhose! Und ich gehöre einer männlichen Generation an, die den daraus resultierenden postpubertären Schock bis ins Alter nicht überwinden konnte.
Im Einundzwanzigsten Jahrhundert werden Raumfahrt, Automobil und Computer nur noch marginale Bedeutung haben, die Weltordnung wird Veränderungen gigantischen Ausmaßes erfahren, Weltmächte werden zugrunde gehen und neue an ihre Stelle treten, die Welt wird nicht mehr sein, wie sie war und was sie war, wenn es der Mensch nicht sogar schafft, sie total zu vernichten, aber die Strumpfhose wird überleben!
Wenn die Erde einst als übel riechender, verstrahlter, unbewohnter Mülleimer durch den Weltraum rast, wird aus einem unvorstellbar hohen Berg von Müll ein Fahnenmast emporragen, an dem triumphierend und zum letzten Gruß eine Strumpfhose weht. Das wird der endgültige und unwiderrufliche Sieg der Strumpfhose über die Strapse sein. Eine Welt, in der ich wahrhaftig nicht mehr leben möchte.
Das Ziel neu erwachter Neugier und beginnender Begierde, der Streifen nackter Haut, der nur von Strapsen überbrückt wurde, ward uns genommen, bevor wir auch nur eine Chance hatten, ihn zu erkunden. Die Strumpfhose hatte einen pubertären Traum zerstört, den nur meine Generation verstehen wird. Das habe ich mittlerweile verstanden... Es sollte jedoch noch schlimmer kommen. Mit der Pubertät meiner Generation erwachten die Suffragetten aus ihrem fünfzigjährigen Dornröschenschlaf und kamen als Emanzen wieder. Mit Schuhen und Strümpfen zogen sie über das zarte Pflänzchen unserer erwachenden Männlichkeit her, unsere geheimsten, scheuesten Gefühle und Empfindungen brandmarkten sie als chauvinistisches Machogehabe. Immer nur das „Eine“ hätten wir im Kopf, was zwar stimmte - ich kann es nicht leugnen - aber es war ganz neu in unseren jungen Köpfen. Noch bevor wir überhaupt etwas getan hatten, fragten wir uns unvermittelt, was wir falsch gemacht hatten.
In aberwitziger Einmütigkeit beraubten uns Strumpfhose und Emanzen einer glücklichen Pubertät, womit endlich einmal erklärt wäre, weshalb gerade in den letzten 50 Jahren psychotherapeutische Praxen wie Pilze aus dem Boden schossen.
Das musste einmal gesagt werden.