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Der Altonaer Hof
Ein besonderes Gasthaus am Ochsenzoll auf Garstedter Gebiet
Teil 3, Nach dem Krieg

Herr Habermann versuchte nach dem Kriege, sein Lokal wieder zu beleben, doch es gelang ihm nicht. Vielleicht war er inzwischen dafür auch schon zu alt. Außerdem hätte er mit der ungeliebten Einwohnerschaft vorlieb nehmen müssen. Wer hätte sonst kommen sollen? Autos gab es kaum. Höchstens die englische Besatzungsmacht. Das Lokal wurde von einem Gastwirtsehepaar übernommen, welches zuvor das Offizierskasino in der Kaserne Hamburg-Rahlstedt betrieben hatte. Sie brachten frischen Wind in den Betrieb. Ihre früheren Verbindungen sorgten dann wohl auch dafür, dass sich englische Soldaten und Offiziere oft dort einfanden. Eine nette kleine Musik-Kapelle sorgte für Unterhaltung. Ihre Leitmelodie war Wochenend und Sonnenschein… Anscheinend handelte es sich um den Teil eines größeren Ensembles, welches eigentlich im Orchideen-Cafe in Planten un Blomen spielte, wie Kurt und ich an Ort und Stelle feststellen konnten. Ein freundliches Kopfnicken mit dem Kapellmeister bestätigte später auch unsere lose Bekanntschaft.

Meine Tätigkeit in der Gemeindeverwaltung Garstedt beim Ordnungsamt brachte es mit sich, dass mit dem Gastwirtsehepaar eine Verbindung entstand. Ich war zuständig für die Tanzerlaubnis, die damals noch notwendig war und in der Regel erteilt wurde. Er war ein großer schlanker Typ mit einem etwas ungewohnten Gesicht. Seine Frau machte den Eindruck einer gepflegten Landadeligen. Beide waren aber durchaus sympathisch.

Also wurde der Altonaer Hof fortan unser sonntägliches Vergnügen. Aus dem Freundeskreis schlossen sich mehrere gern an. Peter, Kurt und drei Schwestern gehörten mit wechselnden Partnern zur Gruppe. Unseren Platz hatten wir fast immer auf der kleinen Empore gegenüber der Kapelle. Dort konnte man alles übersehen. Einen kleinen Imbiss nahmen wir meist am runden Tisch im Schankraum ein. Es waren schon skurrile Speisen, die uns serviert wurden. Roter Heringssalat gehörte dazu und andere Köstlichkeiten, die der Koch in der Küche zauberte und die für uns oft nur schwer zu definieren waren ‒ aber oft gut schmeckten. Man gab sich Mühe, mit dem Wenigen gut umzugehen und es sauber und ordentlich dem Gast anzubieten. Es wurde serviert auf silbernen Tabletts und kleinen Schälchen, ganz so, als hätte man es mit Kaviar und Hummer zu tun. Allerdings musste man Bezugsmarken abgeben, Brot-, gegebenenfalls auch Fettmarken. Die Preise dagegen waren für Speisen und Getränke normal, also relativ niedrig. Was an Getränken geboten wurde, vermag ich nicht mehr genau zu erinnern. Bier und Bohnenkaffee gab es nicht. Allgemein wurde ein künstliches Heißgetränk geboten, welches auch kalt getrunken wurde. Möglicherweise gab es auch Muckefuck, einen Ersatzkaffee aus Getreide. Am Tisch der englischen Soldaten sah es anders aus, die brachten für sich und ihre deutschen Gespielinnen Hochprozentiges mit, deshalb auch ihre Beliebtheit.

Viele der Besucher kamen aus Hamburg. Wie mir mein Freund und früherer Kriegskamerad Kurt berichtete, kamen sie deshalb nach Schleswig-Holstein rüber, weil die Besatzungsmacht in Hamburg Tanzveranstaltungen noch nicht freigegeben hatte. Man befürchtete Zusammenstöße zwischen den englischen Soldaten und deutschen Jugendlichen. In Schleswig-Holstein bestand diese Befürchtung wohl deshalb nicht, weil weniger Tanzlokale vorhanden waren. Der kurze Anmarschweg vom Bahnhof Ochsenzoll zum Altonaer Hof, etwa zehn Minuten machte den Hof besonders attraktiv für sie.

Den Eingang zum Hof, das war die gebräuchliche Abkürzung, bewachte ein Portier im schlichten Straßenanzug. Er fiel auf durch seine lange spitze Nase und seine etwas fliehende Stirn. Er hatte fast Ähnlichkeit mit der Comicfigur Nick KnattertonKnattertonNick Knatterton war eine zwischen 1950 und 1959 in der deutschen Illustrierten Quick erscheinende Comicserie mit der Hauptfigur eines Meisterdetektivs gleichen Namens.Siehe: Wikipedia.org. Und noch etwas hatte er mit ihr gemeinsam: Er war so eine Art Privatdetektiv, zuständig für Auskünfte aller Art. Weil ich im Meldeamt tätig war, konnte ich ihm manchen Gefallen erweisen. Einen Täterschutz, der sich heute Datenschutz nennt, gab es damals noch nicht. Er war aber ein freundlicher und umgänglicher Mensch und wohnte gegenüber dem Garstedter Rathaus.

Im Vordergrund stand das Tanzvergnügen. Eine gute Musik garantierte das. War die Zeit etwas fortgeschritten, machten sich die Engländer gern bemerkbar ‒ aber nicht unangenehm. Ein Soldat stand während des Tanzes inmitten der Tanzenden und dieser wurde von einem anderen auf dem Podium, der den Betrieb nicht einsehen konnte, weil er stand mit dem Rücken zur Tanzfläche stand, mit lauten englischen Kommandos geleitet. Er dürfte also in etwa gehört haben: Zwei Schritte vorrechts umdrei Schritte vor und so weiter. Kam dann der Befehl Stopp, griff er zu und hielt ein Tanzpaar fest. Dieses bekam dann eine Tafel Schokolade ‒ und das war was Besonderes in dieser Zeit. Da gab es so manche bizarren Tänze zu sehen, wie z.B. den Zittertanz, bei dem man sich benahm, als sei man eben vom Blitz getroffen worden. Das Tanzpaar winkelte den Arm der Führungshand an und vollzog mit ihm ganz kleine schnelle Hübe, die sich auch auf den Körper übertrugen. Ob es schön aussah, weiß ich nicht, aber man versuchte, es jenen Tanzpaaren gleich zu tun, die sich so produzierten. Das war doch mal was Neues. Auch die Beobachtung der Typen war interessant. Da fällt mir der Edmund ein, ein schlaksiger junger Mann, etwas älter als ich, der über das Parkett mehr schlich, als ging er auf seinen dicken Kreppsohlen. Er trug die blonden Haare lang nach hinten, die Haarenden im Jackenkragen seines teuren Nadelstreifen-Zwirns versteckt. Er soll Fliegeroffizier gewesen sein. Aber bei der Luftwaffe galten sowieso andere Gesetze. Edmund war der Stiefsohn einer Frau, die mit ihrer netten Tochter Vera am Stockflethweg wohnte. Sie hatte meiner Mutter einige Male die Haare gemacht, sie war Frisörin. Übrigens: Kreppsohlen waren der große Schlager der Zeit. An die kam man aber nur mit Beziehungen. Und Beziehungen hatten eigentlich nur die Schwarzhändler. – Womit der Edmund sein Geld verdiente, hab ich nie erfahren.

Aber wer trieb keinen Schwarzhandel? Ein jeder bemühte sich irgendwie, in diese Branche hineinzukommen, aber nur wenige hatten Glück und Beziehungen. Selbst der Bruder von Peter betrieb einen kleinen Schwarzhandel, er verkaufte Feuersteine, ein rarer Artikel, es gab auch kaum Streichhölzer. Ich glaube, das Stück kostete damals 2,- Reichsmark. Ein Brot war für etwa 10,- Reichsmark und ein Pfund Butter für etwa 80,- Reichsmark auf dem schwarzen Markt zu erhalten. Da nahm man zum Braten schon lieber Fischöl für etwa 20,- Reichsmark den Liter. Ein begehrter Schwarzmarktartikel war Zucker, der für ein paar hundert Reichsmark sackweise umgesetzt wurde. Man konnte aus Zucker recht einfach Schnaps brennen. Man tat eine oder zwei Rheila-Hustenperlen hinein, und das Zeug hatte Geschmack. Im Keller des Altonaer Hofes verkaufte der Toilettenmann schwarz englische Zigaretten. Das war das Selbstverständlichste von der Welt. Eine Senior Service kostete 10,- Reichsmark, andere Zigaretten waren etwas billiger. So eine Senior gönnte man sich ab und zu; sie war etwas Besonderes. Ihr Rauch war angenehm und roch betörend. Ihr Genuss führte zu einem leichten Rauschzustand, was nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen war, dass man nichts Vernünftiges im Magen hatte. Wenn man bedenkt, dass mein Monatsgehalt damals etwa 110,- Reichsmark betrug, war der Kauf einer solchen Zigarette reiner Leichtsinn!

Einmal kam der Wirt zu mir auf das Amt und hatte eine junge Dame an seiner Seite. Er stellte sie mir als seine neueste Errungenschaft vor mit dem Hinweis, dass diese Dame bei ihm singen sollte. Ich traute meinen Augen nicht ‒ wenn mich nicht alles täuschte, war das die junge blonde Dame aus Lübeck, die ich im Café Niederegger kennen lernte und die mich im Ratskeller gegen zwei junge Marine-Offiziere eintauschte. Gegen die Marine hatte ein Landser keine Chance. Ihren Namen wusste ich allerdings nicht; es war ja nur eine sehr kurze Bekanntschaft. Ob sie mich ihrerseits wiedererkannte, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist es mit dem Singen nichts geworden. Anscheinend gehörte sie zu jenen Schmetterlingen, die von Blüte zu Blüte schwirrten, um zu versuchen Nektar zu tanken. Solche Typen gab es damals viele. Jeder musste versuchen, irgendwie durchzukommen.

Es könnte der Winter 1946/1947 gewesen sein, es war saukalt und dunkel als Peter und ich nach einem Besuch im Altonaer Hof nach Hause schlenderten. Unser Gespräch drehte sich um Zukunftsfragen. Wie lange wird es noch dauern, bis diese steten Provisorien überwunden sind und ein allgemeiner Aufbau zu verspüren ist. Wir beide waren uns einig, dass es lange dauern würde. Der eine schätzte 30 Jahre, der andere etwa 50 Jahre. Das würde also heißen, dass vor 1980 kaum mit einer positiven Veränderung zu rechnen sein würde. Die Kälte, die uns den Rücken herunter lief, ließ sich bei solchen Aussichten absolut nicht vertreiben und wir beschleunigten unseren Heimmarsch. Die Sperrstunde der Besatzungsmacht trieb uns sowieso dazu, rechtzeitig heim zu kommen. Ab 22.00 Uhr musste man mit Kontrollen rechnen. Diesen Umstand hatte insbesondere auch das Hamburger Publikum im Hof zu berücksichtigen. Man musste zusehen, die Bahn rechtzeitig zu bekommen.


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