Das dritte Kind
Eigentlich wollte ich mit ihm lachen oder auch streiten, was bei Geschwistern nicht selten ist, und gerne hätte ich ihn Bruder
genannt. Aber es war nicht möglich, denn er kam 50 Jahre zu früh auf diese Welt. Es war ein Schicksalsschlag, an dem die Familie fast zerbrach und der noch immer nachwirkt. Ein Schicksalsschlag, der heute in dieser Art nicht mehr vorkommen sollte.
Es war 1956 und ich war zehn Jahre alt, mein kleiner Bruder zwei, als meine Mutter mir sagte, dass sie im nächsten Jahr wieder ein Baby bekommt. Ich war über diese Mitteilung keinesfalls erfreut, denn ich hatte schon genug mit einem kleinen Bruder, den ich immer beaufsichtigen musste, wenn ich meine Freizeit lieber mit meinen Freundinnen verbringen wollte. Und jetzt noch so eine Nervensäge, die immer dabei ist und auf die ich aufpassen sollte? Es kam viel schlimmer, als ich es mir vorstellen konnte.
Von Anfang an schrie der neugeborene kleine Junge den ganzen Tag. Er ließ sich mit nichts beruhigen. Heute nennt man es Schreikind
. Mit zunehmendem Alter ließ das Schreien zwar nach, aber es war keine normale Entwicklung des Babys zu erkennen. Der Junge reagierte weder auf Geräusche, noch verfolgte er mit den Augen Gegenstände, die sich bewegten. Er wurde von Fachärzten untersucht, die Blindheit und Taubheit ausschlossen. Als die Entwicklung kaum merklich voranging, wurde er lange in der Neurologie der Universitätsklinik untersucht. Die Diagnose war niederschmetternd: Schwerster Gehirnschaden, Idiotie nannte man es damals.
Für meine Eltern war dies ein großer Schock, denn zu der Belastung mit einem schwerstbehinderten Kind kam auch noch das Stigma geistig behindert
. Körperliche Behinderung wurde akzeptiert, aber bei geistiger Behinderung wurde sofort eine Schuld der Eltern vorausgesetzt. Vermutet wurde meistens Alkoholsucht. Das konnte bei meinen Eltern nicht der Fall sein, denn in meinem sparsamen Elternhaus war Alkohol schon aus Kostengründen tabu. Was war die Ursache? Die Ärzte zuckten mit den Schultern. Man einigte sich darauf, dass es eine nicht erkannte Hirnhautentzündung nach der Geburt war. Auch weil der Junge in seinen ersten Tagen so lange schrie.
Dennoch sah mein Stiefvater seinen kranken Sohn als persönliche Schande
an. Er sorgte dafür, dass finanzielle Mittel vorhanden waren, aber er ignorierte ihn völlig. An der Pflege beteiligte er sich in keiner Weise. Auch auf den Steuerfreibetrag, den er für ein behindertes Kind bekommen hätte, verzichtete er aus Angst, es konnte etwas bekannt werden, die Kollegen könnten von der geistigen Behinderung des Sohnes erfahren und hinter seinem Rücken abfällig reden.
Die Pflege in den kommenden Jahren blieb allein bei meiner Mutter und mir hängen. Anfangs war es noch einfach, denn jeden Säugling muss man füttern und wickeln. Als er dann größer wurde, lernte er zwar sitzen und auch unbeholfen laufen, aber es waren niemals menschliche Gefühle wie Freude, Trauer, oder Wut bei ihm zu erkennen. Die Umwelt nahm er nicht wahr. Er erkannte weder seine Mutter noch mich. Die Augen waren leer und er gab nur unartikulierte Laute von sich. Wegen dieser fehlenden menschlichen Emotionen konnte ich auch keine Beziehung zu ihm aufbauen.
Der Junge wurde älter und man konnte ihm ansehen, dass etwas nicht stimmte. Die Leute blieben stehen, wenn ich ihn im Sportkinderwagen spazieren fuhr, sie sparten nicht mit Kommentaren wie: Warum wird das große Kind noch im Kinderwagen gefahren?
, So was sollte weggesperrt werden
und beim Hitler hätte man…
. Später, als er tatsächlich zu groß für den Kinderwagen war und wir inzwischen im eigenen Haus wohnten, durfte er anfangs noch in den Garten. Hier musste ich ihn beaufsichtigen, denn er aß alles, was er mit den Händen greifen konnte. Er zeigte auch keine Vorliebe oder Abneigung beim Essen.
Nachbarn und Spaziergänger blieben am Gartenzaun stehen und tuschelten oder machten sich laut Gedanken über die vermeintlich Schuldigen
. Manche wünschten sich wieder Zustände wie im Dritten Reich
oder meinten, das sei Gottes Strafe. Es war sehr verletzend für uns. Als mein Stiefvater dies erfuhr, durfte der Junge nicht mehr in den Garten. Er bekam das Balkonzimmer, damit er dort an die frische Luft kam. Es sollte kein Außenstehender von der Schande
erfahren. Wir isolierten uns immer mehr. Auch ich lud keine Freundinnen mehr ein, bis auf meine beste Schulfreundin, die von Anfang an alles mitbekam. Sie nahm die Situation als selbstverständlich hin und war mir eine große Hilfe.
Je älter das Kind wurde, umso mehr entwickelten sich seine körperlichen Kräfte. Meine Mutter und ich konnten ihn bei der Körperpflege und beim Windeln kaum festhalten. Er widersetzte sich jeder körperlichen Berührung. Der kräftige Stiefvater aber rührte keinen Finger, wenn er zu Hause war. Das war selten der Fall, denn er vergrub sich in seine Arbeit, um nicht zu Hause zu sein. Ich half so gut ich es konnte, weil es getan werden musste. Ich war damit häufig überfordert, denn ich war ja damals selbst noch ein Kind. Das wurde von den Eltern kaum wahrgenommen, denn ich war ja die Große
. Ich bekam auch oft Entschuldigungsschreiben für die Schule, wenn ich für besondere Aufgaben zu Hause gebraucht wurde. Trotzdem litten meine schulischen Leistungen nicht darunter, denn ich ging gern zur Schule, auch weil ich froh war, von Hause wegzukommen. Die Ferien waren mir in dieser Zeit ein Graus.
Durch die ganze Situation bekam auch mein anderer kleiner Bruder weniger Aufmerksamkeit als er benötigte, denn meine Mutter und ich waren ständig mit dem behinderten Kind beschäftigt und der Vater war selten anwesend. Ich sah, wie er litt.
Meine Mutter erkrankte nach einiger Zeit schwer an Asthma. Sie konnte lange Zeit nur im Sessel schlafen, denn im Bett bekam sie Erstickungsanfälle.
Die Ärzte bedrängten meine Mutter, das Kind in ein Heim zu geben. Es wäre besser für sie und die ganze Familie und der Junge bekäme ohnehin nichts mit. Das lehnte sie lange Zeit kategorisch ab. Nicht zuletzt deshalb, weil sie Sorge hatte, was die Leute über sie denken könnten, wenn sie ihr Kind weggibt. Die Situation wurde immer dramatischer und als der Junge fünf Jahre alt war, gab meine Mutter den Widerstand auf und willigte ein, dass er in ein Pflegeheim kommt. Ich denke heute, dass das Wort Pflege
damals nicht angebracht war. Man sagte auch nicht Pflegeheim
, sondern nannte es Irrenanstalt
.
Das Asthma meiner Mutter hörte nach der Einlieferung schlagartig auf. Auch mein inzwischen achtjähriger Bruder wurde wieder wahrgenommen. Ich sehnte mich nur weg aus dem Elternhaus und weg von den angeblich mitleidigen Nachbarn. Ich habe meinem Stiefvater nie verziehen, dass er die Situation in unserem Haus völlig ignorierte und meine Mutter und mich mit der Versorgung seines behinderten Sohnes alleine ließ.
Mutter besuchte ihren Jungen häufig im Heim. Sie hoffte, dass irgendwann eine Besserung erkennbar sein würde, doch diese Hoffnung wurde niemals erfüllt. Ihr drittes Kind starb dort im Alter von 15 Jahren.
Als ich einige Jahre später selber schwanger wurde, bekam ich den erst seit kurzem eingeführten Mutterpass. Hier war auch meine Blutgruppe eingetragen: Blutgruppe B-Rhesus Faktor Negativ. Mein Arzt nahm sich viel Zeit und klärte mich über die Besonderheiten des Rhesusfaktors auf. Ich gebe es hier vereinfacht wieder: Ungefähr 15 Prozent aller Menschen haben den Rhesusfaktor negativ, die restlichen 85 Prozent den Rhesusfaktor positiv. An sich ist das ohne Bedeutung. Aber wenn eine Frau mit Rh-negativ von einem Mann mit Rh-positiv schwanger wird, gibt es Komplikationen, wenn das Kind den Rh-positiv Faktor hat. Nach der prozentualen Verteilung ist diese Wahrscheinlichkeit sehr hoch. Die Geburt des ersten Kindes ist noch problemlos. Nach der Geburt kommt es zu einer Rhesusunverträglichkeit für die folgenden Schwangerschaften, denn das Immunsystem will den vermeintlichen Fremdkörper
abstoßen. Es kommt meistens zu einer Fehlgeburt. Wird das Kind aber ausgetragen, sind die Folgen der zerstörerischen Antikörper verheerend. Das Kind kommt mit schweren und schwersten Behinderungen zur Welt. Mein Arzt sagte mir, dass man heute (1967) bei einer zweiten Schwangerschaft einen Blutaustausch beim ungeborenen Kind macht, damit auch dieses ohne Schädigung zur Welt kommen kann.
Nach ein paar Monaten hielt ich glücklich ein gesundes Kind in meinen Armen. Ich wollte das Schicksal nicht herausfordern und beließ es bei dem einen Kind.
Nach dem Gespräch mit dem Arzt wurde mir schlagartig klar, warum das dritte Kind meiner Mutter so schwer behindert war. Ich recherchierte und stellte fest, dass bei uns alle Fakten für eine Rhesusunverträglichkeit gegeben waren.
Als ich meine Mutter damit konfrontierte, wollte sie davon nichts wissen. Sie meinte, es wäre nun ihre Schuld
wegen ihrer falschen
Blutgruppe. Sie wollte lieber an eine frühkindliche Hirnhautentzündung glauben. Es gab und gibt keine Schuld oder Schuldige für das erbärmliche Leben des dritten Kindes
. Die medizinische Forschung und Erkenntnisse waren noch nicht so weit. Der Bruder kam Jahrzehnte zu früh auf diese Welt.
Heute bekommen Frauen mit dem Blutgruppen-Faktor Rh-negativ obligatorisch eine Impfung, eine Anti-D-Immunglobulin-SpritzeDie Rhesus-Inkompatibilität (Synonyme Rh-Inkompatibilität, Rhesusunverträglichkeit) ist eine Blutgruppenunverträglichkeit gegen das Rhesusfaktor-Antigen D
zwischen Rh-negativer (Rh−, rh, Genotyp dd) Mutter und Rh-positivem (Rh+, Rh, Genotyp Dd, dD) Kind. Sie kann zur Auflösung kindlicher roter Blutkörperchen (Erythrozyten) (Hämolyse) führen. In schweren Fällen entwickelt sich ein Morbus haemolyticus neonatorum mit Hydrops fetalis.Siehe Wikipedia.org während der Schwangerschaft, damit es erst gar nicht zur Bildung einer Rhesusunverträglichkeit kommt. Leider meinen einige Impf-Verweigerinnen aus Angst vor seltenen und hinnehmbaren Nebenwirkungen, dass sie auch durch eine gesunde Lebensweise diese Auswirkung verhindern können. Wie fatal! Das Leid, von dem unsere ganze Familie betroffen war, wäre heute durch die Impfung in dieser Form nicht mehr geschehen.
Es wäre aber besser erträglich gewesen, wenn die Krankheit geistige Behinderung
nicht so stigmatisiert wäre und das Umfeld nicht so dummdreist darauf reagiert hätte. Etwas mehr Verständnis oder einfach zwangloses und vorurteilsfreies Verhalten gegenüber Behinderten und ihren Familien wäre angebracht.
Ich habe diese Geschichte aufgeschrieben, um die schwere und schwerste geistige Behinderung, die es auch aus vielfältigen anderen Gründen gibt, aus der immer noch bestehenden Tabuzone zu holen und auch als Appell an alle Nichtbehinderten, fair mit den Betroffenen umzugehen.