Mein letzter Wille …
… Frau mit Brille!“ Hahaha! Das war der Spruch der Jungs 1960, als ich 14 Jahre alt war. Wir Mädchen lachten mit, ohne groß darüber nachzudenken, wie sich wohl die wenigen Mädchen mit Brille dabei fühlten – auch ich. Es ging nur ums Dazugehören und Spaß zu haben.
Mit 14 Jahren kam ich in die Lehre – höhere Schule war für Mädchen angeblich unnötig, „denn sie heiratetet ja sowieso bald“. Wir waren eine lustige Gruppe von Lehrlingen, heute sagt man Auszubildende: zehn Jungen und drei Mädchen. Wer den besten – später sagte man coolsten – Spruch brachte, war hoch angesehen.
Eine Zeitlang saß ich mit Axel** Name geändert, einem älteren Lehrling in einem Büro. Unsere Schreibtische standen sich gegenüber. Er war schon im dritten Lehrjahr und fühlte sich überlegen, was er mir ständig zeigte. Eines Morgens kam er mit einer Brille auf der Nase an. Endlich hatte ich einen Grund, ihn auch mal aufzuziehen. „Haha, wie siehst du denn aus?“ Er nahm es gelassen. Als mir die Stichelei zu langweilig wurde, fragte ich: „Lass mich doch mal deine Brille aufsetzen – ich will sehen, wie ich mit sowas aussehe.“ Er gab sie mir bereitwillig, jetzt fühlte er sich noch wichtiger als zuvor.
Ich setzte sie auf und in diesem Moment traf mich der Schock meines Lebens: Die Bäume draußen hatten plötzlich einzelne Blätter! Zuvor wirkten sie wie in einem Aquarell. Auch die schwarzen Autos im Hof – damals waren alle Autos schwarz – die zuvor wie dunkle Kleckse aussahen, hatten plötzlich klare Konturen. Und Axel hatte plötzlich Pickel im Gesicht. Ich war bisher fest davon überzeugt, dass ich gut sehen konnte, aber jetzt war klar: Ich brauche auch eine Brille.
Ich ließ mir nichts anmerken und sagte nur: „Nee, das ist nichts für mich“ und gab ihm die Brille zurück. Innerlich war ich erschüttert. Jetzt verstand ich auch, warum manche mich für arrogant hielten, weil ich nicht grüßte – ich hatte sie einfach nicht erkannt. Ich glaubte, mein Leben sei jetzt vorbei. Wer würde mich jetzt noch wollen? Ich sah mich schon als alte Jungfer durchs Leben stolpern – halbblind und allein.
Doch wie so oft im Leben kam es anders. Ich konnte meine Sehschwäche noch eine Zeit lang verbergen. Aber als ich in der Berufsschule, mit den anderen Lehrlingen in derselben Klasse, nichts mehr von der Tafel lesen konnte, war es soweit: Ich musste eine Brille haben. Jetzt wussten es alle! Ich schämte mich – doch offensichtlich nahmen die anderen kaum Notiz von meiner Veränderung. Ich setzte sonst die Brille nur auf, wenn es unbedingt nötig war – zum Beispiel im Kino und dann erst, wenn das Licht ausging.
Und dann – entgegen meiner damaligen Befürchtung und ganz im Sinne der alten Sprüche – heiratete ich schon mit 18 Jahren. Aus heutiger Sicht war das eine Katastrophe, doch für mich der einzige Weg, dem freudlosen Elternhaus zu entkommen. Damals war man erst mit 21 Jahren volljährig. Die Zustimmung des Jugendamts war notwendig. Das war etwas schwierig, denn ich „musste“ ja nicht heiraten – das hieß, es war kein Kind unterwegs. In diesem Fall hätte es sofort die Zustimmung gegeben. Doch da mein zukünftiger Mann volljährig, berufstätig und in der Lage war, „eine Frau zu ernähren“, gab das Amt schließlich grünes Licht. Für die nächsten drei Jahre bis zur Volljährigkeit war mein Ehemann nun offiziell mein „Erziehungsberechtigter“.
Gleich nach der Eheschließung meldete ich mich zur Führerscheinprüfung an und brauchte dazu Genehmigung und Unterschrift meines Mannes. Obwohl ich genug Geld verdiente, um den Führerschein selbst zu bezahlen, galt ich als nicht geschäftsfähig. Jetzt gab es keine Ausreden mehr: Beim Autofahren musste die Brille getragen werden! Autofahren war mir sehr wichtig, also gewöhnte ich mich ans „Nasenfahrrad“. Für viele in meinem Umfeld war die Brille längst normal. Nur mein kleiner Bruder meinte, ich sähe jetzt aus wie eine Lehrerin, was aus seinem Mund sicher kein Kompliment war.
Zu dieser Zeit gehörte ich zu den wenigen Frauen, die täglich im Berufsverkehr mit dem Auto unterwegs waren. Meistens durfte sich „Mutti“ mal sonntags an das Lenkrad des Lieblingsspielzeugs ihres Mannes setzen. So konnte sie kaum Fahrpraxis erlangen und musste dann auch noch die dummen Sprüche anderer Männer ertragen. Sogar die „seriöse“ Fernsehsendung „Der 7. Sinn“You-Tube Video Der 7. Sinn
aus den 1970er Jahren, eine Sendung zur Verkehrserziehung, durfte sich ungestraft Sprüche wie den folgenden leisten: „Die Frau am Steuer ist durch andere Dinge abgelenkt – der Lippenstift, das Kind oder das Schaufenster.“
Doch mit der Zeit änderte sich alles. Immer mehr Frauen fuhren regelmäßig Auto und trugen selbstverständlich Brille. Ich beobachtete das sehr genau. Oft ertappte ich mich in Wartezimmern dabei, die Brillenträger zu zählen. Meist war es etwa die Hälfte – sehr beruhigend. Eine Brille war kein Makel mehr. Vor kurzem erzählte mir mein Optiker, dass sogar immer öfter Menschen kommen, um sich eine Brille mit Fensterglas machen zu lassen. Sie wollen damit entweder älter, seröser oder modischer aussehen. Naja, wenn’s dann sein muss.
Früher versuchte ich noch, die Brille loszuwerden. Ich begann mit harten Kontaktlinsen aus Glas, empfohlen vom Augenarzt. Doch die waren unangenehm, fühlten sich an wie Fremdkörper, verrutschten ständig und mussten über Nacht in eine Reinigungsflüssigkeit gelegt werden. Einmal runter gefallen, waren sie kaum wiederzufinden – ein gefundenes Fressen für die Gag-Schreiber für Filme und Comedy, um über diese Situation ihre Witze zu machen. Ich fand es nicht komisch. Bald wurden meine Augen rot und keine Medizin half, es war eine Allergie gegen die Reinigungsflüssigkeit. Auch weiche Linsen halfen nicht: Es kam zur gleichen Reaktion. Schließlich gab ich die Kontaktlinsen auf. Meine Augen waren mir wichtiger als Schönheitsideale. Und ich war inzwischen auch reifer und selbstsicherer geworden.
Allerdings verzeihe ich meinem damaligen Augenarzt nicht, dass er mich belogen hat. Er behauptete, Kurzsichtigkeit und Altersweitsichtigkeit würden sich später ausgleichen, dann bräuchte ich keine Brille mehr. Das erschien mir logisch. Denkste! Die Weitsichtigkeit kam – aber die Kurzsichtigkeit blieb. Jetzt benötigte ich eine Gleitsichtbrille, die beide Einschränkungen abdeckt. Die Eingewöhnung war nicht einfach, aber mit viel Geduld schaffte ich es.
Ich erinnere mich noch gut an eine Szene Anfang der 1980er: Ich war mit meiner kleinen Tochter beim Augenarzt. Nach der Untersuchung sagte er, dass sie später eine Brille brauchen würde und mir entfuhr „Ach, das arme Kind.“ Der Arzt fuhr mich wütend an: „Wie können Sie so etwas vor dem Kind sagen?! Seien Sie froh, dass es solche Hilfsmittel gibt!“ – Freundlich war das nicht. Doch nachdem mein Zorn über diese Unverschämtheit verraucht war, sah ich ein, dass er Recht hatte. Ich habe mich nie wieder negativ über medizinische Hilfsmittel geäußert oder gar lustig gemacht; und es gibt inzwischen sehr viele davon, die den Betroffenen das Leben erleichtern.
Übrigens: Niemand hat meine Tochter je mit Brille gesehen. Die heutigen Kontaktlinsen sind viel einfacher in der Handhabung – und deutlich günstiger als damals.