Das Kino, mein Bruder und ich
Als Kind träumte ich mich gerne weg, in eine andere Welt. Das ging besonders gut beim Lesen. Ich konnte in ferne Länder reisen, mich in die Vergangenheit und die Zukunft begeben, im Schloss oder in Onkel Toms Hütte wohnen, mit Prinzen, Zauberern und Indianern Abenteuer bestehen oder einfach nur nachlesen, was andere kleine Mädchen wie Heidi und Rosenresli erlebten.
Wesentlich besser war aber das Kino. Während ich beim Lesen immer wieder gestört wurde durch Bitten oder Befehle meiner Mutter: Mach mal dies oder tu jenes
, oder andere störende Ereignisse im Haus, saß ich ruhig im dunklen Kinosaal und die Welt blieb draußen.
Ich erinnere mich an die großen Filmpaläste, auch Lichtspielhäuser genannt, in unserem Ort: Sie hießen Capitol, Astor, Gloria und Rex. Dort wurden immer die neuesten Filme gezeigt.
Es gab auch noch ein kleines Kino in einem Hinterhof, dort kostete der Eintritt nur die Hälfte. Dort wurden nur Gangster- und Wildwestfilme
– heute sagt man Krimi und Western – gespielt und deshalb war es nur für Erwachsene. Die Altersbeschränkung wurde noch sehr streng festgelegt.
Die deutschen UFA-Stars dieser Zeit waren unter anderen Curd Jürgens, O.W. Fischer, Ruth Leuwerik und Maria Schell.
Die Erwachsenen redeten auch von den tollen Filmen, die leider nicht für Kinder waren wie Vom Winde verweht
, Zwölf Uhr mittags
oder Verdammt in alle Ewigkeit
mit den großen Hollywoodstars Gary Cooper, Frank Sinatra, Clark Gable und Grace Kelly (die spätere Gracia Patricia, Fürstin von Monaco).
Für uns Kinder gab es aber auch genügend Spielfilme. Das waren überwiegend banale Musik- und Heimatfilme oder Familienfilme mit Heinz Rühmann oder Heinz Erhardt aber auch amerikanische Lustfilme – man meinte damit lustige Filme – mit Stan Laurel und Oliver Hardy als Dick und Doof oder mit Jerry Lewis.
So ein Kinobesuch war ein ganz großes Erlebnis. Man löste am Eingang die Eintrittskarte und ging zu dem großen Kinosaal. Dort wurde man von der Platzanweiserin, die eine schwarz-weiße Dienstkleidung anhatte, in Empfang genommen und an den richtigen Platz geführt.
Vor der Kinoleinwand war ein großer schwerer Vorhang wie in einem Theater. Zum Beginn der Vorstellung ertönte ein Gong, dann ging das Licht ganz langsam aus und der Vorhang öffnete sich.
Zuerst kam die Fox – Tönende Wochenschau
. Die interessierte mich überhaupt nicht, denn dort ging es um Politik, Sport und andere Katastrophen. Danach wurde noch ein Kulturfilm gezeigt. Das war auch nicht interessant, denn es wurden ähnliche Filme wie in der Schule gezeigt. Dann kam noch Reklame wie beispielsweise für Persil, Maggi, Lux Seife oder für Zigaretten wie Ernte 23 oder Overstolz, nicht zu vergessen das lustige, aber sehr cholerische HB-Männchen, dass immer gleich in die Luft ging und sich erst durch den Genuss einer HB-Zigarette beruhigte. Das waren immer kurze Filmchen und nicht so knappe Werbespots wie heute. Anschließend kam endlich der Hauptfilm.
Für mich spielte sich die Geschichte nicht auf der Leinwand ab, sondern ich war ein Teil davon. Ich litt und freute mich mit den Darstellern und die Spannung war manchmal so groß, dass ich kaum Luft zum Atmen hatte. Zu keiner Zeit realisierte ich, dass es nur ein Film war.
Das nur zum besseren Verständnis, für die nachfolgende Geschichte:
Es war 1954, ich war gerade acht Jahre alt, als mein Bruder Heinz zur Welt kam. Heinz, wenn Du das jetzt liest, musst Du stark sein:
, denn ich war zuerst keinesfalls erfreut über das schreiende Bündel, um das man sich ständig kümmern musste. Für meine Mutter war es sehr angenehm, dass sie eine große
Tochter hatte, die auf den kleinen Bruder aufpassen sollte. Statt mit anderen Kindern zu spielen, musste ich jetzt mit dem Baby spazieren gehen. Die Kinderwagen waren früher noch sehr niedrig, sodass ich das mit meiner geringen Körpergröße gut konnte. Auch sonst musste ich ständig nach dem Kleinen sehen, ihn füttern und auch die Windeln wechseln.
Eines Tages, es war ein sehr heißer Sommertag, wollte meine Mutter ein paar Erledigungen machen und ich sollte mal wieder auf meinen Bruder aufpassen. Dieser lag, nur mit einer Stoffwindel bekleidet, in seinem Stubenwagen und schlief. Als ich dann anfing zu motzen, machte meine Mutter einen Fehler, denn sie sagte; Du kannst dann auch ins Kino gehen
und sie gab mir eine Mark als Kinogeld. Danach ging sie weg.
Ich hörte nur Kino
und alles andere war wie ausgeblendet. Gleich nachdem meine Mutter gegangen war, verließ ich auch das Haus und rannte ins Kino. Ich kam gerade noch rechtzeitig zum Beginn der Nachmittagsvorstellung. Es war ein schnulziger Heimat- und Musikfilm, der mich wie immer vollends in seinen Bann zog.
Als der Film zu Ende war und ich langsam wieder in die reale Welt kam, fing auch mein Gehirn wieder an zu funktionieren. Mir kam in den Sinn, dass ich wohl erst weggehen sollte, wenn meine Mutter wieder zu Hause ist, und dass man ein Baby ja nicht allein lassen soll, und was alles passieren kann, wenn niemand da ist, und dass ich wohl einen Fehler gemacht habe, und dass ich jetzt eine Menge Ärger kriege, und überhaupt … alles lief falsch.
Ich rannte wie verrückt nach Hause. Glück gehabt, die Mutter war noch nicht zurück. Ich sah gleich in den Stubenwagen. Dort lachte der kleine Kerl mich an, strampelte quietschvergnügt und freute sich seines Lebens und über seine vollbrachte Leistung. Er hatte nämlich erst die Windel vollgemacht und sich dann aus dem Wickeltuch herausgestrampelt. Den Inhalt verschmierte er an seinem nun nackten Körper und in dem ganzen Stubenwagen. Ich war entsetzt und wusste erst gar nicht, was ich tun sollte.
Doch nach kurzem Überlegen badete ich das Baby, was ihm überhaupt nicht gefiel. Dann säuberte ich den Stubenwagen, wechselte die Bettwäsche darin und legte den nun wieder sauberen Säugling hinein. Als meine Mutter nach Hause kam, war alles in Ordnung und sie hat nichts gemerkt.
Ich konnte es aber lange nicht begreifen, wie ich so falsch reagieren konnte und es nur Glück war, dass nichts passiert ist. Der Schock über mein kindliches Fehlverhalten saß so tief, dass ich später, als ich selbst Mutter war, nur Erwachsene als Babysitter akzeptiert habe.
Meiner Mutter habe ich erst sehr viele Jahre später die Geschichte erzählt. Sie hat eingesehen, dass wohl sie den Fehler gemacht hat, ihre Verantwortung für ihr Baby auf ein kleines Kind zu übertragen.
Demnächst gibt es eine große Feier, denn mein kleiner Bruder Heinz feiert seinen 60. Geburtstag.