Webmaster durch Selbstentzündung
Wohl jeder kennt den großen Humoristen Loriot. Er hat mir mit seinem Motto von der Sinnlosigkeit des Lebens ohne Möpse
die Vorlage für mein Motto zum Chorsingen geliefert:Chorsingen ohne Mops ist möglich, aber sinnlos
Ein Chor ohne Mops ist möglich, aber sinnlos
Ein Leben ohne Chor …
Ein Leben ohne Chor ist möglich, aber sinnlos.
Natürlich ist mein Leben ohne Chor nicht sinnlos. Aber der Satz drückt sehr gut mein Gefühl aus, das ich beim Singen habe. Es ist ein Glücksgefühl. Wenn ich am Abend erschöpft von der Arbeit nach Hause kam, musste ich mich gelegentlich zwingen, noch zur Chorprobe zu fahren. Aber ich wusste schon, dass ich nach der Probe wieder erfrischt und aufgeräumt sein würde.
Wahrscheinlich hat mich in jungen Jahren meine Mutter mit ihrem Singen infiziert. Sie wuchs in einer Zeit auf, in der man sich noch nicht ganztägig vom Radio berieseln lassen konnte. So vertrieben sich meine Mutter und ihre Schwestern bei der Küchenarbeit die Zeit mit dem Singen von Volksliedern und Balladen. In meiner Kindheit habe ich von diesem Schatz profitiert, kenne viele Balladen und Küchenlieder noch heute und singe sie inzwischen mit meiner Enkeltochter Emilia.
Das Singen hat mich geprägt. In meiner Schulzeit war ich im Schulchor. Während des Studiums in Berlin war ich in der Kurrende der Evangelischen Studentengemeinde, mit der ich im Sommer 1967 eine fünfwöchige Tournee durch die USA machte. Wieder in Hamburg sang ich zwölf Jahre lang im Hamburger Bachchor St. Petri. Auch mit diesem Chor bin ich gern auf Konzertreisen gewesen, beispielsweise durch Skandinavien und Südamerika, auf denen wir auch mal weltliche Stücke sangen. Aber das Repertoire war naturgemäß geistlich.
Eines Tages, es muss Anfang 1986 gewesen sein, brachte ich meinen Sohn Benjamin, der inzwischen Cello lernte, zum Cello-Unterricht. Während ich dort wartete, kam ich mit dem Mann der Cellolehrerin ins Gespräch. Dabei erzählte er mir, dass er einen Chor leiten würde. Natürlich interessierte mich das! Sehr sogar! Denn ich wollte nicht immer nur geistliche Musik singen und jeden dritten Sonntag im Gottesdienst Dienst machen. So wechselte ich zum Kodály-Chor Hamburg. Zwar konnte ich nun nur noch gelegentlich die großen Oratorien singen, aber ich habe viele Reisen mit diesem Chor unternommen und oft an den Wettbewerben des Deutschen Chorverbands teilgenommen. Und das Singen großer Werke kompensierte ich damit, gelegentlich in anderen Chören als Leihsänger
mitzusingen. Das war kein Problem, denn meine Stimmlage ist 1. Tenor, und Tenöre wurden mit Kusshand genommen. Gelegentlich gab es sogar eine Aufwandsentschädigung.
Mitte der 1990er Jahre begann das Internet-Zeitalter für jedermann. Ich war mit einer der ersten, der sich eine E-Mail-Adresse zulegte. Auch in meiner Unternehmensberatung bekam jeder Mitarbeiter nun eine eigene Email-Adresse. Etwa zeitgleich machte ich mich daran, für die Firma mit HTML eine Homepage zu basteln. Als ich das Prinzip erkannt hatte, war es ganz einfach. Das Ergebnis stimmte ich mit der Geschäftsführung ab und richtete die Homepage ein.
Beides könnte doch auch für meinen Chor sinnvoll sein, dachte ich mir. Es wäre doch eine schöne Selbstdarstellung und Werbung für den Chor. Und so machte ich mich daran, eine E-Mail-Adresse für den Kodály-Chor einzurichten und ihm eine Homepage zu basteln. Einen Abschnitt widmete ich der Geschichte des Chors, einen dem Chorleiter, einen weiteren über unsere vergangenen und zukünftigen Konzerte. Das garnierte ich schließlich mit Fotos. Und da ich seit 2005 aktiv in Wikipedia mitarbeitete, lag es nahe, dort auch einen Artikel über den Kodály-Chor und unseren Gründungschorleiter zu schreiben. – Die fünf Vorstandsmitglieder fanden alles gut, aber warum sollten sie auch etwas dagegen haben? Im Gegenteil, sie waren froh, dass ich die Idee und die Bereitschaft zur Umsetzung hatte. Und mir machte es Spaß.
Wenn einmal eine Probe abgesagt werden musste, dann gab es nur eine Möglichkeit: Man nahm die maschinengeschriebene Chorliste mit den Telefonnummern der Mitglieder zur Hand und setzte eine Telefonkette in Gang. Das wäre doch viel einfacher zu lösen, dachte ich mir, wenn wir einen E-Mail-Verteiler hätten, über den wir mit einer einzigen E-Mail alle Chormitglieder benachrichtigen könnten. So begann ich, die wenigen E-Mail-Adressen der Mitglieder zu sammeln, die schon eine Adresse hatten. Aber alle Mitglieder
war erst einmal eine Illusion. Am Anfang waren es nur eine Handvoll Adressen der etwa 70 Mitglieder, die ich zusammentragen konnte. Allerdings wuchs die Zahl schnell an. Aber bis schließlich auch alle Lehrer, die die meisten Schwierigkeiten hatten, sich an die neue Technologie zu gewöhnen, eine Adresse hatten und damit die Telefonkette abgelöst werden konnte, dauerte es tatsächlich noch ein paar Jahre.
Nun war ich für den Chor-Verteiler und von 2011 bis 2014 im Vorstand auch als Schriftführer und für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. So ergab es sich, dass ich auch die sonstigen Mitgliedsdaten (Name, Telefonnummer, Anschrift und Geburtsdatum) pflegte. Das tat ich mit einer Excel-Tabelle, was mir ermöglichte, daraus mit wenigen Handgriffen die Mitgliederliste und die Geburtstagsliste zu erzeugen. – Und die Vorstandsmitglieder waren froh, entlastet zu sein.
2012 generierte ich erstmalig aus den Daten der Chormitglieder Balkendiagramme, die die Stimmverteilung (Sopran, Alt, Tenor, Bass), die Altersstruktur und das Durchschnittsalter zeigten. Diese Statistik schreibe ich bis heute jährlich fort. Später machte ich mir noch den Spaß, auf einer digitalen Landkarte die Wohnorte der Mitglieder zu markieren. Sie zeigte eine breite Streuung mit einem Einzugsbereich von Kiel bis Schneverdingen. Der Vorstand nahm diese Statistiken gelassen hin. Seine Reaktion war mau. Trotzdem führte ich diese Statistiken weiter, weil ich Spaß daran hatte.
Wenn wir ein Konzert gaben, freute ich mich immer sehr, dieses Ereignis mit meiner Familie und meinen Freunden zu teilen. Um auch alle benachrichtigen zu können, legte ich einen weiteren Verteiler für Konzerteinladungen an. Dann begann ich, die E-Mail-Adressen der Freunde weiterer Chormitglieder zu sammeln. Über die Jahre ist dieser Verteiler immer mehr gewachsen. Zu unseren Konzerten werden inzwischen 400 Menschen auf diese Weise eingeladen.
Neue Chormitglieder werden meist durch unsere Konzerte angelockt oder sie kommen, wie in meinem Fall, über private Kontakte zu uns. Mit der Homepage gab es nun auch die Möglichkeit, über die dort angegebene E-Mail-Adresse mit dem Chor Kontakt aufzunehmen. Meine Hoffnung war, auf diesem Weg neue Sängerinnen und Sänger zu werben. Aber wer im Internet eine Adresse veröffentlicht, der wird früher oder später mit unerwünschten E-Mails zugeschüttet. Um das zu vermeiden, ergänzte ich die Homepage um ein Kontaktformular. In der Folge reduzierten sich auch die SPAM-Mails.
Nun liefen nicht nur alle E-Mails an den Kodály-Chor über mich, sondern auch noch die Eingänge über das Kontaktformular. Ich war zum Bindeglied zwischen der Außenwelt und dem Chor geworden. Oft trafen Angebote ein, an einem Chor-Festival oder Wettbewerb teilzunehmen. Und auch der Chorverband Hamburg verteilte seine Informationen inzwischen über E-Mail. – Alles Wichtige leitete ich an den Verteiler des Vorstands weiter.
Wie erhofft kamen nun auch hin und wieder Bewerbungen über das Kontaktformular. Ziemlich schnell bastelte ich mir eine Standard-Antwort mit den notwendigen Informationen zusammen, die ich je nach Anfrage modifizierte. Wenn dann die Bewerber zum ersten Mal zur Probe erschienen, bemühte ich mich, sie in Empfang zu nehmen und unserem Chorleiter vorzustellen. Aus eigener Erfahrung wusste ich, wie wichtig es ist, in einer fremden Gruppe freundlich empfangen zu werden und nicht am Rande stehen zu müssen.
Einen guten Einstieg hoffte ich den Bewerbern auch damit zu schaffen, dass ich ihnen nach ihrer ersten Probe ein Informationsblatt schickte, das die Antworten auf alle Fragen enthielt, die mir bisher untergekommen waren. Es lag in der Natur der Sache, dass ich dieses Blatt immer wieder ergänzen musste. Es enthielt Antworten auf Fragen wie: wen kann ich ansprechen, woher bekomme ich Noten, wie werde ich Mitglied, wie hoch ist der Mitgliedsbeitrag.
Nun hatte ich mir nicht nur die Position des Webmasters erobert, eine Rolle, die man sich bei der Vereinsgründung 1972 noch nicht vorstellen konnte, sondern war auch der Erstkontakt und eine Art Empfangschef aus Selbstentzündung. – Und der Vorstand war immer noch wohlwollend und froh darüber, dass ich mir diese Aufgaben erobert hatte.
Wenn die Bewerber nach einigen Schnupperproben als Mitglied aufgenommen worden waren, schickte ich ihnen die Beitrittserklärung, den aktuellen Terminplan und ein von mir entworfenes weiteres Informationsblatt, das wichtige Einzelheiten zur Mitgliedschaft enthält. Außerdem bekamen sie von mir einen individuellen Zugang zur internen Homepage des Chores. Damit hatten sie Zugriff u. a. auf die Mitglieder- und Geburtstagsliste, die Vereinssatzung und eine Bildergalerie.
Schon ein paar Jahre nach meinem Eintritt in die Rente hatte ich mich von der Weiterentwicklung der Websprache HTML abgekoppelt. Da kam mir das Angebot von Hartmut Kennhöfer, dem Webmaster der Erinnerungswerkstatt Norderstedt, sehr gelegen, die Website des Kodály-Chores neu aufzusetzen, die inzwischen in die Jahre gekommen war. Nun ist sie wieder technisch auf dem neusten Stand, und ich beschränke mich auf kleinere Aktualisierungen.
Mittlerweile bin ich seit zwölf Jahren raus aus dem IT-Geschäft. Zwar nutze ich auch Messengerdienste, aber ich achte schon darauf, dass diese eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bieten. Deshalb bin ich auch nicht in die WhatsApp-Chatgruppe des Chores eingetreten, die es inzwischen gibt und über die sich viele Mitglieder austauschen. Das offizielle Medium
des Chores bleibt allerdings der E-Mail-Verteiler, denn darüber sind alle Chormitglieder zu erreichen.
Seit einiger Zeit ist der Chor auch in den sozialen Netzwerken vertreten, aber das ist nicht meine Welt. Dieses Thema liegt in der Hand unseres Vorstandes für Öffentlichkeitsarbeit und zwei weiteren sehr engagierten Chormitgliedern.
Nun bin ich inzwischen 80 Jahre alt geworden, singe seit 65 Jahren in unterschiedlichen Chören, davon fast vier Jahrzehnte im Kodály-Chor. Ich weiß nicht, wie lange meine Stimme noch gut genug ist. Deshalb beschäftigt mich immer wieder der Gedanke, dass ich irgendwann mit dem Singen aufhören muss. Dann werde ich wohl auch die von mir eroberten Ämter aufgeben.
Noch ist es nicht so weit, aber dann müsste mein Nachfolger meine verschachtelte und mit Formeln gespickte Excel-Tabelle mit den Mitgliedsdaten übernehmen und weiterführen, aus der ich mühelos die Mitgliederliste, die Geburtstagsliste und die Statistiken erzeugen kann. Er oder sie müsste die Verteiler pflegen, die Anfragen beantworten, die über das Kontaktformular reinkommen, dafür sorgen, dass die Neuen sich wohlfühlen, und die Informationsblätter fortschreiben. – Und ob der Webmaster der Erinnerungswerkstatt nach meinem Rückzug die Chor-Website ehrenamtlich weiterführen wird?
Ob der Vorstand dann froh darüber sein wird, das alles zu übernehmen? Bisher hatte ich eher den Eindruck, dass er dankbar ist, diese Aufgaben in guten Händen zu wissen. – Wenn es dann dereinst so kommt, dass ich meine ehrenamtliche Tätigkeit niederlege, wäre mein Leben ohne Chor sicherlich nicht sinnlos. Die Flasche Rotwein, die ich bei der jährlichen Hauptversammlung bekommen habe, wäre verschmerzbar.