In Schleswig-Holstein angekommen
Im brandenburgischen Dorf Kräsem an der Oder, das heute auf der polnischen Seite liegt und Krzesin heißt, wurde mein Vater Herbert 1914 geboren. Mit zwei Brüdern, der Cousine Else, der Stiefmutter und dem Vater wuchs er im Haus der Großeltern auf. Zusammen bewirtschafteten sie einen kleinen Bauernhof. Der Vater war Schiffer und daher selten zu Hause, er steuerte einen Kahn auf Oder und Elbe.
Herbert hatte keine Chance, einen Beruf zu erlernen, als er 1929 die Volksschule beendete. Er arbeitete auf dem Bauernhof oder bei seinem Vater auf dem Kahn, bis er zum Militär eingezogen und später Berufssoldat wurde.
Auf der westlichen Seite der Oder in RatzdorfRatzdorf (niedersorbisch Radšow) ist ein Ort in der Gemeinde Neißemünde im Südosten von Brandenburg im Landkreis Oder-Spree., wo die Neiße in die Oder fließt, mit Blickkontakt nach KräsemIm Frühjahr 1945 wurde das Kreisgebiet durch die Rote Armee besetzt. Nach Kriegsende wurde das Kreisgebiet fast vollständig von der Sowjetunion unter polnische Verwaltung gestellt. Danach begann hier die allmähliche Zuwanderung polnischer und ukrainischer Migranten, die zum Teil aus an die Sowjetunion gefallenen Gebieten östlich der Curzon-Linie kamen. In der Folgezeit wurde hier die einheimische Bevölkerung von den örtlichen polnischen Verwaltungsbehörden vertrieben., ist meine Mutter Frieda, Jahrgang 1919, überwiegend bei den Großeltern aufgewachsen. Ihre Mutter war geschieden und alleinerziehend mit vier Kindern. Für Frieda gab es auch keine Möglichkeit einer Ausbildung. Mit 14 Jahren ging sie in Stellung, war Hausgehilfin mit Kost und Logis in einem Gasthaus in Siebenbeuthen nahe Kräsem. Bei Tanzveranstaltungen kellnerte sie und lernte dabei mit 17 Jahren ihre große Liebe kennen. 1941 heirateten Frieda und Herbert in Kräsem, wo sie sich eine kleine Wohnung einrichteten.
Die ersten drei Jahre ihrer Ehe sahen sie sich nur, wenn Herbert Front-Urlaub hatte, danach kam die lange Zeit der russischen Gefangenschaft. Frieda musste allein über die Oder Richtung Westen fliehen. Von Februar bis Mai 1945 schlug sie sich auf der Flucht als Gelegenheitsarbeiterin durch, bis sie in Jäwenitz in der Nähe von Magdeburg auf einem Gut Arbeit und Unterkunft fand.
Als mein Vater 1947 aus der Gefangenschaft kam, konnte er nicht in seinen Heimatort Kräsem, jetzt Krzesin, in Polen zurück, und in die russische Zone wollte er nicht. So ist er erst mal nach Hamburg Horn zu seiner Cousine Else und deren Familie gegangen. Sobald meine Mutter die Nachricht von meinem Vater erhalten hatte, machte sie sich mit dem Fahrrad auf den Weg von Magdeburg nach Hamburg. Nach über drei Jahren konnten sich Frieda und Herbert wieder in die Arme schließen.
Bei Else war für die beiden zum Wohnen kein Platz, denn die Familie lebte im Rohbau eines Holzhauses und hatte selbst noch kein richtiges Zuhause. Also radelte meine Mutter zurück nach Jäwenitz, wieder schwarz über die Grenze in die sowjetisch besetzte ZoneDie Sowjetische Besatzungszone (SBZ), Sowjetzone oder Ostzone (umgangssprachlich auch Zone genannt) war eine der vier Besatzungszonen, in die Deutschland 1945 entsprechend der Konferenz von Jalta von den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkrieges aufgeteilt wurde. Am 7. Oktober 1949 wurde die SBZ das Staatsgebiet der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR)., wo sie Arbeit und ein Zimmer hatte. Mein Vater wollte hier in Norddeutschland erst mal eine Grundlage für ein gemeinsames Leben schaffen.
Von Else bekam er einen wichtigen Tipp. Ihre Halbschwester Ursel war mit Mann aus StettinHeute Szczecin in Polen, bis 1945 deutsch Stettin nach Bockhorn geflohen, dem Geburtsort ihres Mannes. Und hier in Bockhorn, in der Nähe von Bad Segeberg, gab es Arbeit im Wald. Die Engländer hatten die Bäume in einem Meter Höhe abgesägt. Die Stubben (Baumstümpfe) mussten gerodet werden, bevor man den Wald wieder aufforsten konnte. Diese Gelegenheit ergriff mein Vater und rodete Stubben. Unterkunft fand er bei Bauer Griese und einen Schlafplatz auf dem Heuboden.
Ziel war, Geld zu verdienen und eine Wohnung zu finden. Doch dann war Eile geboten. Frieda wollte möglichst schnell nachkommen, denn das Wiedersehen in Hamburg war nicht ohne Folgen geblieben.
Nach Feierabend und am Wochenende arbeitete Herbert in einem Sägewerk, um an Holz für den Hausbau zu kommen. Ein Grundstück in Bockhorn zu finden, war kein Problem. Für 30 Pfennig pro Quadratmeter hätte er bei der Gemeinde so viel Land kaufen können, wie er wollte. Aber auch 30 Pfennig waren viel Geld. Er kaufte etwa 2.000 Quadratmeter Land zum Hausbau und zum Bewirtschaften. Bis zum Herbst schaffte er es, ein kleines Holzhaus zu bauen, das zwar keinen Stromanschluss hatte, aber mit einem Bollerofen beheizt werden konnte. Wasserpumpe und Toilettenhäuschen befanden sich auf dem Hof.
Anfang November 1947 erreichte meine Mutter mit Fahrrad und ihren wenigen Habseligkeiten den neuen Wohnort Bockhorn. Jetzt konnte das gemeinsame Leben zu zweit und bald zu dritt beginnen. Bauer Griese unterstützte meine Eltern, gab ihnen das Nötigste für den Haushalt, sogar ein paar Möbel. Ein Kinderbettchen war aber nicht dabei, schließlich war bei der Bauernfamilie gerade das vierte Kind unterwegs. So war mein Schlafplatz auf dem Fußboden, als ich im Mai 1948 auf die Welt kam. Dann sparte mein Vater die Bezugsscheine für Zigaretten und tauschte sie für einen Kinderwagen ein. Das gleiche geschah später noch einmal für eine Kinderkarre. Danach wurde er aber wieder zum Raucher.
Obwohl mein Geburtsort Bad Segeberg ist, hatte ich einen Flüchtlingsausweis, der meine Eltern berechtigte, für mich Vergünstigungen in Anspruch zu nehmen, wie Kleidung und Lebensmittel.