Dorfmädchen in der Nachkriegszeit
Meine erste Reise 1954
Meine erste Reise war 1954. Meine Mutter fuhr mit mir im Zug in ihren Geburtsort Ratzdorf an der Oder. Hier wohnten wir bei ihrem jüngeren Bruder und schliefen mit im Ehebett. Das Patenkind meiner Mutter hatte Konfirmation, und ich feierte dort meinen sechsten Geburtstag. Meine Mutter ging mit mir oft an die Oder und wir schauten über den Fluss nach Polen, sahen die Wachtürme und zwischen den Bäumen das Dach des ehemaligen väterlichen Elternhauses. Erst später habe ich verstanden, dass die Sehnsucht meine Mutter an den Fluss führte. Sie hätte so gerne gewusst, was aus ihrer Wohnung, aus der sie fliehen musste, geworden ist und wer da jetzt lebte.
Bei den Bauern wurden die Kartoffeln noch von Hand geerntet. Die Frauen sammelten in mehreren Reihen nebeneinander und die Männer leerten die Körbe in bereitstehende Ackerwagen. Um beim Sammeltempo mitzuhalten, durften sich zwei Kinder eine Reihe teilen. Der Stundenlohn von 90 Pfennigen wurde ebenfalls geteilt. Beim Kartoffelsammeln rutschte man auf den Knien in Trainingshosen über den Acker. Die Frauen hatten bei der Feldarbeit die abgelegten Hosen ihrer Männer an. Frauen trugen damals bei uns im Dorf sonst keine Hosen.
Am schönsten war die Pause auf dem Feld. Dann saßen wir alle im Gras am Ackerrand, plauderten und aßen mit unseren schmutzigen Händen voller Genuss den frischen Butterkuchen, den die Mutter des Bauern extra für uns gebacken hatte. Dazu wurde Buttermilch im Deckel der Milchkanne reihum gereicht. Hygiene war kein Thema und Allergien kannten wir nicht.
Steinpilze, Maronen und Grünlinge wuchsen reichlich bei uns im Wald. Gleich hinterm Haus im Gemeindewald konnte man schnell einen Korb voll sammeln und auch etwas Geld damit verdienen. Die vollen Drahtkörbe schleppten wir zu einer Annahmestelle für Pilze und kamen glücklich mit einigen Pfennigen oder sogar mit einer Mark heim. Als wir älter waren und Fahrräder hatten, erweiterten wir unseren Radius und fuhren in den Segeberger Forst zum Pilze suchen oder Blaubeerpflücken. Keiner der Eltern machte sich deswegen Sorgen. Im Wald sahen wir manchmal Kreuzottern, Angst hatten wir keine, aber Respekt, auch vor den anderen Waldtieren.
Bockhorn hatte eine einklassige Volksschule, erste bis neunte Klasse, etwa 40 Kinder, alle in einem Raum und nur ein Lehrer. Hier wurde ich 1955 mit fünf anderen Kindern eingeschult. Wir lernten das Schreiben und Rechnen noch auf einer Schiefertafel, deren eine Seite Linien und die andere Karos hatte und einen Schwamm und Lappen an einem Band daran, zum Auswischen des Geschriebenen.
Irgendwie funktionierte es, dass ein Lehrer alle Jahrgänge unterrichtete. Oft war es spannend, bei den Größeren zuzuhören, besonders in Erdkunde oder Biologie. Deutsch und Mathe hatte jede Klasse für sich, andere Fächer waren klassenübergreifend. In Musik sangen alle Kinder zusammen. Die älteren Schüler wurden eingesetzt mit den jüngeren zu lesen, zu schreiben oder zu rechnen. In der vierten Klasse übte ich schon manchmal mit einem Kind aus der ersten Klasse Lesen.
Bis 1957 regierte noch der Rohrstock in der Schule, für die Jungs auf den Hosenboden, für Mädchen auf die Hand. Ich habe nur erlebt, dass die Jungen eine Tracht Prügel vom Lehrer bekamen.
Unsere Sportstunden auf dem Schulhof bestanden aus Völkerball oder Schlagball und im Sommer trainierten wir für die Bundesjugendspiele. Die Wettkämpfe fanden drei Dörfer weiter auf einem Sportplatz statt, teilnehmen konnte aber nur, wer ein Fahrrad hatte. Ein Kinderrad besaß ich nie, aber in der vierten Klasse war ich groß genug für ein Damenrad. Radfahren gelernt hatte ich aber schon mit sechs Jahren, stehend auf dem Fahrrad meiner Eltern.
Normalerweise gingen alle Kinder neun Jahre lang zur Volksschule. Der Dorflehrer war aber der Meinung, dass ich auf die Mittelschule müsste und zum Glück haben meine Eltern seinen Rat auch befolgt. Mit dem Linienbus nach Segeberg zu fahren, war ein kleines Ereignis. Mittags fuhr der Bus schon um 12.10 Uhr zurück, aber die Schule endete oft erst um 13 Uhr. Dann musste ich eine andere Linie nehmen und die letzten fünf Kilometer zu Fuß laufen. Zum Glück nur knapp zwei Jahre, dann änderte sich der Fahrplan. Jahrelang war ich das einzige Kind, das in Segeberg zur Schule ging. Sicher ein Grund, weshalb ich im Dorf besonders beobachtet wurde, ob ich auch immer schön grüßte und einen Knicks machte.
Gleich in der fünften Klasse lag ich vier Wochen im Krankenhaus und hatte danach Defizite in Englisch. Meine Eltern konnten nicht helfen, so wurde der Dorflehrer engagiert. Aber den direkten Weg in seine Wohnung, die mitten im Dorf direkt neben der Schule lag, durfte ich nicht nehmen, sondern musste einen Umweg durch den Wald gehen, damit mich keiner sah. Was sollen die Leute denken, wenn du Nachhilfe bekommst?
, so das Argument meiner Mutter.
Anfang der 1950er Jahre gründete mein Vater mit seinem Cousin Hubert, der direkt gegenüber wohnte, eine Holzhandlung. Sie handelten mit Papierholz und Pfählen und banden Faschinen aus Reisig. Für das Geschäft schafften sie zwei Fahrzeuge an, einen Lastwagen und einen PKW. Im Sommer durfte ich mit meinem Vater mit dem Faschinen-Lastwagen nach Husum fahren und war ganz stolz, dass mein Papa so ein großes Auto fahren konnte. An der Nordsee erklärte er mir dann die Landgewinnung und wozu die Faschinen nötig sind.
Die beiden Cousins trennten sich geschäftlich bald wieder. Die Fahrzeuge wurden aufgeteilt und der PKW gehörte dann uns. Jetzt konnten wir sonntags öfters nach Hamburg-Horn zu Else, der Cousine meines Vaters, fahren. Ich staunte auf der Fahrt, dass mein Papa sich in Hamburg so gut auskannte. Wir besuchten die Verwandten ohne Anmeldung, ein Telefon hatte sie nicht. Durch das Geschäft hatten wir schon früh ein Telefon, eines der vier, die es im Dorf gab.
Zwei Holzhandlungen, die direkt gegenüber lagen, war keine gute Geschäftsidee. Also wurde 1958 ein neues Grundstück 500 Meter weiter für einen Holzplatz und ein neues Haus erworben. Den Rohbau erstellte eine Baufirma, den Rest baute mein Vater selbst. Jetzt bekamen wir sogar ein Bad und eine Heizung. Das ganze Dorf schüttelte den Kopf: Ein Holzhändler, der den Hof voller Holz hat, lässt sich eine Ölheizung einbauen!
Wir waren die Ersten in Bockhorn mit einer Zentralheizung.
Als es finanziell bei meinen Eltern bergauf ging, kehrten wir manchmal in Bad Segeberg nach dem Einkaufen ein und leisteten uns eine Ochsenschwanzsuppe, für uns damals ein Festmahl. Dazu eine Sinalco und für den Vater ein Bier.
Unser Dorfladen war gut sortiert und hatte die Größe einer Wohnstube. Vieles lagerte in Schubläden, und Nährmittel wie Zucker, Mehl, Salz, Nudeln wurden abgewogen und in Tüten gefüllt. Sogar Bonbons konnte man einzeln kaufen.
Es war üblich, dass viele Familien beim Kaufmann anschreiben ließen und einmal im Monat bezahlten. Der Betrag wurde in ein Buch und beim Käufer in ein Notizheft eingetragen. Samstags kam ein Schlachter, baute seinen Tisch neben dem Tresen auf und verkaufte aus einer Wanne Fleisch und Wurst, alles ohne Kühlung. Auch zu Hause hatte keiner einen Kühlschrank, aber meist einen kalten Keller.
Uns Kindern wurde zwar noch das Märchen vom Klapperstorch erzählt, aber wie die Kälber und Ferkel entstanden, das wussten wir genau, schließlich haben wir manchmal zugeschaut, wenn die Kuh zum Bullen gebracht wurde. Und dass die Hühner nur Küken ausbrüten konnten, wenn es einen Hahn auf dem Hof gab, war uns ebenfalls klar.
Mit neun Jahren bekam ich einen Bruder, bis dahin gehörte ich zu den wenigen Einzelkindern im Dorf. Während der zehn Tage, die meine Mutter im Krankenhaus war, nahm mein Vater mich überall mit hin, oft zu Förstern, wenn es um Holz ging. Er erzählte immer, dass er jetzt einen Stammhalter hat. Ich wusste zwar nicht, was das bedeutete, es musste aber wohl etwas Besonderes sein. Die Förster waren auch immer Jäger, und viele Geweihe schmückten ihre Büros. Das fand ich so toll und freute mich, als mein Papa auch bei uns ein Geweih aufhängte.
Das größte Ereignis in Bockhorn war das Vogelschießen, ein Fest für Jung und Alt. Morgens nahmen die Kinder an Spielen teil. Ziel war es, Königin oder König zu werden und beim Umzug in der Kutsche zu sitzen, sowie einen der besten Preise zu gewinnen. Zwei Jahre hintereinander gab es sogar ein Fahrrad als ersten Preis, gestiftet von einem Fahrradhändler, der in Bockhorn ein Wochenendhaus bewohnte. Einer der Sponsoren war auch Herr Popp von Feinkost Popp, der die Jagd in Bockhorn gepachtet hatte. Er spendierte mehrere Jahre hintereinander jedem Kind ein großes Papp-Schälchen mit Fleischsalat, damals durchaus etwas Besonderes.
Zum Vogelschießen gehörte ein Umzug durchs Dorf mit Pferd und geschmückter Kutsche. Die kleineren Kinder hatten Stäbe mit Blumen oder Blumenbügel, die größeren fuhren mit verzierten Fahrrädern. Danach gab es Kuchen und Getränke im Gasthaus und anschließend spielte eine Kapelle zum Kindertanz. Abends vergnügten sich die Erwachsenen.
In Bockhorn gab es noch zwei weitere Highlights, das Feuerwehr- und das Schützenfest. Immer mit Umzug und Tanz abends. Für diese Festtage war natürlich Sonntagskleidung angesagt, mit der man sich nicht schmutzig machen durfte. Die Festumzüge fanden auf der Dorfstraße statt, heute die vielbefahrene Bundesstraße 206. Als der Autoverkehr in den 1960er Jahren stark zunahm, wurden die Umzüge von Amts wegen
verboten.
Alle drei Feste sind bis heute wichtige Bestandteile es Dorflebens.