Stimmungsbericht Januar 1945
Eingebettet in hohem Schnee liegt Neuwied. Ähnlich einem riesigen Leichentuch hat der Schnee all den Jammer und das Elend zugedeckt, um ihn nicht allzu sichtbar werden zu lassen. Neue Wunden werden über Nacht mitleidvoll wieder zugedeckt. Bei einer Durchschnittstemperatur von minus zehn bis minus sechzehn Grad klärt es sich selten auf. Fast ständig liegt Neuwied in einer Dunstschicht. Mit Unterbrechungen schneit es seit dem 30. Dezember 1944. Die Frostperiode setzte mit zunehmender Schärfe am 1. Januar 1945 ein.
Trotzdem nahm die feindliche Lufttätigkeit von Tag zu Tag zu. Seit dem 26. Dezember 1944 liegt Neuwied unter dem Bombenhagel der Amerikaner und Engländer. Vom 26. Dezember 1944 bis 2. Januar 1945 hatte Neuwied jeden Tag einen Angriff. Wir saßen bis dahin immer in unserem Keller. Es war unheimlich, besonders das Heulen der Bomben und Luftminen und deren Explosionen. Türen und Fenster flogen auf und zersplitterten zum Teil. Mörtel bröckelte von den Wänden und Decken. Wir waren so fertig mit den Nerven, dass wir am 31. Dezember 1944 morgens um 6.23 Uhr nach Mogendorf fuhren, um einige Tage Ruhe zu haben. Um 6.15 Uhr kam aber schon wieder Alarm und wir saßen am Bahnhof im öffentlichen Luftschutzkeller bis 7.40 Uhr. Erst dann fuhr der Zug ab. Um 9.00 Uhr waren wir glücklich in Siershahn.
Am 2. Januar 1945 fuhren wir abends um 19.00 Uhr statt um 17.00 Uhr von Siershahn wieder ab und waren erst um 21.30 Uhr in unserer Wohnung, die inzwischen durch Minen und Bomben, welche auf dem Friedhof niedergegangen waren, wiederum sehr gelitten hatte. Eimer voll Mörtel und Deckenputz mussten wir erst wegschaufeln und die Fenster notdürftig mit Pappe vernageln. Licht und Wasser gab es nicht. Gas war ja schon seit Mitte November 1944 ausgeblieben.
Ab 3. Januar 1945 gingen wir in den Luftschutzkeller des Finanzamtes, da unser Keller uns nicht mehr sicher genug war. Mutti fühlte sich auch hier sicherer. Außerdem hörte man in diesem Keller das Schießen der Flak und das Heulen der Bomben nicht. Vom 3. bis 15. Januar 1945 fielen in Neuwied keine Bomben. Am 16. Januar dagegen erlebten wir wohl einen der verheerendsten Angriffe. Etwa 50 Flugzeuge warfen vier Bombenteppiche. Unter anderem wurden bei diesem Angriff besonders getroffen: die Engerserstraße von der Brückenauffahrt bis zur Horst-Wessel-Straße, Gildenhaus, Deutsche Bank, Hotel Meyer und weitere Gebäude. In einzigartiger Maßarbeit wurde die Hermann-Göring-Brücke völlig zerstört. Sowohl die Neuwieder- als auch die Weißenthurmer-Seite wurde getroffen. Die Brücke liegt auf beiden Seiten im Rhein.
Das Leben in Neuwied wird fast unerträglich. Beim geringsten Motorengeräusch flieht die Bevölkerung in die Bunker und öffentlichen Luftschutzräume. Sehr viele Menschen begeben sich schon morgens um 9.00 Uhr in die Bunker der Wicking-Werke, Rasselstein und den Wehrmacht-Hochbunker. Sie sitzen dort durchschnittlich bis nachmittags 16.00 Uhr. Die Hauptgefahrenzeit liegt nämlich erfahrungsgemäß zwischen 10.30 Uhr und 16.00 Uhr. Hierauf ist auch das ganze Leben der Stadt eingerichtet.
Zwischen 8.00 Uhr und 10.00 Uhr hasten die Menschen durch die Stadt, um ihre Einkäufe und Besorgungen zu machen. Die Frauen bringen den Haushalt notdürftig in Ordnung und bereiten die Mahlzeiten vor. Ab 10.00 Uhr wird alles nervös und gereizt. Butterbrote
werden für alle Notfälle gemacht und im Luftschutzgepäck verstaut. Fenster werden aufgeklinkt und mit Tüchern oder gerollten Decken fixiert. Die Türen werden geöffnet und die Schlösser aufgeschlossen, um ein Zuschlagen der Türen durch Luftdruck zu verhindern. Hierdurch wird erreicht, dass durch den Sog die sonst eventuell zugeschlagenen Türen nicht aus den Schlössern gerissen werden. Die Folge jedoch davon ist, dass es trotz stärkster Heizung immer kalt im Haus ist.
Kommt Voralarm, wird der Befehl zum Fertigmachen erteilt. Bei Alarm verlassen wir auf schnellstem Weg das Haus durch den Garten, dessen rückwärtige Verdrahtung ich durchgeschnitten habe, und suchen den Luftschutzraum des Finanzamtes auf. Der Bub rennt gewöhnlich mit einer Tasche und seinem guten Mantel auf dem Arm zum Finanzamt, um einen Platz im Keller zu belegen. Wir drei, falls ich gerade im Haus bin, hetzen hinterher. Jeder mit einer Tasche oder einem Koffer beladen sowie Decken und Mänteln. Dieses Spiel wiederholt sich manchmal vier bis fünf Mal am Tage. Mehrmals in der Woche auch bei Nacht, die einzelnen Daten habe ich als besondere Aufzeichnungen im Alarmkalender notiert.
Abends sinken wir ermattet ins Bett und schlafen trotzdem einen bleiernen Schlaf, wenn nicht die Du
rene oder das Wunderhorn ertönt. Manche Nacht, besonders bei Westwind, wälzt man sich auch unruhig und mit quälenden Gedanken im Bett, wenn das Trommelfeuer der Front, das sogenannte Frontschießen allzu heftig und unheildrohend herübertönt. Unheimlich, grauenhaft und Schrecken erregend. Außerdem das dumpfe Rollen der deutschen V-Geschosse, die irgendwo im Hinterland abgeschossen werden und ihre feurige Bahn über uns ziehen.
Das übrige Leben mutet einem wie das Leben in grauer Vorzeit an. Beerdigungen finden nur noch zwischen 7.30 und 9.00 Uhr statt. Viele Tote werden so zwischen Tag und Dunkel einfach weggeschleppt wie früher die Selbstmörder. Ohne Pfarrer, meistens nur drei bis vier Träger, die hinter dem im Eilzugtempo fahrenden Leichenwagen herhetzen. Am Freitag, dem 19. Januar 1945, fuhr sogar ein Pferdefuhrwerk mit vier großen, roh zusammengeschlagenen Särgen und einem Kindersarg auf den Friedhof ohne jede Begleitung. Die Angehörigen werden benachrichtigt, dass die Beerdigung stattgefunden hat.
Gas ist nur noch ein Begriff. Seit Mitte November 1944 ist Gas nicht mehr zu haben und kann als Selbstmordmittel nicht mehr genutzt werden. Licht und Wasser gibt es seit 26. Dezember 1944 nicht mehr. Wasser muss täglich aus einer Pumpe in der Kraftversorgung geholt werden. Eine mühsame Arbeit. Waschwasser wird daher mehrmals benutzt – ekelhaft. Baden ist ganz ausgeschlossen. Dies wird erst recht bitter empfunden, weil man die meiste Zeit mit der Tagesunterwäsche schlafen muss, um bei Alarm schneller angezogen zu sein. Gott sei Dank läuft seit dem 11. Januar 1945 wieder das Wasser. Licht haben wir aber bis heute (24.01.1945) noch nicht. Als Ersatz gibt es alle zehn Tage eine Kerze. Was das bedeutet kann nur der ermessen, der bei großer Kälte und kurzen Wintertagen mit der Kerze in der Hand arbeiten, kochen und bei Nachtalarmen seine Sachen zusammensuchen muss. Am 17. Januar 1945 versuchte ich mit gesammelten Wachstropfen selbst Kerzen herzustellen. Es ist mir notdürftig gelungen. Jetzt versucht es Ulli.
Durch das Fehlen des elektrischen Stroms haben wir auch kein Radio, so dass man auch über die neuesten Nachrichten nicht unterrichtet ist. Zeitungen gibt es nur dreimal in der Woche. Man muss sich diese in der Stadt selbst holen.
Heizstoff ist äußerst beschränkt. Koks habe ich nur 40 anstatt 100 Zentner bekommen. Bei sparsamster Bewirtschaftung reicht die Menge nur bis Mitte Februar. Die strenge Kälte und das halboffene Haus machen uns aber auch hier einen Strich durch die Rechnung.
Durch Vermittlung der N.S.V.Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) wurde am 18. April 1932 durch die Nationalsozialisten als eingetragener Verein gegründet und am 3. Mai 1933, nur wenige Monate nach der Machtergreifung, zur Parteiorganisation der NSDAP erhoben.Siehe vollständiger Artikel Wikipedia.org wurde uns ein kleiner Kochherd zur Verfügung gestellt, weil unser Haushalt nur auf Gas eingerichtet war. Bis zur Bereitstellung des Herdes kochten wir etwa vier Wochen lang in der Nachbarschaft. Aber der schönste Herd verfehlt seinen Zweck, wenn er selbst keine Nahrung bekommt. Brikett und Kohle sind fast genauso rar wir Koks. Seit dem 1. Januar 1945 haben wir gerade mal einen Zentner Brikett bekommen. Keiner kann sagen, wann die nächste Lieferung kommt. Durch die Sperrung der Rheinschifffahrt infolge der zerstörten Brücken ist wohl in absehbarer Zeit mit Eingang von Brennmaterial nicht zu rechnen.
Flugblätter sollten den Durchhaltewillen der Deutschen Bevölkerung stärken:

