Der Sommer 1945
Es war Sommer 1945. Am 9. Mai wurde mit Jubel und Tränen der Sieg gefeiert. Eigentlich war der Krieg noch nicht aus, denn Japan hatte noch nicht aufgegeben, die Militärzüge mit Soldaten und Panzern fuhren vom Westen nach dem Fernen Osten, und viele mussten noch fallen. Aber der Große Vaterländische KriegIm damaligen Deutschen Reich wurde er als Russland- oder Ostfeldzug bezeichnet, in der Sowjetunion als Großer Vaterländischer Krieg (russisch Великая Отечественная война/Welikaja Otjetschestwennaja woina). Er begann am 22. Juni 1941 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion und endete nach der Schlacht um Berlin am 8./9. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht.Siehe Wikipedia.org war aus, für viele war schon der Frieden da.
Meine Mutter war mit den Kräften am Ende – vier Jahre ohne Urlaub, schwere Arbeit, Hunger, ihre Schlaflosigkeit, sie war abgemagert und der Arzt hat ihr dringend empfohlen, eine Zuckerkur und Urlaub zu machen. Mutter entschied sich, zum Strand nach Riga zu fahren.
Riga war ihr Geburtsort, ihre Familie verließ Riga 1914, und seitdem hatte sie keine Möglichkeit, dort hinzufahren, obwohl dort eine Zeit lang noch ihre Mutter und Schwester lebten: Lettland war bis 1939 Ausland, und ein Visum hat sie nicht bekommen. Jetzt lebten in Riga Omas Schwester, ihre Tochter und die Familie von Mutters verstorbenem Vetter Mischa. Er war ein Kommunist, ein Romantiker, kämpfte in Lettland im Untergrund, saß im Knast und hat dort seine zukünftige Frau Schura, auch Kommunistin, kennengelernt. Im Juni 1941 ist es der Familie gelungen, vor der deutschen Besatzung nach Russland zu entkommen. Drei andere Geschwister Omas wurden mit ihren Familien in Rigas Ghetto ermordet. Mischa ging zur Front, er wurde Kommissar der lettischen Division und ist kurz vor dem Kriegsende im Königsberger Kessel gefallen. Beigesetzt wurde er am 8. Mai in Riga, sein Sohn war noch keine fünf Jahre alt. Wir waren mit der Familie eng verbunden, sie wohnten bei uns, als sie von der Evakuierung zurückkamen und noch nicht nach Riga zurück durften. Sie übernachteten bei uns während ihrer Dienstreisen nach Moskau.
Also stand alles für Riga. Eine Weile dort leben, dann zum Strand fahren und dort einen Ferienscheck für ein Erholungsheim kaufen. Aber dazu brauchte man Geld, und wir hatten keins. Auf dem Schwarzmarkt hat Mutter unser Koffergrammophon veräußert, damals war es eine sehr wertvolle Sache – die einzige Möglichkeit, zu Hause Tanzmusik und Lieder ohne Ideologie zu hören. Es war schade, aber der Urlaub war wichtiger, und das Geld ermöglichte uns, anderthalb Monate am Strand zu verbringen.
Mutter war es gelungen, Platzkarten für die Fahrt nach Riga zu bekommen. Unser Schlafwagen ohne Abteile war überfüllt, auf der unteren Bank waren drei Sitzplätze, auf der mittleren Bank waren Liegeplätze, und auf der oberen schmalen Gepäckbank haben auch Leute geschlafen. Züge waren damals selten, und es waren sehr viele Menschen unterwegs: Demobilisierte, Leute, die aus der Evakuierung nach Hause wollten, und Dienstreisende. Die Bahnhöfe waren voll, und es gab eine Schlacht
beim Einsteigen in den Zug.
Der Zug fuhr langsam und hielt lange an den Stationen. Die Einheimischen brachten Lebensmittel zum Verkauf. Mutter kaufte Honig mit Walderdbeeren, ich habe ein ganzes Glas der Mischung verputzt. In der Nacht bekam ich hohes Fieber und einen Ausschlag, wie bei Masern. Mutter hatte Angst, man wird uns aus dem Zug weisen – damals hat man vor Typhus große Angst gehabt, aber keiner hat uns verpetzt und wir sind in Riga angekommen.
Wir sind zu Schura gefahren, sie hat uns aufgenommen – es war eine mutige Tat – ihr Sohn war fünf Jahre alt, und keiner wusste, woran ich erkrankt war. Man hat einen Arzt gerufen, er hat gefragt, was ich gegessen habe, und gesagt, es sei eine Allergie, und es wird von selbst vergehen. Damals wusste man wenig über Allergien, die Umwelt war noch intakt (außer Bomben und Schießereien) und es gab auch wenig zu essen, also litt man an Hunger, nicht an Allergien.
Schura, als Kommunistin und Untergrundkämpferin, hat eine große Karriere gemacht – sie wurde Direktorin des Parteiverlags Zina
(Kampf
– so hieß auch die Zeitung). Es war eine hohe Nomenklatur-Stellung, entsprechend bekam sie eine riesige Fünf-Zimmer-Wohnung im sechsten Geschoss des Verlags. Nur war hier die nächsten 40 Jahre die Wasserversorgung mangelhaft und die Druckerei im selben Haus verseuchte die Luft. Aber in 1945, nach der Moskauer Wohnungsnot, staunte ich über die großen Räume, und vom Balkon blickte ich auf Rigas spitze Ziegeldächer und war ganz begeistert. Pferdekutschen gab es damals auch noch. Wir spazierten durch die Stadt, Mutter zeigte mir ihre ehemalige Schule, ihr Haus, alles sah so ausländisch
aus.
Dann fuhren wir zum Strand nach Jurmala. Ich habe zum ersten Mal im Leben das Meer gesehen. Vieles hatte ich damals zum ersten Mal gesehen. Die Dünen, den breiten Sandstrand, die Eichhörnchen in den Kiefern, die kleinen Konditoreien mit selbst gebackenen Törtchen – bald werden sie geschlossenWarum? - weil in der UdSSR private Unternehmen nicht geduldet wurden[1] werden. Das elegante Restaurant Lido. Die blonden, schlanken, sportlichen Lettinnen in ihren Strandkleidern, die nur an der Taille zugeknöpft waren und die kurzen Shorts und lange Beine sehen ließen. Sie hatten wahrscheinlich während der deutschen Besatzung nicht schlecht gelebt, besser als bei der sowjetischen während der Jahre 1939 und 1940. Der wunderschöne Kurort Majori, Oma hat ihn noch Maijorenhof
genannt, zu Recht, für mich war es Ausland
. Das schwarze alkoholfreie, süße Porterbier verkaufte man in kleinen Flaschen mit einem komischen Drahtverschluss, ich hatte so eine Flasche mit Meerwasser nach Moskau mitgebracht. Und wie schön waren dort die Datschen mit ihren kleinen bunten Scheiben in Fenstern und Türen.
In solchen Datschen befand sich auch unser Erholungsheim des Volkskommissariats der Lebensmittelindustrie. Mutter hat dort für uns Ferienschecks gekauft und natürlich musste man dort die Lebensmittelkarten abgeben. Wir hatten ein ganz kleines Zimmerchen, das Fenster ging heraus zu der kleinen Gasse, die zum Meer führte, keine 50 Meter bis zum Ufer. Im Badeanzug konnte man aus dem Fenster steigen und zum Strand laufen. Wir sonnten uns in den Dünen, und das Wasser kam mir damals gar nicht kalt vor. Und welch ein Wunder war der Bernstein! Nach einem Sturm hatte ein Streifen Seetang auf dem Strand gelegen, und dort konnte man recht viele Bernsteine finden.
Und das Essen in der Kantine schien mir einfach märchenhaft. Zum Vesper-Tee gab man uns Pralinen der Firma Laima
, die waren in bunte Folie verpackt, auch ein Märchen. Die Pralinen sammelten wir für Oma, die in Moskau auf uns wartete.
Am 6. August hörten wir im Radio, dass Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geworfen worden waren, Japan kapituliert hatte und der Krieg endgültig zu Ende war. Ich jubelte – die Japse
gaben auf, endlich Frieden! Ich konnte damals nicht ahnen, in welch einer Angst wir die nächsten dreißig Jahre leben würden. So erlebte ich den Sommer 1945.
Es begann der Kalte Krieg
zwischen den Westmächten unter Führung der USA und der UdSSR. Beide Blöcke rüsteten dermaßen auf, dass man mit den vorhandenen Waffen die Erde mehrfach hätte zerstören können. Damit ging die ständige Angst vor der Umwandlung in einen Heißen Krieg
und vor einem Atomschlag einher.
Man hat sich erzählt, dass es in Moskau einen riesigen Bunker gegeben haben soll, nicht weit von der Universität an den Leninsky Bergen, (Lenin Avenue in Moskau) nur für die Regierung mit dem Eingang direkt im Kreml. Ob es wirklich so war? Die einfachen Leuten sollten sechs Meter Schutt vor der Bestrahlung schützen, oder man sollte, eingewickelt in ein weißes Laken, langsam, um keinen Stau zu bilden, zum Friedhof kriechen. Man machte Witze, aber die waren bitter.
[2] Man hat sich erzählt, dass es in Moskau einen riesigen Bunker gegeben haben soll, nicht weit von der Universität an den Leninsky Bergen, (Lenin Avenue in Moskau) nur für die Regierung mit dem Eingang direkt im Kreml. Ob es wirklich so war? Die einfachen Leute sollten sechs Meter Schutt vor der Bestrahlung schützen, oder man sollte, eingewickelt in ein weißes Laken, langsam, um keinen Stau zu bilden, zum Friedhof kriechen. Man machte Witze, aber die waren bitter.