Krankenhausaufenthalt, Moskau 1970
Es war im Mai 1970 in Moskau, ich war 37 Jahre und endlich schwanger. Die Karriere hat schon geklappt und es war höchste Zeit, wenn nicht zu spät, um ein Kind zu bekommen. Meinen Rechnungen nach war es schon die achte Woche und ich musste schleunigst zum Gynäkologen, um zur richtigen Zeit den Schwangerschaftsurlaub zu kriegen.
Der Gynäkologe war unzufrieden: Erstens war ich alt, zweitens hatte ich von meinen Winterwanderungen ein paar schlimme Entzündungen mitgebracht. Er sagte, dass es mit meiner Vorgeschichte höchstwahrscheinlich eine Eileiterschwangerschaft wäre, es sei sehr gefährlich und ich solle sofort ins Krankenhaus, denn morgen könne es schon zu spät sein. Es war noch die Zeit ohne UltraschallSonografie (Sonographie), auch Echografie oder umgangssprachlich Ultraschall genannt. Siehe: Sonografie, Wikipedia.org. Er hat mein Fieber gemessen, es war 38,2°, und gab mir eine Überweisung ins Frauenkrankenhaus in unserem Bezirk. Komisch, ich habe mich so gut gefühlt, aber ich wurde mit der Ambulanz dorthin gebracht.
Das Frauenkrankenhaus war eine Kaserne aus Backstein, vier Etagen hoch. Dort wurden auch komplizierte Operationen gemacht, aber meistens kamen dorthin schwangere Frauen mit Komplikationen oder zu Abtreibungen. Ich war das erste Mal im Leben im Krankenhaus und die Aufnahme ist mir schrecklich erniedrigend und brutal vorgekommen. Das Personal – die Krankenwärterinnen und Sanitäterinnen – waren grob und unfreundlich. Kühle schmutzige Dusche, die Rasur, dann hat man mir ein grobes graues Hemd und einen abgetragenen Schlafrock gegeben und ich musste auf der Liege auf die Oberärztin warten. Ich habe dort gelegen und aus Hilflosigkeit Tränen vergossen. Die Ärztin war aber sehr nett. Sie betreute Frauen, denen eine Fehlgeburt drohte, und sie operierte. Sie sagte, sie sehe bei mir nichts Drohendes, in der Arztpraxis hätten sie ein kaputtes Thermometer und ich wäre von dort nicht der erste Fall. Aber sie wird mich im Krankenhaus behalten, bis zur Klärung meines Zustandes.
In den Krankenzimmern für Frauen, die zur Erhaltung der Schwangerschaft lagen, war zurzeit kein Platz frei, und man hat mich in ein Zimmer mit 16 Betten für Frauen mit Abtreibungen gebracht. Ich bekam einen guten Platz am Fenster, es durfte Tag und Nacht offen bleiben, drittes Geschoss, die Vögel kamen auf das Fensterbrett. Die Frauen wechselten alle drei Tage, es waren keine spezifischen Gespräche über die Erhaltung der Schwangerschaft, das hat mir gefallen. In diesem Zimmer habe ich 40 Tage verbracht, weil mein Zustand sich nicht klären wollte
.
Der Saal für Abtreibungen war in der Nähe, von dort konnte man oft verzweifeltes Geschrei hören, und die Frauen auf der Warteliste erwarteten mit Angst, dass man sie aufruft. Richtiges Anästhesieren war nicht vorgesehen, manche bekamen eine Betäubungsmaske, aber sie wirkte wenig, behinderte nur das Geschrei. Die Ärzte meinten, es ist weniger gefährlich, wenn die Frau reagiert
. Aber vielleicht war es auch eine Art der Bestrafung der Frauen.
Die Frauen waren meistens aus einfachen Verhältnissen, für Wohlhabende gab es andere Möglichkeiten. Für Geld bei einer bekannten Gynäkologin in der Praxis oder auf dem Tisch in der eigenen Küche, mit Spritze – alles besser, als die Folter im Krankenhaus. Natürlich war sowas illegal und es blieb immer ein Restrisiko. Aber für einen schlimmen Fall hatte der Arzt Beziehungen in den Krankenhäusern. Außerdem brauchte man dann keinen kompromittierenden Krankenschein auf der Arbeit vorzulegen.
Viele Frauen waren nicht das erste Mal hier, manche wiederholten die Tortur sogar dreimal im Jahr. Es gab damals noch keine Verhütungspillen, nur Kondome. Und oft waren die Partner betrunken, konnten gar nicht aufpassen. Manche Frauen hatten keine festen Beziehungen, aber auch Familienfrauen konnten sich oft kein Kind leisten – keine eigene Wohnung, Geldmangel, oder die Männer waren Alkoholiker. Besucher wurden ins Krankenhaus nicht hereingelassen. Die Männer standen im Garten unter dem Fenster, manche schrien Manja, wirf doch drei Rubel! Na wirf doch!
Das war der Preis einer Flasche Wodka. Fuck, leck mich
, schrie Manja zurück und der Mann antwortete auf dem gleichen hohen Niveau. Viele Frauen brachten ins Krankenhaus ihr ganzes Vermögen
mit, sonst wäre das Geld versoffen worden. Es war ein Geschrei und schlimme Schimpferei. Für mich war das eine neue, recht interessante Erfahrung.
Manche Frauen waren sehr nett, erzählten interessante Geschichten. Meine Nachbarin war Arbeiterin des berühmten Fleischkombinats. Sie erzählte, sie arbeite dort als Köchin in der ersten (geheimen) Abteilung
. Ich war ganz verwundert, dass es so eine Abteilung bei der Fleischverarbeitung gibt. Bei uns im Institut hat die erste Abteilung
Verteidigungsthemen überwacht. Was meinst du denn? Wir machen Fleischprodukte für den Kreml. Ach, solche Würstchen hast du niemals gegessen, wirst auch nicht!
Die Frau war 40 Jahre alt, die Ärztin probierte sie zu überreden, das Kind zu bekommen, ihr Mann wollte es auch. Aber meine Tochter ist schwanger, es ist doch so peinlich eine Oma und Mutter zur gleichen Zeit zu werden
, weinte sie und hat sich doch zur Abtreibung entschlossen.
Mir hat man erlaubt aufzustehen und ich durfte im Garten spazieren gehen. Dort habe ich meine Besucher empfangen. Aber nach sechs Wochen Aufenthalt ist mir schrecklich langweilig geworden – ich wollte nach Hause, ich wollte zur Arbeit. Es war schon Sommer geworden und ich musste in dem schäbigen, staubigen Gärtchen sitzen. Ich habe angefangen zu betteln mich nach Hause zu lassen. Einfach weglaufen durfte man nicht – ich musste unbedingt einen Krankenschein bei der Personalabteilung vorlegen. Nach 40 Tagen hat mich meine Ärztin freigelassen, aber mit Bedenken – ich musste ihr mein Wort geben, dass ich alle paar Wochen zur Untersuchung erscheinen werde. Und erst als mein Kind zu strampeln anfing, war sie zufrieden und sagte, es sei dort, wo es sein muss.
So war es in der Zeit vor Ultraschall! Bis zum letzten Moment hat die Frau nicht gewusst, was auf sie zukommt, ob es ein Junge, oder ein Mädchen wird, Zwillinge oder sogar Drillinge!