Meine erste Revolution
Argentinien hat im 20. Jahrhundert etliche Revolutionen, Militärputsche, zivile Aufstände und schließlich einen so genannten schmutzigen Krieg
erlebt.
1930 wohnte ich mit meinen Eltern und meiner Schwester im Stadtviertel Villa Devoto, nahe der Stadtgrenze von Buenos Aires. Unsere Wohnung war damals eine der wenigen, die einen Telefonanschluss hatte.
Es war im September dieses Jahres, als ich als Sechsjähriger merkte, dass meine Eltern ziemlich nervös nach einem Telefonanruf reagiert hatten. Es war schon abends, und mein Vater ließ unseren Gärtner Martin - der mit seiner Frau Teresa (unser Dienstmädchen) hinten im Gartenhäuschen wohnte - kommen. Er gab ihm geheime Anweisungen und beide gingen auf die Straße. Ich bemerkte, dass mein Vater seine Walther
Pistole in die Hosentasche steckte und an der Haustüre stehen blieb, um Martin, der im Dunkeln zur Straßenecke ging, Rückendeckung zu geben.
Als Martin wieder zurück kam, erklärte mir mein Vater endlich, dass er vom Polizeirevier angerufen worden war, mit der Bitte, einem auf unserer Straße wohnenden Polizeioffizier mitzuteilen, er sollte sich umgehend auf der Wache melden, es gäbe Alarmbereitschaft. Mein Vater, der in seiner russischen Gefangenschaft so manche Erfahrungen gemacht hatte, ahnte sofort, dass etwas Ernstes im Gange war. Wir erfuhren, dass tatsächlich in der Hauptstadt politische Unruhe herrschte. Es gab Studenten-Aufstände und der Staatspräsident Yrigoyen war aus Gesundheitsgründen
zu Gunsten des Vizepräsidenten Martinez abgetreten.
Am nächsten Morgen, also am 6.September 1930, hörten wir schon im Radio, dass eine Revolution ausgebrochen war. Zivile Aufständische, mit Fahnen in der Hand, hatten sich in den Kasernen von Campo de Mayo eingefunden, um die Truppen aufzufordern, die Regierung zu stürzen. Viele Regimenter weigerten sich, dieses zu tun, aber die Militärakademie und einige Truppenteile willigten ein und machten mobil, um das Regierungsgebäude in der Hauptstadt zu stürmen.
Ihr Weg führte sie an unserer Straßenecke vorbei, auf der Hauptstraße Tres Cruces (später in Avenida Francisco Beiró umgetauft). Von unserer Wohnung aus hörte ich das Pferdegetrampel und das Gerassel der Feldartillerie. Ich rannte natürlich bis zur Straßenecke, um die vorbeiziehenden Truppen aus nächster Nähe anzusehen. Noch nie hatte ich so viele Soldaten gesehen. Vorneweg, die Kavallerie im Trab, dann die Artillerie mit den Feldgeschützen und Munitionswagen, und zum Schluss kam die Infanterie auf Pkws. Alle in Kampfuniformen, mit umgehängter Schlafdecke und Rucksack. Für mich und die anderen Jungen unserer Straße war das ein außergewöhnliches Spektakel, dass ich bis heute noch in Erinnerung habe.
Natürlich hatte ich damals keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte. Ich wurde Zeitzeuge vom Ende einer Folge demokratischen Regierungen und den Beginn einer 53 Jahre langen Periode von Diktaturen, die jeweils nach den fünf weiteren Revolutionen (1943, 1955, 1962, 1966 und 1976) entstanden sind.
Mein Vater war, wie viele andere, an diesem Tag nicht zur Arbeit gefahren und erfuhr erst am nächsten Morgen aus den Zeitungen über das Geschehene. Die Militärkolonne unter dem Kommando von General José Felix Uriburu, hatte sich dem Stadtzentrum genähert, ohne auf Widerstand zu stoßen. Jedoch in den Nähe des Kongressplatzes versuchten Regierungstreue Truppen, die Rebellen zu stoppen. Es kam zu einem kurzen Gefecht, in dem auch die Feldgeschütze eingesetzt wurden, und bald war der Weg zum Regierungsgebäude wieder frei.
Hunderte von Zivilisten begleiteten den siegreichen Militärzug bis zur Casa Rosada (Regierungsgebäude), wo der triumphierene General Uriburu den Abtritt des amtierenden Vizepräsidenten erzwang. Wenige Tage später erkannte der Oberste Gerichtshof den General Uruburu als Einstweiligen Präsidenten
(Presidente Provisional) an. So wurde zum ersten Mal in Argentinien die de facto Präsidentschaft
etabliert, die später als fast normaler
Zustand zur Geltung kam.
General Uriburu regierte mit eiserner Hand, und es wurde ihm vorgeworfen, polizeiliche Foltermethoden geduldet, und die Menschenrechte missachtet zu haben. Er starb jedoch zwei Jahre später und wurde durch General Juan B. Justo ersetzt. Dies interessierte mich damals als Kind überhaupt nicht. Alles was sich in meiner Erinnerung geprägt hatte, war der Vorbeizug der Soldaten. So wie im Lied: … wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren …
Übrigens, während des Scharmützels wurde das Büro meines Vaters im Stadtzentrum durch ein Kanonengeschoss erheblich beschädigt. Zum Glück blieb sein Schreibtisch unbehelligt, und dieses Erbstück - mit historischem Wert - steht heute noch im Schreibzimmer meiner Wohnung in Norderstedt.