Geburt unter Alarmzustand
Es geschah am 3.Oktober 1976 in Buenos Aires. Kurz vor Mitternacht klingelte es in unserer Wohnung. Wir waren gerade eingeschlafen. Unruhig hob ich den Hörer unserer Sprechanlage auf (wir wohnten im zweiten Stock) und fragte vorsichtig: Wer ist da?
. Ich hörte die Stimme meines Schwiegersohns, die hastig sagte: Ich bin es, macht bitte schnell auf, es regnet!
.
Hierzu sei zu vermerken, dass wir seit unserem Einzug in die neue Wohnung jahrelang auf einen Telefonanschluss gewartet hatten, wie es damals in Argentinien so üblich war.
Erleichtert drückte ich auf den Öffner und wartete auf den späten Besucher. Kaum war er in der Wohnung, erklärte er uns, worum es ging. Bei unserer hoch-schwangeren Tochter waren nämlich plötzlich die Wehen eingetreten. Der Schwiegersohn bat uns, sie umgehend in die Klinik zu fahren und die Oma möchte sich um Pablo, unseren eineinhalb Jahre alten Enkelsohn, kümmern. Das junge Paar wohnte damals drei Häuserblocks von uns entfernt und hatte noch kein Auto. In diesen Zeiten der ständigen Terroranschläge war es nachts unmöglich, ein Taxi aufzutreiben.
Also kleideten meine Frau und ich uns schnell an und ich nahm den Fahrstuhl in die Tiefgarage, um das Auto klarzumachen. Erst setzte ich meine Frau bei der Wohnung unserer Tochter ab, wo sie auf Pablo aufpassen sollte. Dann fuhren wir Richtung Stadtzentrum zur Klinik.
Der Regen hatte zugenommen und die Straßen waren teilweise überschwemmt. Ich kam mir vor wie in einem Motorboot. Das Bugwasser
spritzte an den Seitenfenstern vorbei und ich konnte kaum die Straßenumrisse erkennen. Ich musste entscheiden zwischen schnell zu fahren und das Eindringen von Wasser in den Motor riskieren, oder langsamer voranzukommen und eine Geburt im Auto in Kauf zu nehmen. Da wir sowieso einen Arzt an Bord hatten (mein Schwiegersohn), gab ich Gas, und in knapp einer halben Stunde waren wir an unserem Ziel angelangt.
Vorsichtshalber hielt ich an der rechten Straßenseite an, da auf der linken eine Polizeiwache stand und absolutes Halteverbot herrschte. Damals waren Polizisten beliebte Opfer der Terroristen. Um in einer Terrororganisation aufgenommen zu werden, mussten die Bewerber
eine Mutprobe vorweisen. Diese bestand meistens darin, die Dienstplakette und Waffe eines Schutzmannes vorzulegen. Um diese zu ergattern, wurden Polizeibeamte willkürlich ermordet, hauptsächlich bei Nacht. Also verbarrikadierten sich die Polizisten abends in ihren Revieren und gingen tagsüber nur zu zweit auf die Straße.
Kaum hatte ich angehalten, hörte ich schon laute Rufe: Sofort weiterfahren, polizeiliche Sperrzone!
. Trotz des Regens kurbelte ich mein Fenster herunter und rief dem hinter Sandsäcken stehenden Wachtposten zu, dass ich erst meine Tochter an der direkt neben der Polizeiwache liegende Klinik absetzen müsste. Die Polizisten hatten aber ihre Anweisungen und bald standen sie neben unserem Auto und drohten uns mit ihren Maschinenpistolen. Sie befahlen mir nochmals, sofort weiter zu fahren.
Verzweifelt brüllte ich sie an: Wollt ihr, dass meine Tochter das Kind im Auto bekommt?!
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Gleichzeitig zog ich meinen Marineausweis, den ich als Marinekorrespondent immer bei mir trug, und hielt ihn den Polizisten unter die Nase. In der Dunkelheit konnten diese nicht genau erkennen was auf dem Ausweis stand, lediglich die große Aufschrift ARMADA ARGENTINA war zu lesen.
In diesen Zeiten, wo das Land von einer Militärjunta regiert wurde, genügte dies, um Respekt zu gewinnen.
Sofort senkten sie ihre Waffen und sagten mir höflich: Lassen Sie bitte ihre Passagiere aussteigen, wir eskortieren sie dann bis zur Klinik, Sie können anschließend das Auto an der nächsten Straßenecke parken.
Als ich endlich in der Klinik durchnässt und erschöpft ankam, befand sich meine Tochter bereits im Kreißsaal und mein Schwiegersohn zog sich gerade einen Kittel und Handschuhe an, um ihr beizustehen. Ich ließ mich in einen Sessel im Wartezimmer fallen und schlief sofort ein.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es schon hell. Mein Schwiegersohn stand lächelnd vor mir und sagte mir, dass ich zum zweiten Mal Großvater eines Jungen geworden war und es meiner Tochter gut ginge.
Ich durfte den Neugeborenen in der Nursery Übersetzt so viel wie: Säuglingssaal, Kinderstation der Klinik durch eine Glasscheibe betrachten. Er wurde gerade gewickelt und ich musste über seine langen Beine lächeln. Sie erinnerten mich an ein Paar Wiener Würstchen. Das wird bestimmt ein großer Kerl werden
, dachte ich mir. Und es stimmte auch: Horacio ist jetzt mit seiner 1,90m Statur Stabsarzt (Chirurg) bei der argentinischen Marine.
Horacios Ankunft bescherte uns aber noch einen Schrecken, obwohl ganz anderer Natur.
Einige Wochen später war die Taufe angesagt. Und zwar in der Deutsch-Evangelischen Kirche im Stadtzentrum von Buenos Aires. Die ganze Familie hatte sich versammelt und wir standen um das Taufbecken herum. Meine Frau - die Oma - hielt den schlafenden Jungen im Arm und der Pastor hielt seine Ansprache. Alle Augen waren auf das blonde Haupt des Täuflings gerichtet und wir freuten uns, dass er sich so ruhig verhielt.
Aber plötzlich merkte ich, dass am Adventskranz, der hoch über dem Becken hing, die Flamme einer fast abgebrannten Kerze das Grünzeug erreichte und es zum Glimmen gebracht hatte. Bald entwickelte sich etwas Rauch und kleine Flämmchen deuteten auf einen bevorstehenden Brand! Mit Blicksignalen versuchte ich verzweifelt, den Pastor darauf aufmerksam zu machen.
Der aber segnete in aller Ruhe das schlafende Kind und beachtete meine Zeichen nicht. Schließlich bewegte ich energisch meinen Zeigefinder nach oben und es gelang mir so, seine Aufmerksamkeit zu wecken.
Als er die Gefahr erblickte, drehte er sich ohne Zögern um und rannte aus dem Kirchensaal heraus. Ein paar Minuten später war er wieder zurück mit einem Siphon in der Hand. Schnell richtete er die Flasche gegen den Brandherd und aktivierte das Druckventil. Der starke Wasserstrahl löschte bald die Flammen und die Zeremonie konnte friedlich fortgesetzt werden.
Über diesen Zwischenfall haben wir uns noch lange im Familienkreis amüsiert.