Badetag
Meine Großeltern lernten sich in Berlin kennen und heirateten 1905. Sie hatten vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen. Opa war Schuhmacher, später Droschkenkutscher und schließlich Taxifahrer und die Oma sorgte als Zwischenmeisterin für ein kleines Zubrot mit ihrer Näherei. Im Jahre 1911 zogen sie nach Rixdorf, bei Berlin - inzwischen heißt diese Stadt Neukölln und ist einer der 20 Bezirke der Hauptstadt - und bezogen in einem damaligen Neubau eine große Wohnung, die sie ein Jahr lang ohne Mietzahlung trockenwohnen
trockenwohnen, Trockenwohner: Personen, die in Neubauten lebten, deren Wände noch nicht ausgetrocknet waren. Ein neu gebautes Haus benötigte typischerweise 3 Monate bis es bewohnbar war.[1] durften.
Die Häuser in dieser Gegend waren als so genannte Offizierswohnungen konzipiert, d.h. pro Etage gab es nur eine einzige Wohneinheit. Aber das Konzept ging nicht auf, so dass aus der einen Großwohnung nachträglich drei Einzelwohnungen entstanden. Auf jedem Stockwerk gab es aber nur eine Wohnung mit Badezimmer und just diese Wohnung bekamen meine Großeltern. Später mieteten sie sie endgültig und in der Folgezeit wurde diese Wohnung für über 60 Jahre der Mittelpunkt unserer Großfamilie. Als die Kinder flügge wurden, ging es bei Tante Tilla wie in einem Taubenschlag ein und aus. Später, Mitte/Ende der 30er Jahre wurde der Familienzusammenhalt noch größer, weil inzwischen die Enkel geboren wurden und weil die Töchter und Schwiegertöchter beim AusfertigenUnter Ausfertigen
versteht man, dass die Säume gepaspelt und ggf. Kragen, Manschetten und Knöpfe angenäht wurden.[2] der Kinderkleider, auf die sich meine Großmutter spezialisiert hatte, mithalfen.
In alter Tradition fand am Wochenende dort der Badetag statt. Ganz in der Nähe der großelterlichen Wohnung hatten sich drei der vier Kinder, die inzwischen verheiratet waren, niedergelassen, aber Familienmittelpunkt blieb weiterhin die Wohnung ihrer Eltern. Seinerzeit gehörte eine Wohnung mit Bad und Innentoilette noch zu den großen Ausnahmen, wenngleich in den eintönigen Neubauten, die dann in den 20er-30er Jahre entstanden, alle Wohnungen mit diesem Komfort ausgestattet wurden.
Im Badezimmer gab es eine riesige Wanne, die auf stilisierten Löwenfüßen stand. Eine Kachelverkleidung gab es damals noch nicht. Am Fußende befand sich der Badeofen, ein fast zwei Meter hohes, röhrenartiges Gebilde, das auf einem kleinen Bollerofen stand und per Hand mit Kohle oder Holz oder mit beidem beheizt werden musste. Dieses raketenähnliche Gebilde war mit Wasser gefüllt, das darin erwärmt wurde. An dem Badeofen war eine riesige Armatur angebracht. Der Einlaufhahn maß etwa 40 cm und es gab eine statische Dusche, die man nicht bewegen konnte. Ihr Strahl setzte die Badestube regelmäßig unter Wasser, weshalb es uns verboten wurde, den entsprechenden Hahn aufzudrehen. Das Anheizen dauerte natürlich ein Weilchen und wir Kinder halfen gern beim Besorgen des Nachschubs, denn die Presskohlen und ein Holzvorrat lagerten auf dem Flur hinter einem Vorhang. Während Oma und Opa mit ihren Söhnen in der Guten Stube
Skat spielten, sorgten sich die Frauen um uns Gören.
Erst kamen die Jungs ins Wasser und wenn die fertig waren, die Mädchen. Das Wasser wurde natürlich nicht herausgelassen, es kam ein wenig warmes dazu und schon war das Bad für sie gerichtet. Mein Cousin war gut ein Jahr jünger als ich, alberte aber wieder einmal rum.
Er war schon fertig angezogen und trug einen hübschen Matrosenanzug, das war damals für kleine Jungen sehr chic und er hatte, glaube ich, auch schon seine Schuhe an. Inzwischen waren meine Schwestern im Wasser und er rannte immer hin und her. Nachdem er sich an einer Presskohle die Händchen dreckig gemacht hatte, sollte er sie in der Wanne abspülen. Offenbar kam er aber nicht so weit über den Wannenrand, dass er Wasserberührung bekam, deshalb zog ihn meine große Schwester liebevoll
hinunter, zog aber wohl auch aus Übermut ein bisschen zu stark und der kleine Junge lag prustend und mit voller Montur im Wasser. Im ersten Augenblick wusste keiner so genau, was nun folgen würde, als aber der kleine Mann in seinem nassen Matrosenanzug mitten im Wasser stramm stand und salutierte, fingen selbst die Erwachsenen, die rasch dazu kamen, lauthals an zu lachen.
Diese Geschichte wurde noch lange erzählt, wenn wir Enkel uns später auch mit unseren Partnern bei Oma
einfanden, denn das Wochenende bei Oma war noch lange Tradition, wenngleich dann doch mehr mit Kartenspielen als mit Baden verbunden!
[1] trockenwohnen, Trockenwohner:
Personen, die in Neubauten lebten, deren Wände noch nicht ausgetrocknet waren. Ein neu gebautes Haus benötigte typischerweise 3 Monate bis es bewohnbar war.
[2] Unter Ausfertigen
versteht man, dass die Säume gepaspelt und ggf. Kragen, Manschetten und Knöpfe angenäht wurden.