Drei Ecken ein Elfer
„>Tor!!! Fünf drei für uns!“ jubelt Fiddem (Friedhelm), nachdem er drei Gegenspieler elegant umfummelt und dann den alten Tennisball flach in die lange Ecke gejagt hatte. Keine Chance für den kleinen Dieter im Tor. Hand!
schreit Manni (Manfred), der bei jedem Gegentor protestiert. Aber auch jetzt hilft ihm sein Theater nichts. Keine Hand! Angeschossen!
entscheidet der Torschütze. Hol den Ball!
schnauzt er den Torwart an, dessen ungeschriebene Aufgabe es ist, den Ball, der inzwischen mehr als fünfzig Meter weit gerollt ist, zurückzuholen.
Wir befinden uns auf unserer Straße Zum Kühl
in Bochum-Werne und spielen Fußball, so wie wir Jungen es bei einigermaßen gutem Wetter fast jeden Tag nach der Schule tun. Wir gebrauchen das Wort Fußball
meistens nicht dafür, sondern nennen unser Spiel dann böschen
oder pöhlen
. Warum weiß ich nicht. Die Fahrbahn ist weit vor dem Krieg asphaltiert worden, jetzt ist ihre Oberfläche kaum noch glatt. Die groben Steine des Unterbaus ragen mit ihren Spitzen überall tückisch hervor. Wer hier beim Laufen oder Radfahren stürzt, hat einige Quadratzentimeter Haut weniger und höllische Schmerzen obendrein. Aber das kümmert uns wenig. Wir vermeiden deshalb derbe Rempler und bemühen uns um Technik und Spielwitz. Durchschnittlich nur jede gefühlte Viertelstunde fährt ein Auto oder Motorrad langsam vorbei. Dann schreit irgendeiner: Auto!
und wir gehen kurz zur Seite.
Spiel- oder gar Bolzplätze gibt es nicht. Nicht im Traum ist daran zu denken. Jeder Quadratmeter unbebauten Boden, auf dem keine Trümmer liegen, wird zum Anbau von Nutzpflanzen benutzt. Statt Blumen im Vorgarten wachsen jetzt Kartoffeln, Kohl und Gemüse. Von den Rationen auf den Lebensmittelmarken können wir nur hungern und dahinvegetieren jetzt, in den drei, vier Jahren nach Kriegsende.
Wir nehmen vier größere Steine und bilden damit die Tore. Alle Abstände werden vor jedem neuen Spiel in Abhängigkeit von der Zahl der Spieler und ihrer individuellen Qualität festgelegt. Auch die Bürgersteige bis zu den Vorgärten werden einbezogen. Fertig ist das Spielfeld. Ein Problem droht uns, wenn das Spielgerät verspringt, in einem Vorgarten landet und zwischen die empfindlichen und wertvollen Pflanzen kullert. Der wütende Nachbar oder die Nachbarin gibt dann den Ball nicht an uns Kinder heraus, sondern unter lauten Beschimpfungen an die Eltern. Ärger gibt es auch, wenn wir zu laut sind, und diejenigen Männer stören, die Nachtschicht haben und tagsüber schlafen müssen. Aber eine echte Katastrophe passiert dann, wenn eine Fensterscheibe dem Aufprall eines Balles nicht standhält. Der Glaser verlangt neben Bargeld auch Naturalien. Die schönste Jahreszeit ist für uns deshalb der Spätsommer, wenn die umliegenden Getreidefelder abgeerntet sind und wir auf den Stoppelfeldern nach Herzenslust voll reintreten und den Ball ohne Rücksicht treiben können.
Die beiden Jungen, die als die Besten gelten, wählen die Mannschaften. Mädchen interessieren sich kaum für diese Art Ballspiel. Wenn eine unbedingt mitspielen will, stellen wir sie ins Tor. Bei einer größeren Zahl von ballinteressierten Mädchen spielen wir mit ihnen Völkerball oder Schlagball.
Beim Böschen
wird als Ball zur Not alles genommen, was sich rollen lässt. Eine Blechbüchse, ein Ball aus Lumpen oder dergleichen. Besonderen Spaß macht es, wenn jemand einen Tennisball mitbringt, weil er so schön tickt. Aber richtige Freude kommt auf, wenn Willi seinen richtigen, großen Fußball aus Leder mit einer Gummiblase darin mitbringt. Um die Öffnung für die Blase zu verschließen, wird sie mit Lederschnüren verknotet. Seine Eltern hatten ihm den zu Weihnachten geschenkt. Er muss auf dem Schwarzen Markt oder bei einem Tauschgeschäft ein kleines Vermögen gekostet haben.
Einen Schiedsrichter brauchen wir nicht, wir regeln alles selbst. Linien sind überflüssig. Die Abseitsregel ist aufgehoben. Eckbälle werden nicht getreten, dafür gibt es für 3 Ecken einen Elfer.
Zurück zu unserem aktuellen Spiel. Widerwillig hat Dieter den Ball zurückgeholt zum Anstoß, da hören wir Fiddems Mutter aus dem Küchenfenster energisch rufen: Friedhelm! Komm rein!
So ein Mist
, knurrt Fiddem und trottet langsam nach Hause. Wir anderen wissen Bescheid. Seine Mutter hatte ihm Fußballverbot erteilt wegen der Schuhe — damals lederne Kostbarkeiten — die geschont werden mussten. Und barfuß spielen ging nicht auf dieser Straße. Man kann seine Mutter verstehen. Ihr Mann ist in Russland vermisst, und sie muss sehen, wie sie ihre drei Jungens durch die schlechte Zeit bringt.
Aber dadurch ließ sich Fiddems Fußballerkarriere damals als Neunjähriger nicht aufhalten. Irgendwann fand sich ein Gönner, der ihm Fußballschuhe besorgte. Dann spielte er sich als Jugendlicher und Jungerwachsener durch die Bezirks-, dann Landesliga bis in die damalige Oberliga West, eine der fünf höchsten Ligen in der Bundesrepublik Deutschland, lange bevor die Bundesliga gegründet wurde. Er war Spielmacher und Torjäger zugleich. Sein jüngerer Bruder Günna (Günter) wuchs zum schnellsten Linksaußen der Landesliga heran. Manni spielte lange erfolgreich als Mittelstürmer in der Kreisklasse.
Das waren drei Talente allein aus unserer Straße. Wie viele Talente wegen fehlender Schuhe damals verkümmerten, weiß ich nicht. Auch gab es sehr vorsichtige Mütter, die nicht nur deshalb ihre Unterschrift auf dem Aufnahmeantrag eines Vereins verweigerten, sondern auch, weil sich ihre Söhne die Knochen hätten brechen können. Meine Mutter trug ähnliche Sorgen für meine Gesundheit und das einzige Paar Schuhe, das ich als Dreizehnjähriger besaß. So blieben mir nur der Straßenfußball und die Schulmannschaften. Ich war ein brauchbarer Rechtsfuß, der gerne als linker oder rechter Verteidiger hinten alles wegräumte. Genau so gerne spielte ich auch Rechtsaußen oder linker Flügelflitzer, denn mit links konnte ich ebenfalls ganz passabel flanken. Gerne schoss ich den Ball unter die Querlatte ins Tor, weil die zumeist kleinen Torwärter dort nicht drankamen.
Weiter kam ich aus verschiedenen Gründen mit dem Fußballspielen nie. Besonders fehlte mir die Zeit für das unentbehrliche Training, weil ich einerseits für die höhere Schule mächtig büffeln und andererseits unseren Garten und die vielen Kaninchen versorgen musste. Aber die Begeisterung für den rollenden Ball ist bis heute geblieben.
Was mir beim Besorgen von Grünfutter für meine hoppelnden Gesellen mit dem kuscheligen Fell passiert ist, erfahren Sie in der nächsten Geschichte Flurschutz
.
In dieser Geschichte habe ich durchweg hochdeutsche Ausdrücke benutzt. In Wirklichkeit drückten wir uns damals umgangssprachlich etwas anders aus. Einige Beispiele:
Schoss jemand den Ball mit dem linken oder rechten Fuß, dann nahm er den linken oder rechten Schlappen.
Hatte jemand einen strammen Schuß, dann hatte er 'n anständigen Bums im Hintern.
Schlug jemand einen Pass, dann gab er 'ne Lage.
Dribbeln hieß fummeln.
Straßenfußball hieß böschen, pöhlen oder bolzen.
Mädchen waren - ohne abwertende Absicht — Deenen oder Schicksen.
Kinder Blagen oder Kröten.