Flurschutz
- erwischt, bestraft, gelernt -
Wie ein geprügelter Hund schlurfe ich an diesem Morgen mit hängenden Schultern zur Schule. Den Blick starr auf den Boden geheftet. Hoffentlich treffe ich keinen Mitschüler, der mir die Schande ansieht und dumme Fragen stellt. Die drei Kilometer Schulweg kommen mir heute entsetzlich lang vor.
Vielleicht hatte es sich sogar schon herumgesprochen in unserem klatschsüchtigen Nest und alle wissen Bescheid, schrecklich! Wie werden die Lehrer reagieren? Werden sie meiner Mutter, die als Kriegerwitwe sowieso schon viel durchmachen musste, einen blauen Brief schicken oder mich sofort von der Schule weisen? Kann sich das renommierte Gymnasium so einen Schüler leisten? Diese quälenden Gedanken und noch viel mehr wälzen sich zentnerschwer durch meinen blondgelockten Schädel, aber warum?
Wie ich schon in anderen Geschichten berichtet habe, hielten wir – wie viele andere Menschen in den Hungerjahren nach dem Krieg – allerlei Kleinvieh, um die amtlich zugeteilten Lebensmittelrationen zu ergänzen, denn davon alleine konnte Otto Normalverbraucher
auf die Dauer nicht leben und wäre an Entkräftung langsam zugrunde gegangen. Doch ein Gutes hatte diese Zeit: Zirka 99 Prozent der Bevölkerung besaß ohne die heute üblichen Abmagerungsdiäten, ohne Fitnessgeräte in der Muckibude
oder tägliches Jogging mit keuchenden Lungen stolzes Idealgewicht oder weniger – und konnte es mühelos halten. Zivilisationskrankheiten wie zum Beispiel Übergewicht, Diabetes oder Drogensucht waren so gut wie unbekannt.
Um aber dem drohenden Hungertod zu entgehen, mussten wir Zusatznahrung organisieren
. Es gab einige Mittel und Wege, zum Beispiel Schwarzmarkt, jedoch riskant und teuer. Tauschhandel: Sofern man etwas zum Tauschen hatte. Oder Kleinviehhaltung, die war mühevoll, aber ehrlich.
Wir wohnten nicht in der Innenstadt von Bochum, also nicht im städtischen Ballungsgebiet, sondern im Vorort Werne mit aufgelockerter Bebauung, durchzogen von Gärten und kleinen Parks. Am Ortsrand schließt sich Lütgendortmund an, ein Vorort der Großstadt Dortmund. Zwischen Werne und Lütgendortmund liegen riesige Flächen, die damals rein landwirtschaftlich genutzt wurden. Viel später wurde nach dem sogenannten Zechen- und Fabriksterben das Opelwerk III darauf gebaut. Insoweit waren die geographischen Voraussetzungen günstig für Kleintierhaltung, denn die Tiere brauchten ja Futter – und nicht zu knapp.
Am besten ließen sich Kaninchen halten. Einen Stall aus Holz konnte jeder, der nicht zwei linke Hände hatte, zusammenzimmern. Die Mümmelmänner brauchen keinen Auslauf wie Hühner, Gänse oder Enten. Und sie können fast ausschließlich von gekochten Kartoffelschalen, Gemüseabfällen aus der Küche und von frischem Grünfutter wie Gras, Klee, Löwenzahn und anderen Wildkräutern ernährt werden. An letzteres heranzukommen, war damals recht schwierig. Denn in unseren kleinen Gärten mussten wir Gemüse für die menschliche Ernährung anbauen, wie Kartoffeln, Kohl, Möhren, Bohnen, Erbsen, Suppengrün usw. Da war kein Platz mehr für Gras und Klee. Also musste das Grünfutter aus der Umgebung besorgt werden. Die bäuerlichen Getreide-, Kartoffel-, Gras- und Kleefelder waren für uns jedoch tabu. Es wäre Flurdiebstahl gewesen. Doch immer wieder gab es Menschen, die sich nicht daran hielten. Zur Abschreckung und Verfolgung dieses strafbaren Delikts hatte die Militärregierung einen Flurschutz eingerichtet: Handfeste Männer in Zivil auf schnellen Fahrrädern. Sie waren gefürchtet, weil sie überraschend schnell und robust wie Zieten aus dem Busch
Hans Joachim von Zieten, seltener auch Ziethen - die französisierte Namensform lehnte er ab -, auch genannt Zieten aus dem Busch (* 14. Mai 1699 in Wustrau; † 27. Januar 1786 in Berlin) war einer der berühmtesten Reitergeneräle der preußischen Geschichte und ein enger Vertrauter Königs Friedrich des Großen. Flurdiebe erwischten.
Uns blieben nur die schmalen und kümmerlichen Feld- und Wegränder. Mit Sense und Sichel war da nichts zu machen. Ich nahm einen großen Sack, streifte durch die Gegend und rupfte das Grünzeug mit der Hand, bis der Sack voll war. Diese mühselige Arbeit dauerte Stunden. So ging das jeden Tag, am Samstag sogar zwei Säcke, weil der Sonntag heiliger Ruhetag ist.
Einzig und allein auf Rübenfeldern waren Grassammler geduldet, wenn sie vorsichtig die Reihen entlang gingen. Selbstverständlich blieben die Rübenpflanzen unangetastet, aber zwischen ihnen wuchs allerlei Unkraut, das den Nutzpflanzen die Sonne und den Boden streitig machte. Darunter befanden sich echte Leckerbissen für unsere Vierbeiner, wie zum Beispiel Acker-GänsedistelnAcker-Gänsedistel (Sonchus arvensis) auch Dudistel, Gänsedistel, Saudistel, Milchdistel oder Zaundiestel genannt.. Es sind überhaupt keine Disteln, sondern große Pflanzen mit gelben Blüten, zarten Blättern und weißem Saft. Oder auch echte, junge Disteln, deren Stacheln noch so weich waren, dass sie gar nicht piksten. Solches Grünfutter füllte auch schneller den Sack.
Gegen die Langeweile nahm ich den fast gleichaltrigen Nachbarjungen Gerd K. mit, der auch Gras für seine Kaninchen suchen musste. So konnten wir in der freien Natur zur Abwechslung einige Späßchen treiben, wie Ziel- und Weitwerfen, mit kleinen Steinen Fußball spielen, hin und wieder kleine Hasen fangen und was es sonst noch Schönes für Jungen gibt. Wir kannten die besten Grasstellen in der Umgebung. Das wussten die anderen Jungen und wollten sich uns anschließen, aber wir gaben unser Wissen nicht preis und verscheuchten sie.
Doch eines Tages konnten wir sie nicht abschütteln, es waren zu viele. Zu unseren geheimen Grasplätzen wollten wir sie aber auch nicht führen. Was tun?
Direkt vor uns lag ein Feld mit fettem Gras und Klee für die Kühe des Bauern. In fünf Minuten würden wir unsere Säcke prall voll haben und hätten unsere Grasstellen nicht verraten. – Aber das Risiko, erwischt zu werden, war groß. – Doch andererseits, kalkulierte ich, sind so viele Augenpaare um uns herum, die würden einen Flurschützer rechtzeitig erspähen. Ich sah es auch als Mutprobe an. Also stürzte ich mich in das üppige Grasfeld, in die verbotene Zone, und rupfte wie ein Wilder. Gerd hinterher.
Die anderen Jungen, noch unschlüssig, ob sie unserem verbotenem Tun folgen sollten, glotzten nur in eine Richtung, zu uns hin.
Da nahte auch schon das Unglück von hinten.
Wie Zieten aus dem Busch hinter der nahen Friedhofshecke schoss ein drahtiger Kerl im besten Alter auf seinem Rad heran, direkt auf mich zu. Weglaufen zwecklos, er war schon zu nahe. Außerdem wusste jeder, dass nach damaliger Rechtslage Polizisten befugt waren, die Flucht von Tätern mit der Waffe zu verhindern.
Halt! Flurschutz!
Wörter wie Peitschenhiebe. Was tust du da!
Ein bisschen Gras sammeln für meine hungrigen Kaninchen
, antwortete ich kleinlaut.
Aber nicht vom Feld, das ist Flurdiebstahl, verboten und wird bestraft!
donnerte der Mann. Dann hielt er mir eine strenge Gardinenpredigt. Ich stand da, total zerknirscht und machte einen reumütigen Eindruck, erklärte ihm, dass ich das vorher nie gemacht habe und auch nicht gemacht hätte, wenn die anderen Jungens mir nicht nachgelaufen wären. Innerlich war ich wütend auf mich selber, weil ich mich zum Diebstahl verleiten und dann auch noch erwischen ließ. Die anderen Jungens hatten sich inzwischen verkrümelt und beobachteten das weitere Geschehen aus sicherer Entfernung.
Dann machte der Mann die für einen Polizisten berühmt-berüchtigte Geste. Er griff betont auffällig und mit wichtiger Amtsmiene in seine Brusttasche, zückte ein dickes Notizbuch und setzte mit Blaustift zum Schreiben an. Der Blaustift wurde auch Kopierstift genannt und war das übliche Schreibgerät für Amtspersonen, weil das Geschriebene nicht ausradiert werden konnte, heute wegen seiner Giftigkeit verboten.
Zaghaft fragte ich: Was machen Sie jetzt mit mir?
Ich schreibe ein Protokoll für die Zumessung der Strafe.
Wie hoch ist denn die Strafe?
Na ja, weil du Ersttäter bist und Reue zeigst, will ich mal davon absehen, dich zur Polizeiwache zu bringen, aber zwei Mark Strafe musst du zahlen.
O nein, ich habe doch gar kein Geld
(was auch stimmte).
Dann gehen wir jetzt zu dir nach Hause und dein Vater muss für dich bezahlen.
Aber ich habe keinen Vater mehr.
Dann muss eben deine Mutter bezahlen.
Meine Mutter ist eine arme Kriegerwitwe, mein Vater ist im Krieg als Soldat gefallen und ich habe auch noch eine kleine Schwester. Außerdem waren wir ausgebombt.
Ja gut, dann zahlt deine Mutter eben nur eine Mark. Los, wir gehen jetzt zu dir nach Hause, daran kommst du nicht herum.
Melden Sie das der Schule?
Das wird auf der Polizeiwache entschieden.
Ich weiß nicht mehr genau, in welchem Jahr dieses geschah. Aber es müsste 1948 kurz nach der Währungsreform und Einführung der Deutschen Mark gewesen sein, denn Geld war sehr knapp. Für zwei Mark konnte man vier Brote zu je drei Pfund kaufen oder mindestens viermal ins Kino gehen und auf einem bequemen Platz sitzen.
Wie ein armer Sünder trottete ich neben dem Flurschützer nach Hause. Als wir das Gebiet der Felder und Feldwege verlassen hatten und in unsere Wohnstraße einbogen, schämte ich mich vor den Blicken der Nachbarn. Während des langen Weges hatte ich also Gelegenheit, dem Flurschützer ausführlich zu schildern, in welchen ärmlichen Verhältnissen wir lebten. Auf gut deutsch, ich jammerte ihm was vor, aber es stimmte alles. Darauf halbierte er die Strafe noch einmal, so dass die zweimal gesenkte Strafe nur noch fünfzig Pfennig betrug. Auch das tat noch weh. Aber immerhin konnten wir uns von dem Strafnachlass 15 Brötchen oder zwei Kinokarten mit Rasierplatz kaufen, so nannten wir die ersten drei Reihen, wo man den Kopf in den Nacken strecken musste, wie auf dem Rasierstuhl. Besonders wurmte es mich, von der Polizei erwischt und bestraft worden zu sein. Zu Hause angekommen, fiel meine Mutter aus allen Wolken. Ärgerlich und vorwurfsvoll gab sie mir das Geld, ich gab es dem Flurschützer. Er stellte eine Quittung aus, die ich schnell in der untersten Schublade ablegte.
Nun, meine Befürchtungen am nächsten Morgen bewahrheiteten sich nicht. Die Schule wurde nicht informiert. Für unsere Nachbarn war es auch kein Thema mehr. Niemals wurde ich darauf angesprochen.
Aber für mich war das Erlebnis so wichtig, dass ich mich noch heute lebhaft daran erinnere. Eigentlich bin ich für die Strafe dankbar, denn ich konnte früh im Leben daraus folgende Lehren ziehen:
Nr. 1: Junge, bleib sauber.
Nr. 2: Sollte dir einmal Nr. 1 nicht gelingen, dann lass dich nicht erwischen.
Nr. 3: Sollte dir auch einmal Nr. 2 nicht gelingen, dann zeige Reue und trage alle Umstände vor, die strafmildernd sein könnten, es lohnt sich meistens.