Erinnerungen
Kapitel 5
Zur Zwangsarbeit nach Sibirien
Da saß ich mit achtundvierzig Frauen in einem mit Kohlengrus verschmutzten Viehwaggon. Hinlegen konnten wir uns nur abwechselnd. In der Mitte stand ein Kanonenofen, daneben ein Holzeimer mit Kohlengrus als Brennstoff. Wie damit ab und zu mal Feuer gemacht werden konnte, erinnere ich nicht mehr. Es war März 1945 und der Zug fuhr von Insterburg in Ostpreußen gen Osten in die Kälte. Die Schiebetür war von außen verriegelt und Fenster existierten nicht. Wir vegetierten sozusagen im Dunkeln. An einer Seite war eine Pinkelrinne aus zwei Brettern angebracht, die nach draußen führte. Auch das große Geschäft
wurde im Stehen darin verrichtet. Niemand besaß ein Stückchen Papier oder Ähnliches zum Abwischen. Daneben aber saßen auch Frauen, die den Spritzern und dem Gestank ausgesetzt waren. Jede musste ihre Scham überwinden und einige hatten wegen der schlechten Ernährung bereits Durchfall.
Die tägliche Verpflegung bestand aus getrocknetem Brot (Sucharie) und gesalzenem Fisch. Der Durst war viel schlimmer als der Hunger, denn nicht jeden Tag gab es einen Eimer Wasser für alle, über den wir dann herfielen. Mit ausgezogenen Schuhen und Fäusten schlugen wir an die Waggontüre und schrien: Woddi ‒ Woddi
(Wasser ‒ Wasser), sobald der Transport auf irgendeinem Abstellgleis hielt. Die Waggonälteste musste dann für Ordnung sorgen, damit der Eimer nicht umgekippt wurde.
Verstorben ist eine Frau, die nach einer Schussverletzung am Kopf einen Verband trug. Sie lag einen Tag lang dazwischen, ehe man sie herausholte, trotz unseres lauten Rufens Frau kaputt!
, das nicht zu überhören war.
In Pensa mussten wir alle die Waggons verlassen. Wir gingen auf matschigen Wegen zur Entlausung. In dem Raum, in dem wir unsere Kleidung auf einen großen Drahtring hängen mussten, standen ringsherum Russenposten, die uns beim Ausziehen zusahen. Aber keine wollte und traute sich als Erste auszuziehen, es war ja so schenant! Ich wagte den Anfang, denn ich kannte das von Rößel her, als ich in der Lehrerinnenbildungsanstalt mit den Mädels aus meiner Klasse und der jeweiligen Lehrerin vom Dienst wöchentlich einmal unter der Gemeinschaftsdusche stand. Alle Ledersachen, Pelze und Schmuck, soweit das überhaupt noch vorhanden war, musste extra abgegeben werden ‒ auf Nimmerwiedersehen. Da ich meine Sachen zuerst abgegeben hatte, konnte ich auch zuerst in die Banja zum Baden. Endlich Wasser! Alle haben sich erst mal richtig satt getrunken, obwohl wir das nicht sollten. Jede konnte sich einen Holzbottich mit Wasser füllen und bekam einen Klacks Schmierseife in die Hand, die sich dann am Holzbottich breit machte, aber egal. Es war ein Genuss, sich endlich mal waschen zu können. Da wir aus unserem Waggon dank des Kohlengruses alle angeschwärzt waren, sahen wir auf einmal ganz anders aus. Unsere Kleidung bekamen wir heiß nach der Entlausung zurück, und nass wie wir waren, zogen wir sie wieder an. Weiter ging es zu einer Stalowa (Kantine), wo wir die erste warme Mahlzeit bekamen. Sie bestand aus Kohlsuppe in einer ollen Schüssel, dazu ein Holzlöffel so groß wie für ein Kuhmaul, und ein Stückchen Brot, das nicht getrocknet war. Danach mussten wir wieder in den mit Kohlengrus verschmutzten Waggon einsteigen.
Wir fuhren weiter gen Osten, bis hinter den Ural, in ein Ziegeleilager im Distrikt Tscheljabinsk. Mittlerweile waren wir drei Wochen unterwegs und endlich am Ziel. Am Lagertor angekommen, wurden wir in Hundertschaften abgezählt und in die Baracken verteilt. Nun waren wir in einer uns sehr fremden Welt.
Erst nach dreieinhalb Jahren kam ich eines Tages von der Arbeit und musste zum Stab. Während des Tages hatte man im Lager Namen bekanntgegeben, die für einen Transport ausgewählt worden waren. Deshalb sollte ich mein Bündel schnüren und die Baracke sofort verlassen, mein bisheriges Zuhause, um in die Baracke 9 umzuziehen, in der alle Heimkehrer in spe auf den Transport warteten. Zum Magazin wurden wir beordert, um unsere geliehenen
Sachen abzugeben, die wir von dort bekommen hatten. Und dann dieses Warten auf den Abmarschbefehl ‒ aber Denkste! In der Ziegelei waren wieder diverse 60-Tonner-Waggons angekommen, die mit Ziegeln beladen werden mussten. Um noch das Letzte aus uns rauszuholen, hat man uns, die wir schon halb daheim waren, wieder ins Magazin befohlen, in irgendwelche Klamotten gesteckt und in die Ziegelei beordert. Es kursierten Parolen über Parolen… alles nur Nerventerror… wer weiß, ob überhaupt… die wollen uns nur fertigmachen… wer weiß, ob wir überhaupt in Richtung Heimat fahren werden? Vielleicht ist ja ein anderes Lager für uns vorgesehen? Und so weiter…
Nach drei oder vier Tagen standen wir dann zum letzten Mal in Fünferreihen am Lagertor und warteten und beteten, es möge sich endlich für uns öffnen. Wir hatten uns ja schon zigmal von unseren dort verbleibenden Uralschwestern verabschiedet, neue Heimatadressen auswendig gelernt, damit wir uns irgendwann einmal wiederfinden könnten. Man hat unser Hab und Gut sehr genau gefilzt Verdächtiges
entnommen. Darunter fielen auch Adressen.