Wie ich die Wiedervereinigung erlebte
Als sich am 9. November 1989 die Ereignisse an der innerdeutschen Grenze überschlugen und die Medien nur noch über dieses Thema berichteten, konnte ich kaum glauben, was ich dort im deutschen Fernsehen sah und hörte. Gewiss, seit Wochen wurde über die Massenflucht aus der DDR über Ungarn berichtet, die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest war überfüllt mit Ausreisewilligen, die dort einfach über den Zaun stiegen und sich damit de facto bereits im Westen befanden, bzw. auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland. Der Druck auf die politisch Verantwortlichen der DDR und auf das Außenministerium der Bundesrepublik war in wenigen Wochen enorm gewachsen und eine Eskalation der Ereignisse lag in der Luft.
Als dann am Abend des 9. November Günter Schabowski auf einer internationalen Pressekonferenz den folgenschweren Satz verlas:
Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dabei noch die Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen.
In den Abendnachrichten des NDR sah ich die ersten Trabbis in Kolonnen über den Grenzübergang Lübeck-Schlutup in die Hansestadt rollen. Begeisterte Menschen, die nach Lübeck gekommen waren, standen Spalier und klopften auf die Autodächer, Ost- und Westdeutsche fielen sich in die Arme.
Die DDR war zusammengebrochen und der Weg frei für ein geeintes Deutschland, in dem sich die Menschen frei bewegen konnten!
Ich war damals Mitglied des deutschen Alpenvereins, Sektion Hamburg und leidenschaftlicher Bergsteiger. Unsere Bergsteigergruppe unternahm zur Erhaltung der körperlichen Kondition während der Wintermonate norddeutsche Bergtouren
. Diese Touren führten über viele Kilometer in das Wattenmeer, auf seine Inseln und Halligen. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze versuchten wir einen Brückenschlag in die DDR und bekamen Kontakt zu einer, überwiegend aus Bergsteigern, Kletterern und Ornithologen bestehenden Betriebssportgruppe der Reichsbahn mit dem Namen Lokomotive Schwerin
.
Unserer Einladung an die Nordseeküste, zu einer norddeutschen Bergtour
wurde begeistert gefolgt. So kam es schon Mitte November 1989 zu einem ersten Treffen zwischen uns Hamburger Bergsteigern und der Betriebssportgruppe aus Schwerin. Die Schweriner Gruppe kam in einem hochbeinigen blau-weißen Bus der deutschen Reichsbahn angereist. Die fehlenden Sitzplätze, es waren mehr Leute mitgekommen, als der Bus Sitzplätze hatte, waren einfach durch Gartenstühle ersetzt worden. Sie erzählten uns, dass die Mitgliedschaft in einem der Betriebssportvereine gewisse Vorteile mit sich brachte, weil die Fahrkarten der Reichsbahn, zum Beispiel nach Dresden in das Elbsandsteingebirge, für die Mitglieder des Betriebsportvereins komplett umsonst waren. Wir verbrachten den Tag mit einer Wanderung im Nordfriesischen Wattenmeer zur Insel Nordstrandischmoor. Beim anschließenden Abendessen in einem Fischrestaurant bei Dagebüll wurde der Abend bei guter Unterhaltung lang.
Die Gegeneinladung erfolgte prompt und so fuhren wir an einem frostklirrenden Wochenende im Januar in das Wendland an die Elbe. Dort, wo gegenüber der Stadt Dömitz die Pfeiler der nach dem Krieg zerstörten Straßen- und Eisenbahnbrücke den Brückenverlauf bis in die Mitte des Stromes erahnen ließen, fuhr jetzt ein Fährschiff auf die östliche Seite der Elbe nach Dömitz und kein DDR-Patrouillenboot hinderte es daran.
In den Jahren zuvor war ich manches Mal an dieser Stelle gewesen und habe auf die andere Seite der Elbe hinübergeschaut, ohne die kleine Stadt hinter dem massiven Zaun aus Streckmetall je gesehen zu haben, so schwer war die innerdeutsche Grenze befestigt gewesen. Man sah den Zaun und die Wachtürme, die ihn überragten. Die weiteren Maßnahmen gegen Flüchtende, Minen, scharfe Hunde und Selbstschussapparate kannte man nur aus den Berichten des Bundesgrenzschutzes und der Presse, wenn wieder einmal eine Flucht missglückt und die Flüchtenden am Zaun verblutet waren.
Die Fahrt auf die andere Seite der Elbe dauerte kaum zehn Minuten, dann legte das Schiff an einem provisorischen Anleger an und wir stiegen aus. Der Streckmetallzaun war auf einer Länge von gut zehn Metern entfernt worden, dort standen mehrere Angehörige der Nationalen Volksarmee in Uniform in einem schnell errichtetem Unterstand hinter einem wackeligen Küchentisch und schauten uns Ankömmlinge etwas gequält an. Es erfolgte eine Passkontrolle, wie ich sie an der Grenze zur DDR noch nie erlebt hatte.
Die beiden schauten in die Pässe derer, die einen Pass besaßen und kassierten zehn D-Mark von den passlosen Ankömmlingen. Dabei interessierten sie sich nicht im Geringsten um den Inhalt der Pässe. Sie schienen mir hier so deplaciert, dass sie mir schon fast leid taten. Eine Gruppe des Landesjagdverbandes im grünen Rock und mit Jagdhorn und Schnapsflasche ausgerüstet, wurde ebenfalls ohne Beanstandung durchgelassen, obwohl die Herren Jäger bereits morgens recht angetrunken, demzufolge etwas laut auftraten. Es schien sich hier um eine Art Betriebsausflug
zu handeln – manchmal schämt man sich für seine Landsleute.
Als wir am Küchentisch und den NVA-Männern vorbei waren, nahmen uns die Dömitzer Ornithologen in Empfang. Diesmal wollten sie uns auf einer Wanderung rund um die Stadt die heimische Vogelwelt zeigen, wir waren sehr gespannt.
Als wir in die Stadt kamen, lagen darüber der Rauchschleier und der Geruch von verbrannter Braunkohle, der mir aus Kindertagen noch bestens in der Erinnerung war. Auch bei uns zu Hause wurde in den 1950er bis 1970er Jahren noch mit Braunkohlebrikett geheizt. Die Ascheimer hier waren aus verzinktem Stahlblech und am Deckel und innen hellbraun von der Braunkohleasche. Aus diesen Tagen stammt wohl der Aufdruck auf unseren modernen Kunststoffabfalleimern Bitte keine heiße Asche einfüllen
. Es war wie eine Zeitreise.
Mir fiel dabei auf, dass die sonst stinkenden Zweitaktabgase der fahrenden Trabbis hier nicht zu riechen waren!
Die Menschen in der Stadt waren sehr freundlich zu uns, viele luden spontan in ihre Häuser zu Kaffee und Kuchen ein! Es herrschte eine besondere Wiedervereinigungsstimmung in diesen den ersten Tagen, Wochen und Monaten nach dem, was wir heute als die Wende
bezeichnen.
An der schönen alten Backsteinkirche sahen wir die vielen Einschusslöcher, die aus dem Zweiten Weltkrieg stammten, das Innere musste dringend saniert werden und da seit Jahren der Etat keine Mittel mehr für die Beheizung vorsah, befand sich das Bauwerk insgesamt in einem erbarmungswürdigen Zustand. Ein atheistischer Staat tut eben alles für seine Kirchen, um sie dem Verfall preiszugeben, das zeigte sich auch hier deutlich!
Die Ruhe und Stille, die 40 Jahre an dieser Grenze herrschte, hatte ihre Wirkung auf die Landschaft und die darin enthaltende Vogelwelt voll entfalten können. Wir staunten nicht schlecht, als wir durch die Dömitzer Dünenlandschaft wanderten. Wir sahen Grünspechte und Singschwäne, die nur eine geringe Fluchtdistanz zeigten, weil sie kaum Erfahrungen mit Menschen gemacht hatten. Lange war diese Landschaft an der Grenze von Deutschland nach Deutschland menschenleer gewesen, nur die bewaffneten Grenzschützer
hatten Zutritt.
Unbehelligt wanderte unsere Gruppe durch diese Dünenlandschaft und wir schauten nach Westen über die Elbe in das Wendland. Keiner hätte vor wenigen Wochen geglaubt, dass dies je möglich sein würde.
Über den gemeinsamen Sport, Klettern und Bergsteigen, entwickelten sich schnell Bekanntschaften und Freundschaften. Viele Veranstaltungen des Alpenvereins, Sektion Hamburg wurden nun mit der Schweriner Gruppe zusammen unternommen. Dem gemeinsamen Kletterwochenende Ostern im Harz folgte ein gemeinsames Kletterwochenende im Elbsandsteingebirge. Hier steht die Wiege des deutschen Klettersports. Für uns Hamburger ist sie bis vor Kurzem genau so unerreichbar wie die Mittelgebirge in Niedersachsen für die Bergsteiger in Thüringen und Sachsen – gewesen!