Meine Kindheitserinnerungen ab Weihnachten 1945
In der kleinen Dachwohnung war es nicht nur kalt, es gab auch keine Toilette. Dazu musste man immer die Treppen hinabgehen, durch die Küche der Leute hindurch, und dann war da irgendwo ein Klo. Die Leute schimpften immer, wenn man musste, aber anders gelangte man nicht zur Toilette.
Nun sollte wieder Weihnachten kommen. Ich wusste sehr wohl, dass es keine Geschenke und auch keinen Weihnachtsbaum geben würde. Wenn wir einen Baum hätten organisieren können, hätten wir ihn lieber zu Feuerholz gemacht, damit das kleine Öfchen in dem einen Zimmer uns zeitweilig das Frieren abgenommen hätte.
Ich entdeckte kurz vor Weihnachten auf dem einzigen Schrank eine Schuhschachtel, die vorher dort nicht gestanden hatte. Was war da wohl drin? Schuhe konnten es nicht sein, denn jeder hatte nur ein Paar, und jeder hätte sofort ein zweites Paar bekommen, wenn es denn ein passendes gewesen wäre. So ging meine Phantasie mit mir durch, weil ich mir in der Schachtel eine Puppe vorstellte, schön und farbenfroh wie eine Prinzessin.
Weihnachten war da! Ich durfte die Schachtel aufmachen. Da lag wirklich eine Puppe mit einem Glitzerkleidchen, das noch alle Vorstellungen übertraf, und weil das Märchen wahr geworden war, schossen mir die Tränen in die Augen. Gleichzeitig wusste ich nun auch, dass es stimmte, dass man vor Freude weinen kann. Das hatte ich irgendwo mal gelesen und fand das genau so seltsam wie in dem Weihnachtslied den Satz: Warten Dein mit Schmerzen!
Aber ich hatte auch eine Überraschung für Mutti: Im Nachbarhaus wohnte ein Mädchen, dessen Puppe fast genauso groß war wie das warme, kleine Baby. Die rosa Strampelhose der Puppe musste dem Schwesterchen bestimmt passen, und ich erreichte durch irgendeinen Tausch, dass ich am Heiligen Abend die Strampelhose meiner Mutti schenken konnte. Da weinte auch Mutti, und hinterher sangen wir Weihnachtslieder wie jedes Jahr. Ich liebte besonders ein Lied, das ich nie in einem Liederbuch gefunden habe und das ich mit meinen Eltern und meinem Bruder ganz leise sang, weil es ein Nazilied
war, wie Vati und Mutti dazu sagten.
Hier sind alle drei Strophen, auch die Melodie habe ich nie vergessen:
Hohe Nacht der klaren Sterne, die wie weite(große) Brücken stehn.
[* Anmerkung]
Über einer großen(weiten) Ferne, drüber unsre Herzen gehen.
Hohe Nacht mit großen Feuern, die auf allen Bergen sind.
Heut soll sich die Welt erneuern wie ein junggeboren(neugeboren) Kind.
Mütter, euch sind alle Feuer, alle Sterne aufgestellt.
Mütter, tief in euren Herzen schlägt das Herz der ganzen Welt.
In Hamburg hatte im Gegensatz zur Russenzone die Schule wieder begonnen, und ich kam gleich in die zweite Klasse. Obwohl ich die erste Klasse in Güstrow nur fünf Monate besucht hatte, kam ich gut mit, obwohl es viel ältere Mädchen dort gab. Als sie sich einmal gegenseitig erzählten, wie lange sie morgens zum Waschen und Anziehen brauchten, waren die Unterschiede groß. Eine berichtete von einer Viertelstunde, angefangen vom Nachthemd-Ausziehen bis zum Mantel-Anziehen, eine andere brauchte nur fünf Minuten. Als ich drankam, war ich diejenige, die am wenigsten Zeit brauchte. Denn ich ging mit meinem tomatenroten Mäntelchen, das ich schon in Forst in der Lausitz getragen hatte und das jetzt vor allem an den Ärmeln viel zu kurz war, ins Bett, und waschen konnte ich mich morgens gar nicht, weil das Waschwasser in der Schüssel gefroren war. Damit hatte ich gesiegt, aber ich war gar nicht froh darüber. Viel lieber hätte ich nicht so gefroren und es so schön gehabt wie das Viertelstunden-Mädchen.
Mutti erzählte mir mal zu meinem größten Erstaunen, dass es eine Zeit gegeben hätte, wo die Schlachtereien nicht nur voll waren von Wurst und Fleisch, sondern dass man sogar beim Kaufen sagte: Bitte nicht so viel Fett!
Dabei war doch Fett das Allerbeste, was man sich vorstellen konnte. Warum wollte man denn so etwas Gutes nicht? Ich fing sogar an, Muttis Erzählung anzuzweifeln, und um mir Gewissheit zu verschaffen, erzählte ich Frau Müller beim Bedanken für die Puppe dasselbe. Und siehe da: Frau Müller bestätigte das und fügte erklärend hinzu: Du weißt das zwar nicht mehr, weil du zu klein warst, aber du bist ja noch ein richtiges Vorkriegskind und hast es mal sehr gut gehabt. Dein Schwesterchen dagegen ist ein Nachkriegskind. Euch werden einmal in der Erinnerung an eure Kindheit Generationen trennen.
- Was meinte sie?
Not, Hunger, Kälte
Der Winter 1946 begann so kalt, wie er 1945 geendet hatte. Meine Zehen passten gleich aus zwei Gründen nicht mehr in meine einzigen Schuhe hinein, zum einen, weil meine Füße gewachsen waren, zum anderen aber, weil die Frostbeulen die Zehen verdickten.
Aber dann bekam Vati eine Stelle als Buchhalter in einer Schuhfabrik, deren Inhaber komischerweise genau so hieß wie er. Vati wollte zwar lieber wieder als Bankdirektor wie vor dem Kriege arbeiten, aber er musste immer noch auf seine Entnazifizierung warten, die sich unerklärlicherweise viel zu lange hinzog.
Ich wusste mit dem Wort nichts anzufangen, aber es musste etwas Hässliches sein und hörte sich auch so an, nämlich wie Ungeziefer. Nun, da Vati in der Schuhfabrik beschäftigt war und sogar wieder Geld verdiente, bekam ich neue Schuhe aus einem Stück Leder von Vatis Reithose, die er als Soldat getragen hatte. Damit hatten meine Zehen wieder Platz. Unangenehm war nur, dass ich das einzige Kind war, das graue Schuhe trug. Alle anderen hatten braune oder schwarze, und ich fiel mit dieser unmöglichen Farbe immerzu auf. Noch Jahre später juckten die Zehen bei Witterungsumschwüngen.
Dann war endlich der strenge Winter vorbei, und mit ihm kam der Umzug nach Wandsbek in eine Drei-Zimmer-Wohnung, die eine eigene Toilette und einen großen Herd in der Wohnküche hatte.
Und vor allem durfte man aufs Klo gehen, wenn man musste, und brauchte niemanden mehr um Erlaubnis zu fragen.
Wandsbek war zum Teil schon von den Trümmern aufgeräumt, aber es gab auch noch viele Trümmerhaufen, auf denen in diesem Frühjahr schöne rosafarbene Blumen wuchsen. Diese Blumen wurden allgemein Trümmerblumen
genannt, denn als die Trümmer in späteren Jahren weg waren, gab es auch die Blumen nicht mehr. Auch Vati und Mutti haben diese Blumen nur auf den Trümmern gekannt.
Ich ging nun ein ganzes Jahr lang in die vierte Klasse. Das war das erste Mal, dass ein Schuljahr zwölf Monate lang war, und ich fand das ziemlich langweilig. Schön war aber in der Schule, dass es Schulspeisung gab, die schmeckte ganz köstlich. Es war immer ein grauer Pamps, manchmal sogar mit Rosinen, aber immer wurde der knurrende Magen ruhig.
Da ich wenige Bücher besaß, mit denen ich meinen Wissensdurst befriedigen konnte, las ich diese immer wieder und kannte sie teilweise auswendig. Ein Buch hieß: Hannefräuken, dickes Däuken!
. Hannefräuken war ein dickes Mädchen, das besonders gern Butterbrötchen mit Honig aß. Manchmal hatten wir ja Brötchen, aber das waren immer Maisbrötchen ohne was drauf und sie schmeckten nach nichts. Aber Butter und Honig, das musste das Paradies sein! Noch heute, da ich doch längst eine Omi bin, habe ich dieses Bild vor Augen, und wenn an die Stelle in dem Buch kam, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Noch heute ist ein Honigbrötchen für mich keine Selbstverständlichkeit.
Vatis Brief an seine Schwester (auszugsweise).
15. April 1946
Mit dem Essen zurecht zu kommen, ist wirklich mehr als-eine Kunst. Aber bei uns wird eisern eingeteilt, damit es uns nicht geht wie anderen Leuten, die in der letzten Woche, wenn die Lebensmittelmarken aufgebraucht sind, schwach und krank zu Bett liegen. Einige kleine Zuschusspäckchen erhielten wir auch aus der russischen Zone.
Sonst geht‘s uns dreckig wie immer. Aber wir bleiben frohen Mutes und richten uns das Leben im Rahmen des Möglichen ein.
[* Anmerkung:]
In dem Lied wird auf alle christlichen und weihnachtlichen Begriffe verzichtet, stattdessen werden in Abkehr davon die im Nationalsozialismus forcierten Mythen der Nacht (1. Strophe), das Wintersonnenwendfeuer (2. Strophe) und (entsprechend dem nationalsozialistischen Mütterkult) die Mütter (3. Strophe) in den Mittelpunkt gestellt.
Die verwendeten Adjektive wie hoch, klar, weit, tief, groß
haben positive Konnotationen und suggerieren grenzenlose Weite und Größe, Naturmystik und Mütterkult. In den Substantiven spiegeln sich Naturbezug (Nacht, Sterne, Feuer, Berge, Erde) und Lebensursprung (Herzen, Mütter, Kind, Feuer, Erde). Die erzeugte erwartungsvolle Stimmung kann als Parallele zur Erneuerung des Deutschen Reiches verstanden werden.
Auch nach dem Ende des Nationalsozialismus 1945 riss die Rezeption des Liedes nicht ab: Es wurde in der Bundesrepublik in verschiedenen Liederbüchern abgedruckt, etwa in einem Liederbuch des Deutschen Gewerkschaftsbundes (1948), in der Sammlung Unser fröhlicher Gesell (1956), dem Liederbuch des DRK von 1958 oder (mit kritischer Kommentierung) in Ingeborg Weber-Kellermanns Buch der Weihnachtslieder (1982). Der Jugendchor Vera Schink (1963), der Berliner Mozart-Chor (1977) und der Mindener Kinderchor (1995) veröffentlichten das Lied auf Tonträgern. Eine Version von Franzl Lang präsentierte die Bild am Sonntag 1982 auf der LP Deutsche Weihnacht. Auch Heino veröffentlichte Aufnahmen des Liedes (1969, 2013), ebenso das Schlagerduo Renate und Werner Leismann (2007). Margot Bintig