Feuersturm 1943 – Ein Tagebuch
Ich habe 2001 meine Erinnerungen an den Juli 1943 aus der Sicht eines Kindes aufgeschrieben und sie neben das Tagebuch meiner Mutter gestellt.
Ausbombung in Hamburg-Wandsbek
Im Juli 1943 ging es mal wieder in den Keller wegen Alarm.
Diesmal war es besonders laut von den Bomben, und es kam auch keine Entwarnung, damit man wieder nach oben gehen konnte.
Mir blieben von diesem Kelleraufenthalt viele Geschehnisse in Erinnerung, denn ich war ja schon fünfeinhalb Jahre alt.
Als es immer heißer im Keller wurde und die Rohre zu knacken begannen, fingen auf einmal die wenigen alten Männer, die mit im Keller waren, an zu beten. Ich wusste, dass diese Männer nicht Soldaten sein durften, weil sie zu alt waren. Aber warum beteten sie im Keller? Beten gehörte abends vor dem Einschlafen im Bett dazu, aber doch nicht hier. Mein Erstaunen wuchs, als ein alter Mann anfing zu weinen. Ich wusste gar nicht, dass Männer weinen können. Das taten doch nur Mädchen und Muttis.
Und mein Erstaunen wuchs ins Unermessliche, als die Kellermuttis dann auch noch anfingen, mit den alten Männern zu schimpfen. Gleichzeitig wurde es immer heißer im Keller, und der Lärm der einschlagenden Bomben hörte nicht auf. Aber die Muttis fingen plötzlich an, mit den Händen und mit irgendwas anderem die Mauer kaputtzumachen, die an das Haus von den lieben Nachbarn Bintz grenzte. Als das Loch groß genug war, um durchzukrabbeln, taten es auch alle und waren dann mit Bintzens und den anderen Nachbarn dort in deren Keller zusammen.
Vor dem Loch und dem Durchkrabbeln hatte ich fast genauso viel Angst wie bei den früheren Gasmaskenproben. Da mussten wir solche Ungeheuer-Masken aufsetzen mit schrecklich großen Brillen, und ich hatte sogar vor meinem Bruder Hartmut Angst, wenn er vor mir mit einer Gasmaske stand.
Ich wollte so gern noch die Uhr mitnehmen, die Mutti bei diesem Bombenalarm unter den Arm gepackt hatte, genauso, wie sie eine schöne dunkelrote Karaffe, dieses Wort liebte ich sehr, schnell mitgenommen hatte, ehe wir die Treppen in den Keller hinunterrannten. Aber Mutti ließ mir keine Zeit dazu, ich wurde durch das Loch geschoben.
Viel, viel später erfuhr ich, dass dieser Mauerdurchbruch der einzige Fluchtweg gewesen war, denn der Hauseingang war durch die herabstürzenden Mauern und Steine vollkommen versperrt, das Haus war von einer Bombe getroffen worden, zerstört und ausgebrannt. Lediglich die vordere Fassadenwand war mit ihren Fensterlöchern stehengeblieben. Aber das sah ich erst ein paar Tage später.
Aus dem Nachbarkeller wollte Mutti mit Hartmut und mir auch so schnell wie möglich heraus, und ich sehe mich draußen mit meinem Bruder und meiner Mutti an der Hand rennen, aber das ging so schlecht, weil nämlich gar keine Straße und gar kein Bürgersteig mehr da waren, alles war voll mit großen Haufen Steinen und Trümmern. Viel schlimmer aber war die heiße Luft mit den vielen Funken, die im Gesicht brannten.
Auf einmal rief Mutti mit ganz hoher Stimme: Guckt nicht nach rechts!
Weil Hartmut besser als ich wusste, wo rechts ist, schaute ich zuerst ihn an und dann dahin, wohin sein Kopf ging. Aber das musste links sein, denn Mutti schrie noch höher: nicht da, nicht da!
– Warum? Ich sah bloß genauso viele Trümmer und Steine wie vorher, dazwischen aber sowas wie kleine Ungeheuer, schrumpelig und dunkel. Aber ich guckte ja gleich wieder in die richtige Richtung.
Diese unerklärlichen Erscheinungen mussten Phosphorleichen gewesen sein. Sie waren seinerzeit für mich kein Begriff. Aber Hartmut fing an zu weinen, und da weinte ich mit, weil ich so viel Mitleid mit meinem Bruder hatte. Außerdem war es viel zu heiß und zu laut. Ich stolperte dauernd, obwohl Mutti mich fest an der Hand hatte. Sogar in den Gärten brannte es, wir liefen so schnell wie möglich durch die Hitze hindurch und kamen endlich zu einem Haus, das noch nicht zerbombt war.
Dort gab es schon ganz viele Muttis und Kinder und eine Menge Tische, auf denen manche Kinder schliefen. Einige lagen auch unter dem Tisch, aber ich wollte lieber oben sein, Hartmut auch.
Als Mutti uns erklärte, sie ginge jetzt mit den anderen Frauen aufs Dach, um die Funken zu löschen, legte ich mich beruhigt zum Schlafen hin, denn Mutti würde es schon schaffen, das viele Feuer zu löschen. Und Hartmut war ja bei mir.
Dazu Muttis Tagebuch vom 7. August 1943:
Lange, lange ruhte Dein Tagebuch im Keller, um es bei Bombenangriffen zu retten. Darum kam nichts herein. Du bist inzwischen ein großes Mädel geworden und recht gesund und auch kräftiger. Und nun traf Dich und uns das schwere Erlebnis! Ich will es Dir genau aufschreiben, vielleicht erinnerst Du Dich dereinst noch daran.
Wir hatten lange keine Angriffe auf Hamburg, nur mal von Zeit zu Zeit Alarme, die harmlos waren.
Aber in der Nacht vom 24. bis 25. Juli ging die Hölle los: Großangriff auf Hamburg! Eine Stunde lang prasselten die Bomben, es war grauenhaft, und dann konnten wir doch noch in unsere heile Wohnung gehen; nur die Fenster waren zum Teil kaputt. Aber so viele Häuser brannten, und die Luft war noch den ganzen nächsten Tag schwarz vom Rauch. Die Sonne war vom Rauch verdunkelt.
Trotz knappem Wasser- und Gasdruck aber begannen wir hoffnungsfroh den nächsten Tag! Unser Vati war ja auch bei uns, der vor wenigen Tagen nach Hamburg abkommandiert war.
Aber dann kam das Schreckliche: In der Nacht vom 27. zum 28. Juli hatte unser Vati im Hafen Wache, und wir erlebten somit getrennt den zweiten Großangriff. Wieder heulten und prasselten nachts von eins bis zwei die Bomben, und ein Phosphorkanister traf gleich am Anfang unser Haus.
Keiner konnte in dem Bombenregen nach oben, um zu löschen. Der Kalk fiel uns auf die Köpfe, der Luftdruck der Bomben warf uns fast um, bei jeder Bombe duckten wir uns.
Aber Ihr zwei, Du und Hartmut, Ihr wart sehr tapfer und habt nicht einmal geweint. Gegen den Rauch und Staub wehrten wir uns mit nassen Tüchern vor Nase und Mund.
Schließlich kletterten wir durch den Mauerdurchbruch ins Nachbarhaus, weil auf der Straße, wo alles brannte, der Funkenflug ein Gehen unmöglich machte, und liefen von dort durch die Gärten im Funkenregen zur Dietrich-Eckart-StraßeBis 1933
Blumenstraße, umbenannt nach Dietrich Eckard, einem frühen Anhänger des Nationalsozialismus und Ideengeber Adolf Hitlers. – Nach 1945 Teil derJüthornstraßein Hamburg-Wandbek.Da habt Ihr aber vor Entsetzen gebrüllt, es war die Hölle selbst! Unsere Tücher schützten notdürftig Eure Köpfe.
Wir fanden Zuflucht in der Dietrich-Eckart-Straße 4. Als es da anfing zu brennen, kletterten wir wieder durch einen Mauerdurchbruch nach Nr. 6 und liefen schließlich in das noch stehende einzelne Haus gegenüber.
Dort im Keller waren viele Leute. Ihr schlieft ein wenig auf Tischen, ich ging nach oben mit vielen anderen Menschen, um gegen den Funkenflug anzugehen, der auch dieses Haus zu erfassen drohte. Und es ging gut ab.
Am Morgen standen wir dann vor unserem noch brennenden Haus und warteten auf Vati. Er kam, und wir waren glücklich, dass er lebte. Er hatte im Hafen löschen helfen und schwer, schwer gekämpft, sein Anzug war phosphorbespritzt, seine Augen waren vom Rauch gebeizt, vereitert, verklebt. Ein Sanitäter hatte sie ihm verbunden, und sein linkes Handgelenk war verstaucht. Aber wir lebten alle!
Zwei Stunden hatte Vati per Rad vom Hafen bis zu uns gebraucht. Alles lag voller Trümmer, und es war fast nachtdunkel den ganzen Tag.
Wir versuchten den Tag über vergeblich, aus Hamburg wegzukommen, alles war überfüllt. Inzwischen hatte aber die Feuerwehr den Brand unseres Hauses gelöscht. So wurden unsere Keller als einziges gerettet. Und Gott sei Dank hatten wir darin viele Sachen, einen ganzen Schrank mit Garderobe, viel Wäsche, Fotoalben und Lebensmittel.
Ich erinnere mich:
Viele Tage später konnten meine Eltern die im Keller verbliebenen Sachen herausholen. Heute stehen Karaffe und Uhr in meinem schönen Haus.
Als ich am Tage nach dem Ausbomben mit Mutti und Hartmut an der Christuskirche vorbeikam, von der ich wusste, dass sie in dieser Kirche getauft worden war, sah ich Erstaunliches: Den Kirchturm mit seiner hohen Spitze gab es nicht mehr, nur der untere Teil aus Steinen stand noch mit seinem ausgebrannten Kirchenschiff. Aber unten auf der Erde lag der goldene Wetterhahn und war viel, viel größer, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er hatte immer so klein ausgesehen wie ein richtiger Hahn, und nun schien er mir fast so groß wie ich selbst.
Fortsetzung Tagebuch:
Am nächsten Morgen fuhr uns Polizei-Oberleutnant Wollesen zu seinem Untergebenen, dem Gendarmerie-Meister Stöckig in Siek bei Trittau, Bezirk Hamburg. Und hier fanden wir Unterkunft bei den sehr lieben Menschen. Wir holten in den nächsten Tagen all unsere Habe aus dem Keller, auch die Betten.
So kampieren wir nun hier alle in einem Zimmer. Du und Hartmut auf dem Fußboden aufgebettet.
Ihr seid den ganzen Tag im Freien und habt Euch schnell und gut erholt.
Vati muss alle Tage zum Dienst in das zerstörte Hamburg hinein. Das ist sehr anstrengend, da er immer nur bei Gelegenheit mit Autos mitkann und oft viel Zeit braucht. Was aus uns wird, ist ganz unklar. Aber Euch beschweren diese Sorgen noch wenig, Ihr lebt froh in den Tag hinein. Und das ist ja auch gut so.
Nun ist alles zerrissen, alles in alle Winde zerstreut.
Ich erinnere mich:
Am schönsten war in Siek, dass man auf der Dorfstraße spielen und mit den Dorfkindern Eis am Stiel
basteln konnte. Das ging so: Man sammelte Strohhalme von der Straße auf und spießte auf ihnen einzeln Brombeeren auf, die man dann ablutschte.
Als ich das Mutti erzählte, meinte sie, das sei nicht gut, weil zu schmutzig. Aber ich und die Anderen nahmen doch nur saubere Strohhalme!
Und im Garten war eine kleine Schildkröte, die war aber ganz faul.
Brief von Vati am 30. Juli 1943 an seine Schwester Traute:
Liebe Traute!
Wir sitzen im Vorgarten eines kleinen Einfamilienhauses. Unsere Kinder schlafen schon.
Wenn nicht mein linker Arm wegen einer Verstauchung geschient und die Augen von Feuer und Phosphor und Rauch gerötet wären, könnte man meinen, in einer Sommerfrische zu sein.
Aber wir sind ja hier, weil wir nichts mehr besitzen außer einigen wenigen Sachen, die wir aus dem glühenden Keller retten konnten. Aber wir leben und sind alle beisammen, das ist unser Trost in der Trostlosigkeit der Tage.
Hamburg ist schwer getroffen.
Der erste Angriff von Sonnabend auf Sonntag ließ unser Haus in dem Tosen der Bomben wider Erwarten wie eine Insel im Feuermeer stehen.
Als ich Dienstagabend zum Nachtdienst in den Hafen musste, hatten wir schwere Sorgen. Und wir haben Recht behalten.
Während ich im Hafen mit sechzehn Mann unter Todesverachtung versuchte, einen Riesenschuppen mit wertvollsten Lebensmitteln zu retten, ging unser Haus und mit ihm fast ganz Wandsbek und der größte Teil Hamburgs in Trümmer. Auch die Wandsbeker Bank.
Endlich um elf Uhr vormittags konnte ich mich durch Trümmer, Brände und Trichter nach Wandsbek durchkämpfen und feststellen, dass die Meinen noch lebten. Selbstverständlich ist auch Mutters Wohnung
einmal gewesen.Wer das nicht gesehen hat, kann sich kein Bild von der Lage machen. Ihr wisst, ich liebe keine Übertreibungen, aber heute nach dem dritten Angriff kann man sagen, Hamburg war einmal.
Und zu Tausenden und Abertausenden ziehen die Obdachlosen in die Umgebung, soweit sie nicht in den verwüsteten Parks auf ihren Abtransport warten.
Ich war heute noch einmal in Wandsbek, die Gegend war einmal eine Wohnstätte für Menschen.
Die Kirche, Hartmuts Schule, der Wandsbeker Hof, die Kreissparkasse, die Vereinsbank, die Kinos und alle Häuser dazwischen sind weg.
Den ersten Tag nach dem zweiten Angriff brachten wir drei Stunden am Wandsbeker Bahnhof zu, in einem Heerlager von Menschen. Es war umsonst, wir kamen nicht weg.
So schliefen wir die Nacht im Keller der niedergebrannten Kreissparkasse. Und am nächsten Tag fuhr uns ein freundlicher Nachbar hierher, wo schon doppelt so viele Flüchtlinge als Einwohner sind.
Und weit nach Schleswig-Holstein und Mecklenburg hinein ist schon alles überfüllt.
Heute geht die Bahn nur noch bis Rahlstedt, auch der Wandsbeker Bahnhof ist kaputt. Da ist es besser, man springt auf irgendein Rettungsauto, und so kam ich in der Uniform und mit geschientem Arm einigermaßen gut hin und zurück.
Und morgen wollen wir meinen Geburtstag feiern. Doch schon jetzt hat unser liebenswürdiger Wirt eine Friedenskiste Zigarren auf den Tisch gestellt.
Eben schießt es schon wieder, aber das kann uns nicht mehr rühren, nachdem wir die eindeutigste Feuertaufe empfangen haben, die man sich denken kann.
Briefpapier ist knapp, ich muss schließen. Was aus uns wird, weiß der Kuckuck. Könnt Ihr mir ein Paar Sockenhalter und Taschentücher und Socken besorgen, dringend auch Stopftwist?
Die Einheimischen sind hier bis zum Bersten mit Hilfeleistungen beschäftigt. Ein Arzt war heute in Wandsbek nicht zu finden, aber an der Autobahn fand ich einen im Freien.
Herzliche Grüße