Kindheitserinnerungen an den Hungerwinter 1947
Vatis Brief an Tante Traute 17. April 1947, auszugsweise:
17. April 1947
Dass wir über den Winter gekommen sind bei schlechtester Ernährung, bei der fürchterlichen Kälte, ohne Gas, ohne Strom, ist wohl ein Wunder.
Und wenn wir nicht hilfsbereite Menschen gefunden hätten, die uns immer wieder, auch ohne Gegenleistung, unter die Arme gegriffen haben, dann wäre wohl meine damalige Anfrage an Euch mein letzter Brief gewesen. Aber wir leben ja noch.
Meine Erinnerungen:
Auch 1947 gab es nicht genug zu essen, ich wusste gar nicht mehr, wie es sein könnte, einmal satt zu sein.
Meiner Mutti muss das doppelt wehgetan haben, denn sie bemerkte einmal: Es gab eine Zeit, da gab es alles zu essen, und da wolltest du fast nie essen. Jetzt, wo es nichts gibt, hast du immer Hunger und würdest alles essen
.
Ganz stimmte das nicht, denn einmal war PferdefleischDurch Höhlenmalerei z.B. in Lascoux weiß man, dass Pferdefleisch zu den ältesten Lebensmitteln der Menschen gehört. Papst Gregor III. erließ 732 ein Verbot, Pferdefleisch zu verzehren. Damit wollte er möglicherweise das dem Mangel an Schlachtrössern vorbeugen. Seither ist Pferdefleisch verpönt und darf nicht von einer Metzgerei verkauft werden. Pferdefleisch kann deshalb nur beim Rossschlachter erworben werden. organisiert oder geschenkt worden, das ich trotz meines Hungers nicht herunterbrachte. Hartmut aß mit Heißhunger meine Portion mit; er muss noch mehr unter der fehlenden Nahrung gelitten haben als ich, war er doch sechs Jahre älter und damit in einem Alter, wo gerade Jungen pausenlos essen können, ohne zuzunehmen. So verschmähte Hartmut weder Pferdefleisch noch die scheußlichen Steckrüben.
Mit neun Jahren erhielt ich meinen ersten Klavierunterricht bei einer Lehrerin, die in der Nähe des Lyzeums wohnte, in das ich bereits durch die Eilversetzungen ging.
Im Frühjahr 1947 wurde mir der Blinddarm herausgenommen, und zwar in demselben Krankenhaus, in dem ich geboren war, in Wandsbek, Jüthornstraße. Die damalige Schwester Annemarie war jetzt Oberschwester und freute sich sehr, das Vorkriegskind wiederzusehen. Leider wog ich nach wie vor viel zu wenig für mein Alter, ich war etwas zu früh zur Welt gekommen, und insofern hatte sich in neun Jahren nichts verändert.
Als Vati und Mutti so nach und nach ihre Freunde von vor-dem-Ausbomben
wiederfanden und auch in die Wohnung einluden, kam einmal ein Rechtsanwalt zu Besuch, der Glück gehabt hatte, seine Villa in Marienthal war im Bombenhagel stehen geblieben. Diesem Rechtsanwalt erzählte Vati von der Zeit in Rahlstedt, wo wir in der kalten Dachwohnung erfroren wären, wenn Vati nicht nachts mit Hartmut die letzten Begrenzungspfähle zwischen Bürgersteig und Straße abgesägt hätte, mit denen wir dann wenigstens für kurze Zeit ein bisschen für Wärme sorgen konnten.
Darauf stand dieser Rechtsanwalt mit folgenden Worten auf: Mit einem Vater, der seinen Sohn zum Diebstahl anhält, will ich nichts zu tun haben!
Nun, auch wir wollten diesen Mann nie wiedersehen, denn Hartmut hat damals nicht gestohlen, sondern geholfen, dass seine beiden Schwestern nicht erfroren.
Im Sommer 1947 kam für mich die KinderverschickungKinderlandverschickung
nannte man die Evakuierungsmaßnahmen des NS-Regimes vor dem Bombenkrieg, nach dem Krieg hieß es dann nur noch Kinderverschickung
und sollte die Ernährungslage der Kinder in der Nachkriegszeit verbessern. Ein kleiner, aber feiner Unterschied! in ein Kinderheim nach Westerland auf Sylt, wo ich vier herrliche Wochen mit anderen, viel zu dünnen Kindern an Strand und im Wasser verbrachte, aber jeden Tag satt wurde. Bloß die blauschwarzen Muscheln schmeckten mir wenig, alles andere war gut. Zu dieser Zeit besaß ich sogar zwei Schlafanzüge gleicher Machart, die Großmutti genäht hatte. Beide Schlafanzüge waren im Gepäck für das Kinderheim dabei. Als ich sah, dass meine Zimmergenossin gar keine Nachtkleidung besaß, lieh ich ihr den zweiten Schlafanzug, und beide machten wir uns einen Spaß daraus, zu behaupten, dass wir beide ganz zufällig die gleichen Schlafanzüge hätten. Ob uns das wohl wirklich jemand geglaubt hat?
Zu dieser Kinderverschickung war ich ausgewählt worden, weil ich sechs Kilo Untergewicht hatte. Aus Muttis später angefügten Tagebuchnotizen konnte ich rekonstruieren, dass ich etwa 23 Kilo gewogen haben muss und sieben Zentimeter zu groß war. Nach der Rückkehr aus dem Kinderheim hatte ich nur noch 3,7 Kilo Untergewicht.
Wenn wir als Familie abends zusammensaßen, diskutierten Vati und Mutti manchmal über den Morgenthau-PlanDer Morgenthau-Plan sah vor, Deutschland in mehrere Teile aufzuspalten. Die Industrie sollte abgebaut und die Gebiete hauptsächlich für die Landwirtschaft genutzt werden. Damit wäre Deutschland ein Agrarstaat geworden., der nicht zustande gekommen war. Immer wieder hieß es, dass wir dann verhungert wären, wäre er verwirklicht worden. Aber wir hungerten doch auch so …
Manchmal fiel mir ein Lied ein, das ich vor dem Ausbomben oft im Radio gehört hatte und bei dem Mutti manchmal Tränen in den Augen gehabt hatte: Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh‘n, und dann werden alle Träume wahr!
Ich meinte mich zu erinnern, dass es ein Mann gesungen hatte. Aber viele Jahre später wusste ich, dass es Zarah Leander gewesen war.
An dieses Lied dachte ich immer wieder während der Hungerzeit, in der Vati mich Indisches Hungerkind
nannte. Das Wunder wäre, wenn es wieder etwas zu essen geben würde.
So endete für mich das Jahr 1947.