Meine Kindheitserinnerungen an die Zeit in Güstrow/Mecklenburg 1945
… aufgeschrieben nach der Ausbombung im Juli 1943. Parallel dazu die authentischen Tagebuchaufzeichnungen meiner Mutter.
Im Oktober 1945 brachen Mutti, mein Bruder Hartmut und ich von Güstrow nach Hamburg auf, wir hatten die Ausreisebewilligung bekommen.
Ich trug am Tag unseres Aufbruchs alle Kleidchen übereinander, die ich besaß, es mögen fünf gewesen sein, und war damit fast so dick wie Mutti. Die war es aber, weil sie ein kleines Baby im Bauch hatte. Und weil Großmutti in Güstrow meinte, dass ein Vati dazugehört, wenn ein Baby geboren werde, wollte Mutti nun nach Hamburg zu ihm, und ich wusste, dass ein Vati zum Kinderkriegen dazugehört, aber erst, wenn es geboren wird.
Auf dem Bahnhof in Güstrow mussten wir lange warten, bis ein Zug kam, mit dem wir mitkamen. Es waren ja außer uns noch so viele Menschen auf Bahnsteigen und in Zügen. Hartmut trug die beiden Koffer mit den Sachen, die wir nach dem Krieg wieder in Güstrow angeschafft hatten, während ich meine Puppe mitnehmen durfte. Das hatte einen besonderen Grund: Im Kopf der Puppe lagen fein eingewickelt einige Schmuckstücke, damit die Russen sie nicht wegnehmen konnten. Wenn auch viele Russen vielen Deutschen was klauten, an Kinder gingen sie nicht heran. Alle Russen mochten Kinder gern. Manchmal schenkten sie ihnen sogar etwas zu essen.
Die Reise von Güstrow nach Hamburg ging über Berlin und dann über die Zonengrenze bei Helmstedt und dauerte fünf Tage. Ich erinnere mich an viele Stunden Durst, Hunger und Müdigkeit. Einmal konnten wir im Lokführerhäuschen statt im Viehwagen mitfahren, so dass es nicht so kalt war. Dafür aber drängelten sich so viele Menschen in dem Häuschen, dass ich keine Luft mehr bekam und irgendwann wie aus weiter Ferne Muttis hohe Stimme hörte: Kind, Kopf hochnehmen, nicht runter sacken lassen!
Aber der Kopf wollte immer wieder runter, er war so müde. Umfallen konnte ich nicht, dazu war es zu eng.
In Berlin auf dem Bahnhof war es genau so voll wie auf anderen Bahnhöfen, und mein Bruder Hartmut war so müde, dass Mutti, Hartmut und ich eine Weile auf den Stufen zu einem höher gelegenen Bahnsteig ausruhten. Es war gerade ein bisschen Platz zum Hinlegen. Es lagen auch andere Menschen auf den Stufen, andere wiederum liefen rauf und runter, es war überall voll.
Als wir wieder aufstanden, vergaß Hartmut die beiden Koffer, aber einen Augenblick darauf rief ein Mann hinter uns, der ganz zerlumpt aussah: Hallo, Ihr Sohn hat die Koffer vergessen!
Und brachte sie uns nach.
Darauf saßen wir drei weinend vor Dankbarkeit minutenlang auf einer der Stufen, denn auch ich wusste mit sieben Jahren, dass nach dem Kriege niemand mehr etwas hatte, genau wie wir. Und nun brachte dieser arme Mann uns unser bisschen Hab und Gut nach.
Als wir in Helmstedt über die Grenze kamen, war ich fast tot vor Hunger und vor allem Durst. Es hatte seit Tagen nichts zu essen gegeben. Außerdem juckte mein Kopf unter den Haaren ziemlich, aber der Durst war viel schlimmer.
In Helmstedt im Lager geschah ein Wunder. Mutti bekam eine Schüssel mit Milch, auf der sogar gelbe Fettaugen schwammen. Hartmut und ich bekamen einen großen Teil dieser Milch zum Trinken. Etwas Besseres konnte ich mir nicht vorstellen.
Dann wurden alle im Lager durch eine Entlausungskammer geschickt, so, wie wir waren, mit allen Kleidern. Viele Jahre danach existierte noch das Formular: The child ........ has been deloused
. Leider ist es irgendwann verschwunden, aber dieser Satz war mein erster Satz auf Englisch.
Endlich kamen wir am fünften Tag in Hamburg auf dem zerbombten Hauptbahnhof an. Immer noch hatte ich schrecklichen Hunger und Durst, und einmal wagte ich es meiner Mutti zu sagen. Da hörte ich in der Nähe fremde Leute, die bemerkten: Armes Kind!
Ja, so fühlte ich mich auch. Irgendwann nahm ein Lastwagenfahrer uns drei mit nach Rahlstedt, und wir fanden auch die Wohnung, die Vati gemietet hatte.
Aber dann brach Mutti zusammen. Als wir in der Wohnung waren, die aus zwei kleinen Dachzimmern ohne Heizung bestand, erfuhren wir von den Hauseigentümern, dass Vati schwarz über die Grenze gegangen war, um uns zu holen. Und was schwarz
hieß, wusste ich sehr wohl. Wenn man von den Russen erwischt wurde, wurde man erschossen.
Ich erinnere mich noch, dass Mutti trotz ihrer Schwäche nach etwas Essbarem suchte und tatsächlich eine Tüte mit Haferflocken fand. Die kochte sie auf einem kleinen Kocher mit Wasser; Zucker oder Salz gab es nicht. Aber dieser Haferbrei war das Beste, was ich je gegessen habe, und. danach ging es mir schon viel besser.
Ein paar Tage später stand dann doch der Vati in der kleinen Wohnung, und alle fielen sich in die Arme. Er war schwarz hin- und zurückgegangen und brachte sogar noch ein Federbett mit, das ich bekam, weil ich so klein und dünn war und deshalb leicht fror. Denn es war November, und eines Tages, als Schnee lag, setzte sich Mutti auf einen organisierten Schlitten, und Hartmut fuhr sie von Rahlstedt nach Farmsen, weil dort das Baby zur Welt kommen sollte.
Vati war unterwegs, um Essen und Feuerholz zu organisierenEs war wirklich so, dass organisieren
in aller Ernsthaftigkeit das Wort kaufen
ersetzte. Dieses Wort ersetzte kaufen, denn es gab überhaupt nichts zu kaufen. Viele Menschen tauschten auch irgendwas gegen Essen ein, aber meine Eltern hatten nichts zum Tauschen.
Dann kam Mutti mit einem ganz süßen kleinen Baby zurück, und dieses Baby war die einzige warme Stelle in der kleinen Dachwohnung: Ich hatte eine kleine Schwester bekommen.
Tagebuch-Rückblick meiner Mutter 1946 auf 1945:
22. September 1946
Nun beende ich Dein Tagebuch, das uns heute nachgereist kam. Am 15. Oktober 1945 fuhren wir nach Berlin und hatten Glück, dass uns ein englischer LKW-Transporter ein Stück nach Helmstedt mitnahm. In fünftägiger beschwerlicher Reise in übervollen Zügen, nachts auf Bahnsteigen, gelangten wir am 20. Oktober in Hamburg an und erfuhren zu unserem Entsetzen, dass Vati auch am 15. Oktober heimlich über die Grenze gegangen war, um uns zu holen. Am 26. Oktober kam er wohlbehalten wieder, mit Betten und Sachen beladen. Nun waren wir nach langer Trennung endlich wieder für immer beisammen in unserer Kleinstwohnung in Rahlstedt.