Der Konfirmationsmantel
Aus feinstem dunkelblauem Wollstoff, den meine Mutter irgendwo eingetauscht hatte, war mein Konfirmationsmantel angefertigt worden. Er war das mit Abstand allerbeste Stück in der nicht besonders reichhaltigen Garderobe einer Vierzehnjährigen. Ich nahm ihn sogar mit in den Luftschutzkeller, und das war ziemlich oft damals 1944 in Hannover. Es war die Zeit, in der die Sirenen fast täglich heulten. In der Schule trainierten wir Gymnastik mit Gasmaske. Dass wir Mädels nach Luftangriffen vom Luftschutzwart und Ortsgruppenleiter - bei uns der dicke Herrenfriseur Meier aus der Gustav-Adolf-Straße - zum Schutträumen eingesetzt wurden, galt als Dienst an Führer, Volk und Vaterland.
Meier war ein listiger Kerl. Er fand uns fast in jedem Versteck. Dann war er nicht mehr der beflissene Barbier, der den besseren Herren der Straße früher in seinem Laden täglich mit viel Schaum den Bart geschabt hatte, sondern ein knallharter Diktator in unserem Viertel. Meine politisch verdächtigen und daher schweigsamen Eltern konnten nichts, unsere Lehrer wollten nichts dagegen tun. So glaubten wir unbedarfte junge Dinger weiterhin an den Endsieg und hörten irgendwann auf, gegen Nachbarschaftshilfe zu motzen. Wir hatten nichts anderes gelernt.
Eines Nachts - wie üblich so gegen Drei Uhr - war es wieder so weit. Es hatte in unserer Gegend furchtbar gekracht, kleine und große Bomben, eine Luftmine. Unser Haus war bis auf ein paar Fensterscheiben verschont geblieben. Meine sehr kleinen Geschwister schrien noch, mein älterer Bruder - er hatte gerade Feldurlaub - verzog sich fluchend in ein Behelfsbett im Kohlenkeller, meine Eltern brachten betagte Hausbewohnerinnen in ihre Wohnung. Eigentlich war alles fast wie sonst, bis auf den schwarzen Wolkensturm, der mit knisternden Feuerfunken atemberaubend heiß durch die Straßen fegte.
Und schon war Meier da. Er schnappte sich von der Garderobe meine Gasmaske und den Konfirmationsmantel, den er mir überwarf. Los, die anderen warten schon!
Die anderen waren zwei, drei Freundinnen von mir. Sie hatten nasse Tücher mit als Mundschutz. Auch ich bekam so einen Lappen.
Der Luftangriff hatte in mittelbarer Entfernung radikale Schäden angerichtet. Aber ein paar Häuser standen noch. Meier befahl mir, in das vom Bäcker bis nach oben zu rennen. Bewohner hatten bereits eine Eimerkette gebildet, vier Stockwerke hoch bis hinauf in den Dachboden, wo es brannte. Phosphorbomben
knurrte Meier und drückte mir einen Wassereimer in die Hand sowie eine Pumpe mit Schlauch zum Löschen. Schließlich hatte ich als einzige eine Gasmaske und musste an die Spritze. Ich kriegte kaum Luft. Bei aller Angst fand ich die Schufterei außerdem idiotisch: Phosphor lässt sich so nicht löschen.
Der Dachstuhl senkte sich bereits flammend. Plötzlich kam kein Wasser mehr. Ich guckte mich um: Alle Erwachsenen hatten ihre Plätze fluchtartig verlassen, auch Meier. Panisch stolperte ich hinterher und erreichte den Ausgang und ein Stück Straße gerade noch rechtzeitig, bevor das Haus hinter mir langsam mit diesem fast weichen Knirschen geborstener Steine zusammensackte. Total erschöpft schleppte ich mich weiter, ließ mich in der Schuttwüste auf irgendeinem glatten langen Ding nieder und verschnaufte ein paar Augenblicke, bevor es mich durch die Sturmschwärze weiter trieb.
Ich hatte mich etwa fünfzig Meter von meinem Ruhesitz entfernt, als er explodierte. Es war offenbar eine dieser Bomben mit Zeitzünder gewesen. Eine weitere gewaltige Detonation folgte kurz vor unserem Haus, riss Wände ein. Ich hörte meinen jüngsten Bruder - erst wenige Wochen alt - wie wahnsinnig schreien. Später stellte sich heraus, dass er dadurch fürs Leben taub geworden war. Aber damals, ich war wie gesagt Vierzehn, fiel mir in meinem Schock tatsächlich nur mein wunderbares Traummodell ein - der Konfirmationsmantel! Hatte er was abgekriegt? Himmel - ja, verdammt noch mal, er war angesengt, teilweise verbrannt. Verdammt, verdammt, wer hatte das Recht, ihm so was anzutun? Dreimal verdammt - welcher Kerl steckte dahinter, und warum mussten wir Mädels mit diesen Scheiß-Gasmasken in die flammenden Dachböden? Blitzartig wurde mir das Unwesen der Tyrannei so klar, als wenn eine Rechenaufgabe mit vielen Unbekannten plötzlich auf einen Nenner kam... Keiner musste mich mehr vom Widerstand überzeugen. Dieser Heroismus war oberfaul! Er rettete nicht seine Kinder, sondern verbrauchte sie!
Ich warf mich in die Schuttbrocken zwischen die Humpelnden und Flüchtenden und heulte wild und wütend wie noch nie, weil es niemals einen Endsieg geben würde und man uns betrogen hatte.
Jemand zog mich hoch, klopfte väterlich Steinstaub von meinen brandig zerfledderten Konfirmationsmantel ab. Brav!
lobte Meier, Ihr Mädels seid meine beste Truppe!
Ich starrte ihn an und wandte ihm den Rücken zu.