Briefmarkenschuhe
Es war so Anfang der 50er Jahre. Wegen des Gartengrundstücks, das wir uns gerade gekauft hatten, waren wir für unsere Verhältnisse doch etwas verschuldet. Zinsen und Abtrag waren pünktlich zu zahlen und da musste eben vieles hinten anstehen.
Der Herbst kam langsam und es wurde kalt. Ach du je, mein Winterschuhzeug war ja total aufgebraucht. Ich benötigte ganz dringend neue Stiefel. Ich weiß nicht mehr, ob die HO
damals schon existierte, aber in den wenigen Schuhgeschäften gab es nur hin und wieder die üblichen Einheitsstiefel. Trotzdem, auch wenn ich welche ergattert hätte, ich hätte doch kein Geld gehabt, um die etwa 100 Mark dafür auszugeben.
Meine älteste Schwester war schon 1925 in die USA ausgewandert. In den ärgsten Jahren nach dem Kriegsende bekamen wir durch ihre Initiative etliche Carepakete. Das ebbte dann ab, aber der Briefkontakt blieb bestehen. In jeden Brief, den sie schrieb, legte sie einige der damals recht gebräuchlichen Briefmarken-Coupons bei. Das waren kleine grüne Zettelchen, die man bei der Post gegen Briefmarken eintauschen konnte. Alle verbrauchten wir jedenfalls nicht, so dass wir etliche aufgespart hatten. Ich weiß heute nicht mehr, wie viele es schließlich waren, aber als ich den kleinen Vorrat sah, kam mir eine Idee. Ich fuhr nach Westberlin und erkundigte mich in einem kleinen Schuhgeschäft, was wohl ein Paar Stiefel für mich kosten würden, sagte aber gleich dazu, ich hätte zwar kein Westgeld, aber zu Haus hätte ich genügend Westbriefmarken. Ich sagte jedoch nichts über die Coupons. Es mag wohl der Inhaber dieses kleinen Ladens gewesen sein, den ich ansprach und der erwiderte, wenn sie gültig und echt sind, wieso denn nicht?
Ein paar Tage später fuhr ich wieder nach Westberlin, bin mit meinen Coupons zur Post gegangen, hab sie in Briefmarken eingetauscht und mir für den Fall der Fälle den Schalter gemerkt! Man kann ja nie wissen! Dann bin ich zurück zu dem besagten Schuhgeschäft. Nun war aber eine Frau dort. Ich war ein bisschen irritiert und sagte ihr, dass ich vor ein paar Tagen mit einem Herrn wegen einer ganz besonderen Sache
gesprochen hätte. Sie ging nach hinten und tatsächlich kam der Herr mit heraus, mit dem ich neulich gesprochen hatte. Etwas abgewandt zeigte ich ihm die postfrischen Marken, die er sich interessiert anschaute und fragte dann, wo ich sie denn her hätte. Nun erzählte ich ihm, dass ich sie auf der hiesigen Poststelle am Schalter sowieso
gegen die Coupons eingetauscht hätte, die mir meine Schwester aus Amerika hergesandt hatte. Warten Sie mal einen Augenblick
sagte er und als er meinen starren Blick bemerkte ergänzte er, ich bräuchte keine Angst zu haben. Er verschwand kurz, wahrscheinlich telefonierte er mit dem Postamt und kam lächelnd zurück. Offenbar hatte ihm der Postbeamte meinen kleinen Deal bestätigt! Die Verkäuferin bekam von ihm grünes Licht
und schleppte dann etliche größere Kartons an. Ich durfte meine neuen Stiefel anprobieren und bezahlte sie schließlich mit Briefmarken im Werte von 36,-- Westmark. Frohgelaunt ging es dann nach Haus! Nun konnte der Winter kommen.
Anfang der 50er Jahre konnte man noch ohne Kontrolle mit der S-Bahn von Ost- nach Westberlin fahren. Viele Ostler
fuhren damals wie ich nach Westberlin, um sich dort Sachen zu kaufen, die es bei uns nicht gab, aber man musste dazu Westgeld haben.
In den Wechselstuben kostete eine Westmark etwa vier Ostmark. Aber was tun, wenn man auch die nicht hat? Not lehrt beten!
, sagte man bei uns in Ostpreußen.
Wirkliche Not bringt aber auch Ideen und macht erfinderisch!