Vorwort
Väter sollten sich davor hüten, ihrem Nachwuchs erzieherische Hinweise zu geben mit den Worten: Als ich so alt war wie du …
Oftmals hätte ich schon gerne Vergleiche gemacht, doch waren die Verhältnisse in meiner Jugend eben doch ganz anders als heute. Und doch wollte ich meinem Sohn und meinem Enkel sowie weiteren Familienangehörigen und Freunden gerne aus meinem Leben erzählen, welches sich zumindest in einem Fünf-Jahres-Abschnitt so sehr von anderen Lebensläufen unterscheidet. Ich habe es einfach aufgeschrieben.
Ein Abschnitt meines Lebens vom Mai 1945 bis zum Mai 1950
Kapitel 1
Bei der Flieger-HJ
Zum Zeitpunkt der Machtergreifung
Machen Sie eine Zeitreise
…
Die Zeittafel der Machtergreifung 1933 war ich fünf Jahre alt, elf Jahre beim Ausbruch des Krieges. Die Nachricht über den Beginn des Krieges, im Radio, klingt mir noch heute in den Ohren – seit fünf Uhr wird zurückgeschossen
- am 1. September 1939, dem Geburtstag meiner älteren Schwester.
Meine Jugendzeit war vom Krieg geprägt, von den Tagesereignissen und den Erfolgen der Wehrmacht, von sportlicher Wehrertüchtigung, von Zucht und Disziplin.
Auch ich war seit meinem zehnten Lebensjahr im Jungvolk, und ab dem vierzehnten Mitglied der Hitlerjugend. In der Flieger-HJ wurden wir zu Segelfliegern ausgebildet, wir träumten von Heldentaten und meldeten uns als Kriegsfreiwillige. Auf den Schulterstücken unserer Uniform trugen wir einen roten Streifen. Wir verstanden nichts von Politik, wussten nichts von Demokratie oder anderen Regierungsformen und hatten sicherlich auch ein falsches Verständnis von Recht und Unrecht in zwischenstaatlichen Beziehungen. Man darf nicht vergessen, dass es damals noch kein Fernsehen gab und Radio sowie Zeitungen in ihren Beiträgen nur zensierte Nachrichten verbreiteten. Wir lebten in einer totalitären Diktatur.
Der Endsieg ließ auf sich warten, der fast tägliche Fliegeralarm zermürbte auch die Einwohner Warens, obwohl die Stadt selbst von Bombenangriffen verschont blieb.
Ich war 17 Jahre alt, als das Kriegsende nahte. Täglich erreichten riesige Flüchtlingstrecks aus Ostpreußen und Pommern die Stadt Waren. Wir halfen allabendlich bei der Unterbringung der Flüchtlinge in den Klassenräumen der Handelsschule am Alten Markt und sorgten für die notwendige Verpflegung der vielen strapazierten Menschen. Auch in den Turnhallen und weiteren Schulen sowie in vielen privaten Haushalten wurden die Flüchtlinge untergebracht und versorgt.
Am Tage hörte man häufig ein einmotoriges russisches Flugzeug über Waren kreisen. Wir nannten dieses Flugzeug die Nähmaschine
, wegen des eigentümlichen Motorgeräusches. Aber Vorsicht, dieses Flugzeug schoss mit dem Maschinengewehr auf alles, was sich bewegte, auf die Flüchtlingstrecks und auch auf mich, als ich mich aus irgendeinem Grunde auf dem Nesselberg befand. Wie ein Hase sprang ich hin und her, um den MG-Salven zu entgehen und den schützenden Waldrand zu erreichen.
Schon am 28. und 29. April 1945 hörten wir aus der Ferne die ersten Kampfgeräusche der nahenden, zurückweichenden Front. Am späten Nachmittag des 30. April lag die Altstadt Warens in direktem Panzerbeschuss. Die russischen Panzer hatten wohl in der Nähe des Nesselberges Aufstellung genommen. Es wurde für uns alle eine unruhige, angstvolle Nacht. Alle halbe Stunde gingen mein Vater oder ich auf die Straße, um zu sehen, ob die russischen Truppen schon da seien. Gegen 7 Uhr früh preschte eine Schwadron russischer Kavallerie im Galopp über das Kopfsteinpflaster des Falkenhäger Weges, Richtung Neu Falkenhagen.
Es folgten bald russische Infanteristen mit ihren typischen Panjewagen. Wir erhielten vielfachen Besuch mit Hausdurchsuchungen und Plünderungen der Wohnung, stets mit dem nachdrücklichen Ruf: Uri, Uri!
Als ich meine Armbanduhr nicht schnell genug abband, richtete der Soldat sofort seine Pistole auf mich, schoss dann jedoch über mir in die Zimmerdecke.
Ein Schulfreund, Hanning, dessen Eltern während seiner Abwesenheit vom Hause übereilt geflohen waren, kam zu uns, und auch meine Großmutter mit zwei Tanten hatten ihre Wohnung in der Lloydstraße verlassen und in unserem Hause Schutz gesucht. Sie hatten nun Sorge, dass auch ihre Wohnung inzwischen geplündert sein könnte, also machte ich mich zusammen mit Hanning auf den Weg zur Lloydstraße. Es war jedoch alles in bester Ordnung. Als wir wieder nach Hause gehen wollten, marschierte gerade am Haus vorbei eine Hundertschaft deutscher Kriegsgefangener und auch Zivilisten mit russischer Bewachung. Leider bestand die Hundertschaft nur noch aus 98 Mann, also wurden wir beide kurzerhand ergriffen und in die Kolonne eingefügt.
Die erste Nacht verbrachten wir im Keller der Lützow'schen Villa, später Haus der Gewerkschaften
, in der Güstrower Straße. Geschlafen wurde auf feuchtem Kellerfußboden ohne Decken. Eine Ecke des Kellerraumes wurde von unseren Bewachern zur Latrine bestimmt mit dem Hinweis moschno skoro damoi
, was so viel hieß wie: Bald kommt ihr wieder nach Hause
. Am nächsten Morgen ging es in Marschkolonne Richtung Norden.
Mit Schrecken fiel mir während des Marsches ein, dass in der Brusttasche meiner Jacke noch mein Ausweis der Hitlerjugend steckte, ich habe ihn auf dem langen Marsch unbemerkt aufgegessen. In einer kleinen Ortschaft verbrachten wir in einer Schule die zweite Nacht, und am nächsten Tag marschierten wir bis nach Bützow, wo wir in dem ehemaligen Zuchthaus einquartiert wurden — jeweils ungefähr zwölf Mann in einer Einzelzelle. Wir saßen auf dem Boden mit angezogenen Knien, und der jeweilige Vordermann lehnte dann mit dem Rücken an den Beinen des Hintermannes. Dafür reichte der Platz gerade, sonst hätten wir alle stehen müssen.
Am nächsten Morgen erschienen russische Offiziere, die mit den Verhören der einzelnen Gefangenen begannen. Als ich an die Reihe kam, würde ich nur nach meinem Alter gefragt. Auf meine Antwort, 17 Jahre, kriegte ich einen Tritt in den Hintern und rollte eine lange eiserne Treppe hinab. Gleich hinter mir kugelte ebenso Hanning die lange Treppe runter. Da das große Gefängnistor offen stand, liefen wir beide schnurstracks raus und verschwanden in den Büschen einer parkähnlichen Anlage.
Vollkommen außer Atem und erregt, beschlossen wir, sofort über Güstrow wieder nach Waren zurückzulaufen. Über Güstrow, weil dort die Großeltern meines Freundes Hanning wohnten und wir uns ein paar Stunden Erholung und eine warme Mahlzeit versprachen. Und wir bekamen natürlich auch noch etwas Marschverpflegung mit.
Für den Heimweg wählten wir die kürzeste Entfernung, die Eisenbahnstrecke, auf der wir uns auch nicht verlaufen konnten. Diese Strecke kannte ich noch aus meiner Ausbildungszeit als technischer Praktikant bei der Bahnmeisterei in Waren.
Nach annähernd 25 Kilometer Wegstrecke übernachteten wir in einem verlassenen Bahnwärterhäuschen. Da im Garten genug nun herrenloser Hühner herumliefen, gab es am Morgen vor dem Weitermarsch Eier satt. Um nicht gleich wieder eingefangen zu werden, liefen wir in den Waldgebieten parallel zum Gleis zwischen den Bäumen und Büschen. Doch wahrscheinlich hatte man uns längst beobachtet, denn plötzlich sprangen drei russische Soldaten mit dem Ruf: Ruki na werch
, Hände hoch, mit schussbereiten Maschinenpistolen auf uns zu. Die erhofften Uhren hatten wir längst nicht mehr zu bieten und auch nichts Trinkbares. Die Soldaten waren ärgerlich, wir mussten uns jeder mit dem Rücken an einen Baumstamm stellen, und einer der Soldaten schoss dann eine lange MP-Salve auf uns. Mein Freund brach im Kugelhagel zusammen, Gott sei Dank nur ohnmächtig. Ich hatte von einem Durchschuss nur ein Loch in meiner Hose, ziemlich hoch an der Innenseite des Oberschenkels. Als Hanning mit meinen Bemühungen wieder aufwachte, wollten sich die Russen totlachen, boten uns Schnaps zur Erholung an und verschwanden so schnell wie gekommen.
Der Rest des Weges verlief ohne weitere Zwischenfälle, wir kamen also unversehrt wieder zu Hause an. Meine Eltern beruhigten sich langsam wieder und meine Großmutter, die wohl den Überblick verloren hatte, meinte, wir hätten doch recht lange gebraucht von der Lloydstraße bis zum Falkenhäger Weg. Mein Freund Hanning verabschiedete sich bald und fuhr mit einem Fahrrad seinen Eltern hinterher.
Als Nächstes bekam ich am 15. Mai den nächtlichen Besuch mehrerer russischer Soldaten, die mich aufforderten, sie zu einem kurzen Gespräch in die Kommandantur zu begleiten. Man lieferte mich in der Nähe des Neuen Marktes hinter dem Geschäft Kaisers-Kaffee
in einem großen Keller des dort ansässigen Schrotthändlers ab. Es war ein fast 20 Quadratmeter großer Kellerraum mit schon 20 Insassen, die dort gemeinsam mit einigen Ratten auf einem dürftigen Strohlager auf Weiteres warteten. Drei Tage lang geschah überhaupt nichts, die Verpflegung war kläglich. Dann wurden einzelne Gefangene zum Verhör geholt, kehrten aber nicht wieder zu uns zurück. Als ich endlich an die Reihe kam, wurde ich nur nach meinen Personalien und meinem Alter befragt und durfte wieder nach Hause gehen mit dem Bemerken, ich hätte weiter nichts zu befürchten, solle jedoch Waren nicht verlassen.
Inzwischen hatte ich wieder mit der Bahnmeisterei in Waren Verbindung aufgenommen, um meine Ausbildung fortzusetzen, ich wurde jedoch mit dem Hinweis auf die noch unruhige Lage auf spätere Zeiten vertröstet.
Zu Hause, in unserem Wohnzimmer, hatten sich inzwischen zwei russische Offiziere einquartiert. Das hatte zwar den Vorteil, dass uns andere Russen nicht mehr überfielen, für unsere Mutter war es jedoch eine arge Belastung. Es war nicht nur die tägliche Reinigung des Zimmers, nach den allabendlichen Saufgelagen, sondern auch das tägliche Kochen und Braten riesiger Fleischmengen, denn jeden zweiten Tag brachten die Offiziere ein frisch geschossenes Reh oder eine Ziege, Hasen oder dergleichen mit und übergaben es der Mutter mit der Erwartung der Zubereitung. Unsere Mutter ist unter dieser Last und der allgemeinen Angstsituation fast zusammengebrochen.