Ein Abschnitt meines Lebens vom Mai 1945 bis zum Mai 1950
Kapitel 3
Sibirien, im Kusnezker Becken
Im Dezember 1946 wurden alle Häftlinge von einer Ärztekommission untersucht und die noch arbeitsfähigen aussortiert. Man stellte einen Transport zusammen, und am 31. Januar 1947 ging es in Viehwagen der Reichsbahn ab in Richtung Osten. Wir waren jeweils an die 30 Mann im Waggon und schliefen auf Holzpritschen mit einer Decke. Als Toilette diente ein zehn Zentimeter großes Loch in der Mitte des Fußbodens. Die Benutzung dieser Vorrichtung war im fahrenden Zug auf den schlechten russischen Gleisen gar nicht so einfach. Für die kleinen Verrichtungen kniete man nieder so tief wie möglich, und bei der Erledigung größerer Geschäfte dirigierte die halbe Waggonbesatzung mit, um Treffsicherheit zu erreichen.
Ein kleiner Kanonenofen war vorhanden, doch selten etwas Holz zum Feuern. Die Temperatur im Waggon passte sich bisweilen den russischen Außentemperaturen an. Eines Nachts war meine Jacke zusammen mit der Decke an den Eisenteilen der Waggonwand festgefroren.
Ein Gefangener wurde immer ausgewählt, der ständig durch ein Astloch in der Bretterwand gucken musste, um alle Ortsnamen der durchfahrenen Bahnhöfe zu lesen. Wir wollten ja alle wissen, welche Fahrtroute wir fuhren und wohin die Reise wohl gehen könnte. Schwierig wurde es, als russische Ortsnamen in kyrillischer Schrift kamen.
Die Verpflegung war zwar besser als in Fünfeichen, doch der Hunger verließ uns nie. Ich erinnere mich daran, dass wir einmal gierig einen halben Salzhering verschlangen, eine Sonderration, und es danach einen Tag lang nichts zu trinken gab. Das war eine kleine Gemeinheit mit der Sonderration. Jeden Morgen wurden wir von den Wachsoldaten gefragt, ob jemand gestorben sei. Die Toten wurden einfach neben dem Gleis in den Schnee gelegt.
Nach gut fünf Wochen Bahnfahrt, am 7. März 1947 hatten wir unser Ziel, ProkopjevskProkopjewsk (russisch Проко́пьевск) ist eine russische Industriestadt im Süden des Kusnezker Kohlenbeckens in der Oblast Kemerowo, Westsibirien.Klick für Wikipedia.org im Kusnezker BeckenDas Kusnezker Becken (Kurzform Кузбасс, Kusbass; auch Kusnezkbecken) ist ein etwa 70.000 km² großes, in der sibirischen Oblast Kemerowo gelegenes Steinkohlerevier Russlands.Klick für Wikipedia.org, erreicht. Das war Sibirien, sechstausend Kilometer von der Heimat entfernt. Unsere Ausladung machte tatsächlich anfangs etwas Schwierigkeiten. Nach fünf Wochen der Bewegungslosigkeit und der herrschenden tiefen Temperaturen waren unsere Glieder steif geworden. Unsere ersten Schritte waren recht unbeholfen und manch einer setzte sich in den Schnee, mit den Hilfe suchenden Worten: Ich kann nicht mehr gehen
. Während wir dann zum Abmarsch angetreten waren, wurden die letzten auf dem Transport verstorbenen Kameraden auf einen Panjewagen geladen und an unserer Front vorbeigefahren. Plötzlich setzte sich einer der Toten
auf und schrie laut um Hilfe. Es war Karl Pisser, wir halfen dem zum Leben Wiedererwachten vom Wagen und trugen ihn ins Lager. Er war wohl am letzten Tag in einem Zustand der Erschöpfung und Ohnmacht für tot erklärt worden. Jedenfalls ist der im Lager wegen seines ÖkelnamensÖkelname = Plattdeutsch für Spitzname
sehr bekannte Gefangene mit uns zusammen wieder gesund in die Heimat entlassen worden.
Unser Lager Nr. 7525/13 bestand aus acht Erdbaracken und einer Küchenbaracke. Das Lazarett bauten wir sogleich nach unserer Ankunft. Die Erdbaracken befanden sich annähernd einen Meter dreißig in der Erde. Die Wände waren über der Erde noch ungefähr einen halben Meter zu sehen. Das recht flach gehaltene Giebeldach war mit einer wohl zwanzig Zentimeter dicken grasbewachsenen Erdschicht bedeckt.
Die ersten vier Wochen unseres Aufenthaltes galten als Quarantäne, danach teilte man uns in feste Arbeitskolonnen ein. Meine Kolonne sollte einen Braunkohlentagebau neu aufbauen. Dafür gründeten wir als erstes einen Steinbruch, aus dem wir so viel Natursteine holten, wie wir zu allen Gebäudefundamenten brauchten. Danach folgten die Erdarbeiten der Fundamentausschachtungen. Es gab eine wohl eine einen Meter siebzig dicke Lehmschicht unter vierzig Zentimeter dicker Schwarzerde. Diese Schwarzerde ist eine Humus- oder Mutterbodenschicht von herausragender Qualität. Pechschwarz und in der Nässe glatt und schmierig wie Lehm, garantiert sie hohe Ernteerträge, und das ohne jegliche Düngung. Unter zwei Meter fünfzig Tiefe gab es bereits brennbare weiche Braunkohle. Die Frostgrenze lag ungefähr bei zwei Meter Tiefe und der Boden taute jeweils erst Ende Juni auf.
Die Lehmschicht war so fest, dass man bei einem kräftigen Schlag mit der schweren Spitzhacke nur ein Stück von der Größe eines Radiergummis lösen konnte. Die Tagesnorm pro Kopf betrug 0,45 m³ und war nur sehr schwer zu erfüllen. Bei Nichterreichen der Norm erhielten wir nur die Hälfte der täglichen Brotration. Die geforderten Normleistungen waren für uns grundsätzlich schwer zu erfüllen, denn wir waren alle unterernährt, hungrig und schwach.
Während der Märsche zur Baustelle und abends wieder zurück versteckte ich mich oft in der Mitte der Marschkolonne, denn meine blonden Haare verrieten mich für die russischen Bewacher als Germanski
, und als solcher verdiente ich mir so manchen zusätzlichen Stoß mit dem Gewehrkolben.
Nach kräftigem Schneefall waren eines Tages die ganze Baustelle und auch die Ausschachtungen eingeschneit. Einen halben Tag lang mussten wir Schnee schaufeln, um unsere Baustelle wieder frei zu legen. Am Abend erfuhren wir dann, dass wir unsere Norm der Erdausschachtung nicht erfüllt hätten und wir erhielten nur die Hälfte unserer Brotration.
Und dann war am nächsten Tag wiederum alles eingeschneit. Eingedenk der halben Brotration vom Vortage stampften wir schnell den Schnee in den Fundamentgräben zusammen, warfen große Steine hinein und gossen den Betonbrei darüber. Am Abend hatten wir unsere Norm erfüllt, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Das Kesselhaus selbst wurde später zügig auf diese Fundamente gemauert. Wir wurden nach der Fertigstellung aller Fundamente in andere Arbeitskolonnen versetzt und waren nicht mehr auffindbar, als im Sommer der Schnee unter den Fundamenten wegtaute und das schöne Kesselhaus im Boden versank.
Auf dem Baustellengelände gab es zahlreiche Igel. Einer unserer russischen Bewacher, der wohl selbst Hunger hatte, ließ uns mehrere Igel fangen und zeigte deren Zubereitung. Geschlachtet, ausgenommen und wegen der Flöhe stark gewaschen, wurde der gesamte Bereich der Stacheln mit weichem Lehm bedrückt. Dann wurde der Kloß in die Glut des Lagerfeuers gelegt und gegart. Die hart gewordene Lehmkruste konnte mitsamt der Stacheln mit einem Holzstück zerschlagen und vom Braten gebrochen werden. Es war ein zarter, herrlicher Braten, zwar ohne Salz, aber er schmeckte wie Kaninchen.
In Russland ist es üblich, stets 55 Minuten zu arbeiten und dann eine Rauchpause von fünf Minuten einzulegen. Der Posten gab uns Zeichen für Anfang und Ende der Pausen, doch wir jungen Nichtraucher mussten weiterarbeiten, die Rauchpause sei angeblich nur für Raucher gedacht. So lernten auch wir das Rauchen; denn auf die Pausen verzichten konnten wir nicht.
Im Juli des ersten Jahres herrschte im Lager die Ruhr und begrenzt auch Typhus, von 1.500 Lagerinsassen waren noch gerade 300 Mann arbeitsfähig, ich blieb gesund. Der Warener Gerhard hatte auch die Ruhr, doch nur in leichter Form, er überstand die Krankheit und wurde wieder gesund.
Später habe ich als Zimmermann verschiedene Häuser aus Holzbalken als Blockhäuser mit gebaut und war danach im Kohleschacht auf der 300-Meter-Sohle als Bergzimmermann tätig.
Hunger war unser ständiger Begleiter und so war es sicherlich nicht verwunderlich, wenn wir die dicke und wohlgenährte Bulldogge des Kommandanten immer begehrlicher betrachteten. Bisweilen lief dieser Hund bei uns im Lager herum, das tat ihm nicht gut, er bekam die Schwindsucht. Das heißt, eines Tages war der Hund verschwunden, es hatte dem Herrn
gefallen, ihn zu sich zu nehmen. Der Herr
war unser Zugführer und ich hatte auch noch etwas von der Bulldogge zu mir genommen. Schmeckte ganz famos. Zur Beseitigung der verräterischen Reste nahmen wir in unserer Baracke die Fußbodenbretter hoch und bereiteten den Resten des Hundes ein verdientes Grab. Als der Fußboden wieder eingelegt war gedachten wir noch einmal seiner in der Hoffnung, dass niemand uns beim Kommandanten verpfeifen würde.
Für die Arbeiten im Freien waren wir während des Winters zweckmäßig gekleidet, trugen die typischen sibirischen Fufaikas, also die bewährten Wattejacken, gefütterte Brjukis, das sind Wattehosen und auch Paltos, die schweren Schafsfellmäntel. Das Wort Palto kommt vom französischen Paletot, für kurzer Herrenmantel.
Die russische Pelzmütze, die Schapka, trägt man inzwischen auch schon in unseren Breitengraden. Ohne Pertschatkas, die gefütterten Fausthandschuhe kann niemand draußen im Winter arbeiten; und die Waljenki, die Filzstiefel, die wir anfangs belachten und Gurken nannten, sind eine unverzichtbare Erfindung der Sibiriaken.
Sie dürfen nur nicht nass werden, dann gibt es erfrorene Füße. In dieser Kleidung bei Eis und Schnee bei jeder Temperatur zu arbeiten, war zumindest gewöhnungsbedürftig. Nur die gesündesten und kräftigsten Gefangenen hielten durch.
Bei Erreichen einer Außentemperatur von -40° C heulten stets alle Fabriksirenen, um die Bevölkerung zu warnen. Mitte des Winters hörten wir die Sirenen fast täglich. Die tiefste Temperatur bei Arbeiten im Freien erlebte ich mit -57° C. Vor allen Dingen auf dem Heimmarsch gab es mehrere Erfrierungen im Gesichtsbereich. Bei tiefen Temperaturen herrschen in Sibirien strenge Regeln. Der Vordermann in der Marschordnung ist stets für den Gesichtsbereich seines Hintermannes verantwortlich. Zeigen sich beim Hintermann Gesichtserfrierungen, so muss der Vordermann die Haut mit nackten Händen und Schnee wiederbeleben. Sind dann dem Vordermann die Hände selbst dabei erfroren, so muss er sehen, dass er sie wieder zur Durchblutung kriegt. Wenn beim Hintermann Erfrierungen zurückbleiben, kann sich der Vordermann gleich beim Karzer melden.
Der Buran, ein gefürchteter Wintersturm, fegte mit seiner enormen Kraft eines Morgens innerhalb einer Stunde eine zwei Meter dicke, gefrorene Schneeschicht fort. Die ersten Gefangenen, die vor der Arbeit zur Küchenbaracke wollten, wurden einfach weggefegt und fanden sich im Stacheldrahtzaun wieder. Sie waren nicht in der Lage, sich selbst zu befreien und zurückzukommen. Wir bildeten eine regelrechte Rettungsgruppe und zogen sie mit einem Strick einzeln gegen den Sturm wieder in den Essraum der Küchenbaracke zurück.
Der Winter in diesem Teil Sibiriens dauerte
von Mitte September bis weit in den April hinein, es blieben also für den Sommer nur vier Monate. Selbst die Eisheiligen vom 11. bis 13. Mai trafen in Sibirien so sicher ein wie in der Heimat.